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Religion im Wandel: Was gestern heilvoll war, kann heute schädlich sein

Predigt MCC Köln, 15. März 2015
Ines-Paul Baumann

Joh 3, 14-17: Das Kreuz im Licht der von Mose erhöhten Bronze-Schlange

Religion ist unbestritten eine Ursache für Gewalt, Ausgrenzung, Konflikte und Unterdrückung. Religion insgesamt haftet mehr Zerstörerisches als Heilvolles an, schlussfolgern viele.

Andere sehen es genau umgekehrt und sagen, dass die Wurzel allen Unheils im Menschen selbst liege.

Manche setzen ihre Hoffnung deswegen dann doch auf eine Religion, zum Beispiel auf das Christentum – und so manche von ihnen erleben dann innerhalb dieser Religion manchmal Predigten, die ihren Glauben eher erschüttern als nähren.

Viele der „unheilvollen“ Predigten wurden sicher NICHT mit der Absicht gehalten, unheilvoll zu wirken. Auch diese Predigerinnen und Prediger haben sicher in der Überzeugung und Absicht gehandelt, HEIL wirken zu wollen. Und wir wissen nicht, wie viele dieser Predigten von anderen Menschen auch tatsächlich als heilvoll empfunden wurden.

Was die eine heute als heilvoll empfindet, kann bei dem anderen heute Schaden anrichten. Was dem einen heute vielleicht Trost und Halt gibt, findet eine andere heute vielleicht abschreckend. Wo der eine sich heute vielleicht öffnet, geht die andere heute vielleicht auf Distanz und verschließt sich.

Fragt Menschen mal, was sie glauben, und ihr werdet die unterschiedlichsten Antworten bekommen – auch unter Menschen, die sich Christen nennen.
Für viele ist das verwirrend bis unerträglich. Wer nicht so glaubt wie sie selbst, glaubt nicht anders, sondern glaubt falsch.

Manche haben Angst vor einer völligen Beliebigkeit im Glauben. Was ist Glaube noch wert, wenn sich alle nur rauspicken, was sie gerade als heilvoll empfinden?

Wir müssen auch gar nicht immer auf andere gucken. Was mache ich, wenn mir mein bisheriger Glaube abhanden kommt? Was ist, wenn sich mein eigener Glaube wandelt? Wenn sich Gemeindeleben nicht mehr toll und aufregend anfühlt, sondern zur Last wird? Wenn ich beim Gedanken an meine Gemeinde mehr Frust als Freude empfinde? Wenn ich mich nach „guten alten Zeiten“ sehne, in denen mein Glaube noch intakt und stabil war? Was ist, wenn ich unzufrieden werde, mich leer fühle, keine Verbindung mehr spüre? Was hat das zu bedeuten, wenn sich in meinem Glaubensleben etwas verändert?

Muss ich meinen Glauben dann aufgeben – oder kann sich Glaube verändern? Inwieweit es möglich und zulässig, Glaubensfragen unterschiedlich zu deuten? Zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu kommen? Unterschiedliche Zugänge zur Gegenwart Gottes zu erleben? Die Nähe oder Abwesenheit Gottes unterschiedlich wahrzunehmen?

Inwieweit ist Wandel im GLauben möglich oder zulässig?

Ich persönlich glaube, dass sich Gott auf spezielle Weise offenbart hat in Jesus Christus und in der Geschichte mit seinem Volk im Alten Testament (auch wenn das angesichts des heutigen Geschehens in Israel sehr schwer zu glauben ist). Wenn ich also einen Maßstab dafür suche, inwieweit Wandel und Vielfalt im Glauben möglich oder zulässig ist, orientiere ich mich zuerst an dem, was die biblischen Texte bezeugen von Jesus und der Geschichte Gottes mit den Menschen.

Im Johannesevangelium steht über Jesus:

Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.

Joh 3,14-17

1. Im Namen Gottes errichtet

Die Geschichte mit Mose in der Wüste und der Schlange, auf die hier Bezug genommen wird, steht in Numeri (4. Mose) 21,4-9:

Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier und uns ekelt vor dieser mageren Speise. Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Numeri (4. Mose) 21,4-9

In der Gemeinschaft kehrt Unzufriedenheit, Leere und Aussichtslosigkeit ein, und als Folge schlängeln sich Giftigkeiten ein. Klingt nach dem Tagebuch eines Pastors ;) Im Ernst, ich erlebe es oft, dass ich gerade dann mit Sticheleien, Bissigkeiten, Gift und Galle überhäuft werde, wenn Leute unzufrieden sind. Manchmal sind sie unzufrieden mit mir oder der Gemeinde oder anderen – aber oft sind sie ganz einfach unzufrieden mit sich selbst. Ihrem Leben. Ihrer Situation.

