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Sich denen NICHT anzupassen, die meinen, Glaubensleben vorzuleben? Das kann biblischer sein, als sich an ihren Regeln abzuarbeiten!

Impuls MCC Köln, 21. August 2022
Ines-Paul Baumann

Römerbrief 11,25-32

„Christen“ – sind das für dich die mit den Aufklebern und Plakaten, die ziemlich viel von deinem Lebensstil als Sünde bezeichnen? Oder eine Kirche, in der du aufgewachsen bist (oder in der du gerne arbeiten möchtest)? Oder eine Gemeinde, die voller Enthusiasmus Menschen zu Christen erzieht?

Wenn Menschen überlegen, ob sie mit „christlich“ etwas anfangen können, haben sie vielleicht ähnliches im Kopf. Sie vergleichen sich mit denen, die Glaubensleben vorleben, und fragen sich: Passe ich DA dazu? WILL ich da dazu passen??

Als die Briefe des Paulus verfasst wurden, die wir heute im Neuen Testament finden, galt als Standard für „Gläubige“ das Judentum. Der heutige Predigttext ist Teil einer großen Debatte zu der Frage: Müssen sich Heiden den Regeln des Judentums anpassen, um im Sinne Jesu Gläubige sein zu können? Paulus hat eine klare Meinung dazu: Nein, ein Leben mit Gott ist möglich, ohne sich denen anzupassen, die meinen, Glaubensleben vorzuleben.

25Ich möchte, dass ihr die verborgene Wirklichkeit kennt, Geschwister, damit ihr die Dinge nicht nur nach euren Maßstäben beurteilt: Über einen Teil Israels erging eine Verhärtung. Sie wird so lange anhalten, bis die °Völker vollzählig hinzugekommen sind. 26Auf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden, wie es aufgeschrieben ist: Aus Zion wird die Rettung kommen, sie wird Jakobs Trennung von Gott aufheben. 27Und dieses ist mein °Bund mit ihnen, wenn ich das von ihnen begangene °Unrecht wegnehme. 28Im Blick auf die Freudenbotschaft sind sie feindlich gesinnt – um euretwillen. Im Blick auf die Auserwählung sind sie Geliebte, auf Grund ihrer °Mütter und Väter. 29Denn Gott bereut es nicht, in °freier Zuwendung Geschenke gemacht und Menschen gerufen zu haben. Das gilt unwiderruflich. 30Einst habt ihr nicht auf °Gott gehört, jetzt! aber habt ihr Barmherzigkeit erfahren, weil sie sich weigerten, auf Gott zu hören. 31Jetzt! sind sie es, die nicht auf Gott hören, weil euch Barmherzigkeit geschenkt wurde. Dies geschieht, damit auch sie Barmherzigkeit erfahren. 32Gott hat alle in ihrem Starrsinn eingeschlossen, um allen Barmherzigkeit zu schenken.

Brief an die Gemeinde in Rom 11,25-32

Darf ich es mal kurz soziologisch formulieren: Mit diesem Text und seinem Drumrum verabschiedet Paulus die Idee, dass (in Bezug auf Glaubensleben) Inklusion in Bestehendes zu Teilhabe am Wesentlichen führt.

Was ist damit gemeint? Angenommen, ich bin von etwas ausgeschlossen. Aus irgendwelchen Gründen taucht die Frage auf, ob ich da dazugehören kann oder will. Dann gibt es normalerweise zwei Fragen:

  1. Was muss ICH verändern, damit ich da reinpasse?
    Wie muss ich mich verhalten, wie muss ich mich anziehen, wie muss ich mich äußern? Was muss ich tun, damit die anderen mich in ihren Kreis aufnehmen?
  2. Was muss sich DORT verändern, damit ich da reinpasse?
    Vielleicht gibt es gewisse Regeln, die dazu führen, dass ich nicht mitmachen darf. Dann kann ich mich z.B. dafür einsetzen, dass diese Regeln geändert werden.

Bei Paulus geht es wie gesagt darum, wer zum Kreis der Gläubigen zählen darf. Die Menschen, mit denen er sich damals auseinandersetzte, waren überzeugt, dass der Kreis der Gläubigen nur innerhalb des Judentums zu finden ist. Wer nicht jüdisch war, war Heide. Und Heiden gehörten NICHT zum Kreis der Gläubigen dazu. (Jesus selbst war übrigens Jude. Paulus war auch Jude.)

