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Sind die, deren Stimme wir wahrnehmen, wirklich immer die, die uns rufen?

Predigt MCC Köln, Ines-Paul Baumann
21. Mai 2023

Wem gilt meine Aufmerksamkeit und Zeit? Und wer entscheidet das?
Oder, auf Gemeindekontexte übertragen: Wer bestimmt eigentlich, was wir hier tun?
Oder, wie manche es geistlich ausdrücken würden: Wer ruft mich/uns in den Dienst?

1 Und der Junge Samuel diente dem HERRN vor Eli. Und das Wort des HERRN war selten in jenen Tagen; Visionen gab es[1] nicht häufig. 2 Und es geschah in jener Zeit, dass Eli an seinem Ort lag – seine Augen aber hatten angefangen, schwach zu werden, sodass er nicht ⟨mehr⟩ sehen konnte –, 3 und die Lampe Gottes war noch nicht erloschen, und Samuel lag im Tempel des HERRN, wo die Lade Gottes war, 4 da rief der HERR den Samuel. Und er antwortete: Hier bin ich! 5 Und er lief zu Eli und sagte: Hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sagte: Ich habe nicht gerufen. Leg dich wieder schlafen! Und er ging hin und legte sich schlafen. 6 Und der HERR rief noch einmal: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, denn du hast mich gerufen. Und er antwortete: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn. Leg dich wieder hin! 7 Samuel aber hatte den HERRN noch nicht erkannt, und das Wort des HERRN war ihm noch nicht offenbart worden. 8 Und der HERR rief wieder, zum dritten Mal: Samuel! Und er stand auf, ging zu Eli und sagte: Hier bin ich! Denn du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der HERR den Jungen rief. 9 Und Eli sagte zu Samuel: Geh hin, leg dich schlafen! Und so soll es sein, wenn er dich ruft, antworte: Rede, HERR, denn dein Knecht hört! Und Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort. 10 Und der HERR kam und trat herzu und rief wie vorher[2]: Samuel, Samuel! Und Samuel antwortete: Rede, denn dein Knecht hört! 11 Da sprach der HERR zu Samuel: Siehe, ich will etwas tun in Israel, dass jedem, der es hört, beide Ohren gellen sollen. 12 An jenem Tage werde ich über Eli alles kommen lassen, was ich gegen sein Haus geredet habe: Ich will es anfangen und vollenden. 13 Denn ich habe ihm mitgeteilt, dass ich sein Haus für ewig richten will um der Schuld willen, denn er hat erkannt, dass seine Söhne sich den Fluch zuzogen[3], aber er hat ihnen nicht gewehrt. 14 Und darum habe ich dem Haus Elis geschworen: Wenn jemals die Schuld des Hauses Elis gesühnt werden soll durch Schlachtopfer oder durch Speisopfer, ewig[4]! 15 Und Samuel lag bis zum Morgen. Dann machte er die Türen des Hauses des HERRN auf. Und Samuel fürchtete sich, Eli die Erscheinung mitzuteilen.

Das erste Buch Samuel 3,1-15
Elberfelder Bibel

Bibeltexte stehen nicht einfach so in der Bibel. Oft werden in ihnen Themen verhandelt – größere Themen, als der Textabschnitt selbst zeigt. Manchmal kann es helfen, diesen Zusammenhang zu kennen (muss aber nicht sein, es geht auch ohne).

Die beiden Samuelbücher jedenfalls stehen inmitten eines Übergangs, und zwar eines Übergangs von Herrschaftsformen. Bis hierher gab es ein Nebeneinander vieler unterschiedlicher Stämme, und bei Problemen wurden einzelne charismatische Personen als sogenannte „Richter“ eingesetzt. Folgen werden Königtümer. Erstens wird damit automatisch immer derjenige als Nachfolger eingesetzt, der als Erstes als Sohn des Königs geboren wird. Statt Charisma, Erfahrung und Weisheit zählt ab jetzt also Herkunft. Zweitens wird das Nebeneinander der unterschiedlichen Stämme damit zusammengezogen zu einer zentralistisch verfassten Monarchie.

Samuel steht genau für diesen Übergang. Es ist der letzte Richter, und er setzt die ersten beiden Könige ein (Saul und David).

Von seiner Herkunft her wäre Samuel nie als Königssohn infrage gekommen. Er war nicht der Erstgeborene eines Königs, und beinahe hätte es ihn nicht mal gegeben. Dass es ihn überhaupt gibt, ist nur dem großen Einsatz seiner Mutter Hannah zu verdanken. Ohne diese einzelne Frau könnten wir diese Geschichte heute nicht so erzählen. Samuels Geschichte ist von Anfang an nicht getragen von gewohnten und abgesicherten Verhältnissen.

Samuel hatte also Glück, dass es noch kein Königtum gab. Zu seiner Zeit gab es stattdessen den Priester Eli; mit seinem Dienst am Tempel seinerseits im Zentrum der Machtmitte, der Anerkennung, des Erfolges, der Stabilität, also von allem, was sich eine Mutter für ihren Sohn wünscht (insbesondere nach den prekären Umständen bis zur Geburt). Mutter Hanna schickt ihren Sohn Samuel in den Dienst Elis. Möge aus Samuel was Richtiges werden.