Ich kann das nachvollziehen, ich bin auch so. Ich bin verdrossen, und schon schlängeln sich Giftigkeiten ein.

Und auch dann geht es mir oft wie den Leuten, mit denen Mose unterwegs war: Gott befreit nicht mal ansatzweise von diesen Giftigkeiten. Gott nimmt die Schlangen nicht weg. Sie bleiben da, und sie sind weiterhin bissig, und sie sind weiterhin giftig.

Aber nachdem sich das Volk damit an Mose gewandt hat, und nachdem Mose sich damit an Gott gewandt hat, bietet Gott eine neue Blickrichtung an, die zum Leben statt zum Tod führt. Wie gesagt, die Schlangen sind nicht weg und sie sind immer noch gefährlich. Aber wer gebissen wurde, kann nun auf die Schlange aus Bronze blicken und wird am Leben bleiben.

Ausgerechnet der Blick auf das, was sie vergiftet hat, wirkt nun heilvoll. Wobei sie nicht auf die Schlangen selbst gucken sollen, sondern auf die Verkörperung der Schlange, die auf Gottes Wort hin an der Stange aufgerichtet wurde. Das Symbol der Rettung verweist auf die Ursache des Problems – aber es ist nun verbunden mit Gottes Wort und Gottes Wirken.

Mit dem, was mich kaputt macht, kann meine Rettung verbunden sein – aber nicht, wenn ich es leugne oder verdränge oder ignoriere, sondern wenn ich es bewusst in den Blick nehme und mit Gottes Wort verbinde.

Von einem positiven Denken, das die Probleme einfach mal ausblendet und sich auf etwas Heilvolles konzentriert, sind wir hier weit entfernt. Die bronzene Verkörperung der giftigen Schlangen war den Leuten in der Wüste ständig zugänglich. Es hat sie sicher geradezu ständig an die Schlangen erinnert. Sowohl Ursache als auch Heilung der Vergiftung stehen ihnen vor Augen, sind verkörpert, sind sichtbar.

Süchtige können vielleicht bestätigen, dass es nichts nützt, die Sucht zu leugnen oder zu ignorieren. Aber dass mich eine Flasche aus Bronze oder eine Spritze an einem Pfahl auch noch ständig daran erinnert? Oder ist es genau das: Ich sehe die Ursache meiner Probleme so klar vor Augen, dass es mich so konkret in meine Wirklichkeit zurückholt?

In unserer Andachtsecke erlebe ich es eher umgekehrt: Das, was einige erinnert an Probleme, wollen sie gerade NCHT dort sehen. Was sie erinnert an das Gift, das sie in religiösen Zusammenhängen kennengelernt haben, soll gerade NICHT dort zu sehen sein. Womit wir Unheil verbinden, ist individuell unterschiedlich: Für die einen mag das eine Maria-Figur sein, für andere mag es das Kreuz sein, etc…

Mose hatte einen anderen Auftrag. Die Erinnerung an das Unheil sollte er gerade NICHT ausräumen. Er sollte den Anblick der Schlange ständig verfügbar halten. Gottes Antwort auf die Probleme war ein Symbol des Problems – und es bedurfte nur einer Änderung der Blickrichtung, um Heilung zu erfahren. Ausgerechnet der Anblick der Schlange aus Bronze hat Leben gerettet.

2. Im Namen Gottes zerstört

So weit, so gut. Allerdings ist die Geschichte hier nicht zu Ende. Einige Zeit später lesen wir in 2. Könige folgendes:

Im dritten Jahr Hoscheas, des Sohnes Elas, des Königs von Israel, wurde Hiskija, der Sohn des Ahas, König von Juda. (…) Genau wie sein Vater David tat er, was dem Herrn gefiel. Er schaffte die Kulthöhen ab, zerbrach die Steinmale, zerstörte den Kultpfahl und zerschlug die Kupferschlange, die Mose angefertigt hatte und der die Israeliten bis zu jener Zeit Rauchopfer darbrachten – man nannte sie Nehuschtan (Kupferbild).

