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Ungerechte Systeme/Strukturen müssen uns nicht bestimmen (auch wenn sie uns geprägt haben).

Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
16. Juli 2023

Römer 6,2-11

Vorgestern – am 14.7., also genau zwischen dem Internationalen Frauentag (8. März) und dem Internationalen Männertag (19. November) – war der „International Non-Binary People’s Day“: der Aktionstag zur Sichtbarkeit von nicht-binären Menschen.

Aktions- und Gedenktage sagen immer auch etwas über die Welt, in der sie stattfinden. Wenn Menschen mit Geschlechtsidentitäten jenseits von „klar weiblich“ oder „klar männlich“ in unserer Welt keine Diskriminierung erfahren würden, bräuchte es diesen Aktionstag nicht.

Die Ungerechtigkeiten, die mit geschlechtlicher Vielfalt einhergehen, hatte Paulus nicht vor Augen, als der Brief an die Gemeinde in Rom verfasst wurde. Die Einschätzung, in einer Welt zu leben, die von Ungerechtigkeiten bestimmt ist, teilte Paulus aber sehr wohl.

(Damit ist nicht gemeint, dass „die Welt“ an sich und grundsätzlich „schlecht“ ist! Paulus bezieht sich auf das, was in dieser Welt geschieht. In Bezug auf heutige Ungerechtigkeiten liegen strukturelle Ursachen z.B. im Patriarchat, Transfeindlichkeit, Hartz IV, Postkolonialität, …)

Paulus’ Beobachtungen und Erfahrungen nach waren diese Ungerechtigkeiten massiv und mächtig. Innerhalb der Systeme, die solche Ungerechtigkeiten hervorbringen, schien es schier unmöglich, gottgemäß leben, denken und fühlen zu können. Jesus war das trotzdem gelungen. Da ihn die Systeme der Ungerechtigkeiten nicht vereinnahmen konnten, mussten sie ihn vernichten. Der Tod war der Preis, den Jesus dafür bezahlen musste, sich bei den Ungerechtigkeiten nicht eingereiht zu haben, ihnen getrotzt haben, sich ihnen nicht unterworfen und nicht angepasst zu haben. Innerhalb ungerechter Strukturen war kein Platz für Jesus. Weil sie ihn nicht vereinnahmen konnten, mussten sie ihn ausspucken.

Mit der Auferstehung verbindet Paulus nun die Erfahrung, dass Jesus aber nicht totzukriegen WAR. Das System der Ungerechtigkeiten hatte nicht das letzte Wort behalten: Jesus lebte – und mit ihm die Gegenwart Gottes inmitten dieses Systems. Gerechtigkeit und Liebe hatten einen Raum, waren erfahrbar und vermittelbar und verkündbar. Die Systeme der Ungerechtigkeiten hatten ihre Selbstverständlichkeit verloren und damit ihre Übermacht. Mit der Auferstehung Jesu war klar: Es geht auch anders.

Die ganzen Verletzungen, die aus Ungerechtigkeiten resultierten, waren damit zwar nicht weg – aber damit, dass sie unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, war gebrochen. In der Gegenwart Jesu und mit der Ausrichtung auf Jesus wurden andere Perspektiven und Erfahrungen möglich: Glaube, Liebe und Hoffnung anstatt von Sachzwängen, Vereinzelung und Resignation.

Für Paulus stand das alles im Zusammenhang mit den Gottesgeschichten und Begriffen aus dem Alten Testament. Die Ungerechtigkeiten standen einem Leben nach dem Willen Gottes entgegen, also nannte Paulus sie Sündenmacht. Umgekehrt bedeutet die „Vergebung der Sünden (…) Heilung und die Ermutigung, aufrecht zu gehen“ (https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/glossar/?suende).

Wenn Paulus also sagt, wir seien mit Jesus „mitgekreuzigt“, dann meint er: Auch wir sind Systemen der Ungerechtigkeiten nicht mehr unanfechtbar verbunden. Die Macht der Ungerechtigkeiten hat keine ungebrochene Macht mehr über uns. „Der ist für mich gestorben“, ist eine (ziemlich blöde) Redewendung, um zu sagen: „Mit dieser Person will ich nix mehr zu tun haben. Zwischen uns gibt es keine Verbindung mehr.“ Genau das legt Paulus hier den Ungerechtigkeiten in den Mund: Mit der Ausrichtung auf Jesus sind wir für die Ungerechtigkeiten gestorben; sie wollen nix mehr mit uns zu tun haben; die Verbindung ist gekappt. So wie sie Jesus ausgespuckt haben, können sie auch uns nicht vereinnahmen.

Stattdessen kann nun auch in uns und für uns und durch uns Raum bekommen, was vom Leben und Wirken Jesu in der Auferstehung für immer gegenwärtig bleibt: Ein Leben, das wurzelt in der Liebe Gottes statt in Ungerechtigkeiten und ihren Konsequenzen.

Die Ausrichtung auf Jesus verändert für Paulus auch den Blick auf uns selbst und aufeinander. Wie sehen wir uns? Was ist mein Selbstbild? Was denke ich von mir? Was denke ich von den anderen in der Gemeinde? Paulus schlägt vor: „So könnt ihr euch sehen: der °Sündenherrschaft gestorben, lebendig vor Gott im °Messias Jesus.“ (Brief an die Gemeinde in Rom 6,11; Bibel in gerechter Sprache)

Die Ungerechtigkeiten und ihre Konsequenzen bestimmen nicht mehr über mein Denken, Fühlen und Handeln. Ich muss nicht abstumpfen. Aus Überleben wird Leben. In Jesus bin ich lebendig vor Gott. In Ewigkeit. Und heute. Jetzt. Hier.

Paulus war damit optimistischer als manch heutiger Determinismus (sowohl in Bezug auf die Gesellschaft als auch für die einzelnen Menschen darin): Was uns geprägt hat, muss uns nicht unbedingt bestimmen.

Abschließend ein paar Anmerkungen und Fragen dazu:

  • Für unseren Umgang mit dem Erlebten kann das trotzdem ganz schön viel Arbeit bedeuten, damit Heilung und Heiligung Gestalt gewinnen. Workshops und Therapien können wertvolle Hilfen sein!
  • Inwieweit spiegelt sich die konsequente Absage an ungerechte Strukturen in unserem Umgang mit weiterhin bestehenden Ungerechtigkeiten (und deren Ursachen und Folgen)?
  • Wenn wir wirklich frei sind von ihnen, inwieweit ist es uns dann wichtig, innerhalb ihrer Werte Anerkennung zu finden?
  • Ist der MCC Köln anzumerken, dass Mächte hier keine Macht haben, die zu Ungerechtigkeiten führen? Zeigt sich das in unserer Ausrichtung? In unseren Strukturen? In den Mitteln, mit denen wir arbeiten? In unserem Umgang miteinander? In meinem Blick auf mich selbst?

 

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