Und was lernt Samuel als erstes? Höre auf den, der das Sagen hat: Höre auf Eli, den gesellschaftlich anerkannten Garanten religiöser Absicherung und Struktur. Samuel hat verinnerlicht: Wenn ich höre, dass ich gerufen werde, ruft mich Elis Stimme.

Nun ist es dieses Mal aber Gott, der Samuel mitten in der Nacht ruft. Samuel spult trotzdem ab, was er gelernt und verinnerlicht hat: Ich werde gerufen? Ab zu Eli! Eli wird mir sagen, was ansteht und was ich tun soll.

Stimmt aber dieses Mal gar nicht. Dieses Mal hat Eli überhaupt nichts zu sagen. Die Stimme, die Samuel in diesem Moment etwas Wichtiges zu sagen hat, kommt woanders her.

Und noch mehr: Die bisherige etablierte Stimme hat nicht nur Samuel nichts mehr zu sagen. Die neue Stimme öffnet Samuel die Augen dafür, dass diese bisherige etablierte Stimme bald gar nichts mehr zu sagen haben wird. Weil diese alte Stimme an vielen Stellen zu oft NICHT ihre Stimme erhoben hat, verliert sie ihre gesamte Legitimation (und Eli wird mit seinem Tod tatsächlich kein weiteres Wort mehr sprechen).

In dem Moment, wo Samuel einer neuen Stimme lauscht, kann er das Gewohnte nicht mehr als den Ort der Erfüllung und Umsetzung von Gottes Willen betrachten. Stattdessen bekommt er die Augen geöffnet für all das, was da auch schiefläuft und keine Zukunft haben wird.

Blöd nur für Samuel: Es muss sich für ihn so anfühlen, als ob er damit an dem Ast sägt, auf dem er selber mit sitzt. Er fürchtet sich davor, mit seinen Erkenntnissen vor Eli zu treten. Der große Eli! Was wird sich Samuel alles verbauen, wenn er nun den Mund aufmacht?

Ich sehe hier drei zentrale Fragen berührt:

  • Sind die, deren Stimme wir wahrnehmen, wirklich immer die, die uns rufen?
    Sind die, auf die wir reagieren (denen unsere Aufmerksamkeit, unser Einsatz, unser Dienst gilt), wirklich die, die uns rufen?

  • Ist die Stimme Gottes wirklich immer da zu finden, wo wir das geistliche Zentrum vermuten? Wo der Blick hingeht, wenn es um geistliche oder religiöse Fragen geht? Bei denen, die nach außen hin dafür stehen, G*ttes Stimme zu vertreten?

  • Was passiert, wenn wir dieser anderen Stimme zuhören, die uns nachts nicht schlafen lässt?
    Dieser Stimme, die uns vielleicht ganz anders auf das blicken lässt, was wir bisher noch mittragen konnten – aber wo, wenn wir ehrlich sind, klar ist, dass es so nicht weitergehen kann?

Ein paar Beispiele:

Ich denke an Leute wie den Gründer der MCC, Troy Perry: Gott rief ihn. Er dachte, seine Pfingstgemeinde rufe ihn in den Dienst. Erst abseits davon hat sich sein Dienst erfüllt. (Wie viele Sicherheiten und Absicherungen hatte er davor aufgeben müssen: materiell, finanziell, familiär, …) Der Inhalt der Stimme, sich in den Dienst berufen zu fühlen, war richtig – die Zuordnung, dass diese Stimme im gewohnten Kontext seiner Pfingstgemeinde zu verorten war, hingegen nicht.

Ich denke an Menschen, die neu zur MCC kommen. Manche davon haben aus früheren Gemeindebezügen eine Menge an Stimmen verinnerlicht. Womit sie sich „zu Hause“ fühlen, welche Liturgie sich „heimisch“ anfühlt, wie „richtige Kirche“ geht. Neue Impulse, neue leise Stimmen werden oft lange noch vor diesem Hintergrund gehört und den bekannten Entscheidungsmechanismen vorgelegt. Sind diese verinnerlichten Gewohnheiten auf Dauer noch tragend?

Ich denke an unser Selbstverständnis als MCC-Gemeinden. Ich bin überzeugt davon, dass Gott unsere Namen ruft. Aber eben vielleicht nicht immer inmitten des Gewohnten, und nicht immer inmitten in das Gewohnte („Kirche geht so und so; das müssen wir genau so machen, da müssen wir mitmachen…“). Ist es wirklich sinnvoll, dass wir uns vergleichen mit Kirchen, die über Jahrhunderte ihre Inhalte und Strukturen aufgebaut haben? Oder derzeit am „erfolgreichsten“ sind? Sind es aus Kirchenkreisen tatsächlich immer diejenigen, die am sichersten erscheinen und am bekanntesten sind, die uns in den Dienst rufen, zu dem G*tt uns ruft?