2. Könige 18,1.3.4

Die bronzene Schlange, die Mose gemacht hatte, wurde zerschlagen. Aus einem Symbol war ein Kult geworden. Das Symbol verwies nicht mehr auf Gott, es wurde selbst vergöttlicht. Es wirkte nicht mehr Heil, sondern es lenkte ab. Oder vielleicht wirkte es sogar noch Heil – aber nicht mehr, indem es auf Gott verwies, sondern indem es auf sich selbst verwies. Die Gläubigen nutzten es nicht mehr, um Gott anzubeten, sondern beteten das Symbol selbst an. Etwas, das Gott selbst eingesetzt hatte, mussten die Menschen zerstören und aufgeben und hinter sich lassen. Das Symbol hatte ausgedient.

Das zeigt uns deutlich auch die Grenzen unserer Andachtsecke. Alles darin kann für Einzelne eine Hilfe sein, sich der Gegenwart Gottes zu vergewissern und Heil zu finden. Aber hierfür muss alles darin über sich selbst hinaus auf Gott verweisen. Nichts darin darf zum Selbstzweck werden. Nichts darin ist an sich heils-stiftend, sondern nur in Form der Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes.

Zusammengefasst könnten wir also sagen:

„Haltet euch vor Augen, was als Gift durch euer Leben und eure Gemeinschaft schlängelt, und wenn es euch trifft, dann seht auf die Verkörperung dieses Giftträgers im Raume Gottes und ihr werdet geheilt. Aber sobald ihr das Symbol selbst vergöttert, müsst ihr euch davon trennen.“

Auch hier würde ich wieder sagen: So weit, so gut. Wir kommen nun aber an den Anfang meiner Predigt zurück. Ausgangspunkt war der Text im Johannesevangelium, wo der Kreuzestod Jesu verglichen wird mit der Erhöhung der bronzenen Schlange.

3) … und das Kreuz?

Was will Johannes damit sagen, dass er den Kreuzestod Jesu mit der Erhöhung der bronzenen Schlange verbindet?

Will Johannes etwa Jesus mit den Schlangen vergleichen? Jesus als eine Ursache für Sticheleen, Bissgkeiten, Gift und Galle?

Nun ja, wenn Jesus ganz Gott war, dann könnte Jesus tatsächlich all das verkörpern, was Religionen in unserer Welt angerichtet haben (und heute noch anrichten).

Wenn Jesus ganz Mensch war, dann könnte Jesus tatsächlich all das verkörpern, was Menschen in unserer Welt angerichtet haben (und wir heute noch anrichten).

In beiden Fällen gilt: Blicke auf das Kreuz und verbinde die Probleme mit dem Heilswirken Gottes. Ändere deine Blickrichtung, fasse die Probleme ins Auge, verbinde sie mit dem Wort Gottes. In dem, was durch das Kreuz hindurch geschehen ist, finden wir Heilung – von allem religiösen Unheil, von allem menschlichen Unheil.

Und auch hier gilt: Achte darauf, dass das Kreuz selbst immer weiter verweist auf Gott. Sobald du anfängst, das Kreuz selbst anzubeten, musst du dich davon lösen. Das Kreuz selbst ist nicht Gott. Vergöttere das Kreuz nicht.

Auch so gesehen ist es richtig, dass das Kreuz Teil unserer Andachtsecke ist:

  • Für manche kann das Kreuz der Ort sein, an dem all ihre Vergiftungen und das Heilswirken Gottes zusammenkommen.
  • Andere können sich vielleicht mal neu den Gedanken erlauben, dass auch das Kreuz nur ein Symbol ist.

(Das gilt freilich nicht nur für unsere Andachtsecke, sondern für alle Anteile unseres Gottesdienstes und unseres Glaubenslebens, inklusive Abendmahl, Lobpreis-Bands, Kerzen-Anzünden, Stille Zeit, Dogmen, …)

Wir stehen an unterschiedlichen Punkten in unserem Glaubensleben. Auch für das Volk Gottes im Alten Testament waren zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Dinge wichtig: Die einen brauchen gerade heute die Schlange aus Bronze. Für andere ist gerade heute dran, die Schlange aus Bronze loszulassen.

Das kann uns helfen, die Vielfalt nicht nur auszuhalten, sondern zu verstehen.
Was für dich persönlich heute richtig ist, weißt du am besten selbst.

Wir haben unterschiedliche Symbole, Worte und Taten, um uns mit Gottes Wirken zu verbinden – oder von denen wir uns lösen müssen, um uns neu mit Gottes Wrken zu verbinden. Veränderungen in unserem Glaubensleben sind also nicht immer eine Gefahr oder ein Problem: Sie können Raum schaffen für neues Heil, für neue Erfahrungen, für neues Leben.

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