Ich denke an Herkunftsfamilien oder andere persönliche Bezüge.

An die Nöte in unserem Stadtteil.

Welche Stimmen, die wir da wahrnehmen und denen wir uns widmen, rufen uns vielleicht eigentlich gar nicht?

Ich denke an manche MCC-Gemeinden, in denen das wahre Zentrum der Macht nicht der offiziellen Struktur entspricht. Manchmal sind es Einzelne, die unantastbar erscheinen und großen Einfluss ausüben; manchmal offensichtlich, manchmal verborgen. Als ich zur MCC Köln kam, regierte die Macht der am meisten Verletzten. Irgendeine Person sagte immer: „Damit bin ich nicht einverstanden, und da ich sooo verletzt bin, könnt ihr nicht so gemein sein, das wirklich zu tun.“ Die gesamte Gemeinde war wie gelähmt.
Während und nach Corona haben wir auch wieder gemerkt, wie viel Macht eine einzige Person entfalten kann, die sich nur an die Regeln hält, die ihr selber gefallen. Entscheidungen der Gemeindeversammlung, vom Vorstand, vom Pastor? Egal! So eine Einstellung hat Konsequenzen, entfaltet eine innere Macht, ruft andere auf den Plan. Sind das die Stimmen, die uns in den Dienst rufen sollen?

Sind es tatsächlich immer diejenigen, die am verletzlichsten auftreten und am lautesten bedürftig erscheinen, die uns in den Dienst rufen? Es gibt auch andere Versionen: Sind es immer diejenigen, die seit Jahren dabei sind? Oder die, deren Ego am ehesten erschüttert würde? Oder diejenigen, von denen die Gemeinde am meisten abhängig ist? Die Person, die doch ach-so-viel macht, oder sooo viel Geld gibt, oder IMMER da ist, oder SO viel kann, oder SOOO lieb ist, oder oder oder…

Vielleicht haben sie uns manchmal gar nicht gerufen? Vielleicht DACHTEN wir das nur, weil es so vertraut und gewohnt ist, dass sie uns ja IMMER rufen?

Was ist mit diesen Stimmen, die auftauchen, wenn wir mit etwas Abstand und Ruhe alleine in der Stille liegen… den Stimmen, die uns nicht nur zeigen, was da alles gut läuft… sondern die uns auch Seiten zeigen, die wir uns lange schöngeredet haben, die wir ignoriert haben, die wir ertragen und mitgetragen haben…?

Das heißt ja nicht, dass ALLES schlecht war, was von solchen Personen ausgeht. Eli gibt Samuel immerhin den entscheidenden Hinweis, dass nicht er, sondern Gott ihn gerade rufe. Immer noch ist er für Samuels geistliche Reise ein wichtiger Impulsgeber. Und doch kommt Samuel nicht mehr darum herum, sich von seinem Lehrer und Mentor und Leiter nun zu lösen (mit allen Konsequenzen).

Mir gefällt das Gottesbild, das in der Begegnung mit Samuel gezeichnet wird: aufmerksam, fragend, geduldig, und trotzdem konsequent und klar. Und vor allem mit vielen Möglichkeiten der Ansprache und des Wirkens; inklusive der sanften, aber hartnäckigen Stimme, die Samuel nachts nicht schlafen lässt – und die sich am Ende als tragender erweist als die Unerfahrenheit und die Furcht Samuels.

Gott wird hier erzählt als eine Stimme, die eben nicht nur zu Königen, deren Erstgeborenen oder innerhalb religiöser Leitungspositionen spricht. Ich glaube nicht, dass das heißt, dass Herkunft egal ist. Samuels Herkunft qualifiziert ihn zwar innerhalb dieser Herrschaftsformen zu nichts. Aber vielleicht ist genau das auch ein Grund, warum sich Gott in dieser Situation ausgerechnet Samuel zuwendet.

Auch heute gibt es Samuels, die gar nicht auf die Idee kommen, dass sich in dem, was sie wahrnehmen, ein Impuls G*ttes verbergen kann. Manche wissen gar nicht, dass sie auch ohne Geistliche oder Meister für G*tt ansprechbar sein können. Möge MCC auch für solche Erfahrungen Impulse und Raum geben!

Die Geschichte Gottes mit Samuel steht nicht für Erfolgsgeschichten inmitten etablierter Strukturen und abgesicherter Umstände. Samuels eigene Geschichte kommt vom Rand her, aus Unsicherheiten, muss erkämpft werden, muss sich selbst definieren, ihre eigenen Wege finden. Und manchmal sind es eben diese Figuren, die nicht in der Mitte der „gewohnten Verhältnisse“ stehen, die diese „gewohnten Verhältnisse“ klarer sehen – und genau damit Geschichten Gottes erkennen, ansprechen und verwirklichen können. Manchmal offenbar nicht mit, sondern ohne manche derjenigen, die bisher tragend und ausschlaggebend erschienen.

 

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