Die Frage, die sich damals stellte, war: Was bedeutet das Evangelium von Jesus Christus für die Menschen, die Heiden sind? Gilt die Frohe Botschaft nur den Menschen aus dem Judentum? Viele sagten: „Nein, das passt nicht zu dem, wie wir Jesus verstanden haben. Von Jesus her glauben wir: Die Liebe Gottes muss ALLEN Menschen gelten.“ Wenn aber doch nur das Judentum den Kreis der Gläubigen umfasste: Müssen die Heiden dann alle so leben und handeln, als wären sie jüdische Menschen? Müssen sie sich beschneiden lassen und auf die Speisegebote achten, wenn sie zu Gott dazugehören möchten? Müssen sie sich also an bestehende Glaubenskulturen anpassen, wenn sie dazugehören möchten?

Und hierzu sagt Paulus: Nein. Und zwar zu beiden Fragen von eben:

  1. Paulus sagt: Nein, Heiden müssen sich NICHT ändern.
    Sie müssen sich NICHT dem Lebenswandel des Judentums anpassen.
  2. Paulus sagt aber auch: Nein, das Judentum muss sich nicht ändern.
    Beschneidung und Speisegebote können ihre Gültigkeit behalten. Das Judentum muss sich nicht für Heiden öffnen und seine Regeln ihnen zuliebe ändern.

Paulus sagt also: Es geht gar nicht darum, dass Heiden in das Judentum aufgenommen werden sollten. Heiden können zu den Kinder Gottes gehören, ohne zum Judentum zu gehören. Was im Judentum richtig war, kann ja gerne richtig bleiben. Aber es ist eben nicht für alle das Richtige. Im Gegenteil: Was bisher gemacht wurde, ist NICHT das Richtige für alle.

Etwas allgemeiner formuliert: Die Regeln von Menschen, die sich schon länger zu den Gläubigen zählen, sind nicht automatisch maßgeblich. Das ist insbesondere wichtig für alle, die von diesen Regeln ausgeschlossen werden:
Warum wollt ihr versuchen, euch diesen Regeln anzupassen?
Warum wollt ihr versuchen, diese Regeln zu ändern?

Beides ist nicht zwingend nötig. Paulus geht nämlich noch einen Schritt weiter und sagt: Für manche mögen diese Regeln weiter gelten, für andere nicht, denn im Kern geht es seit Jesus um etwas anderes. [1]

Dazu kommt: Hier können bzw. müssen diejenigen, die schon lange dabei sind, sogar etwas lernen von denen, die es jetzt anders machen (nicht weil die es anders machen, sondern weil sie es mit einer anderen Haltung machen). [2]

Deswegen geht es in den Paulinischen Briefen so oft um die Frage: Worum geht es im Kern?
Und dann nimmt Paulus das, was er als Kern ausmacht, und bietet ihn ALLEN an. Und zwar nicht mit der Erwartung, INNERHALB des Bestehenden zum Mitmachen einzuladen: „Guck mal hier, das ist der Kern, möchtest du vielleicht mitmachen bei dem, was wir damit schon immer machen?“ Das fragt Paulus nicht.
Sondern Paulus trägt den Kern HINAUS aus dem Bestehenden und fragt: Was bedeutet dieser Kern denn nun AUSSERHALB des Bisherigen? Was bedeutet dieser Kern für dich? Was machst DU damit? Welche Worte, welche Bedeutungen, welche Möglichkeiten, welche Ausdrucksformen, welche Konsequenzen hat dieser Kern in DEINEM Leben? [3]

Vom Glaubensverständnis her gedacht, wie es Paulus hier anhand von Heidentum und Judentum skizziert, reicht es also nicht immer, bestehende Kirchen und Glaubensideen einfach nur zu „öffnen“.
Damit reicht es auch nicht immer, nur durch einen Abgleich mit dem Bestehenden die Frage zu beantworten, ob ich mit Glauben etwas zu tun haben möchte oder nicht.

Abschließend ein paar Beispiele dafür, die MICH in dem Zusammenhang beschäftigen:

  • Dass Kirchen Sex ohne Kinderwunsch als Sünde betrachten, finde ich unsäglich (wenn Sündenbegriffe hier schon eine Rolle spielen sollen, dann ist aus meiner Sicht DAS nahe dran). Aber dass Menschen deswegen grundsätzlich alles ablehnen, was mit Glauben zu tun haben könnte, schmerzt mich noch mehr. Der Blick in konservative Kirchen und Gemeinden verstellt völlig den Blick auf die revolutionären, befreienden, heilsamen Aspekte, die Glaube bergen und hervorbringen kann. Ich sehe hier eine Verantwortung für die MCC, diesen lauten Stimmen nicht das Feld zu überlassen.
  • „Die Kirchen“, die viele kennen, sind in vielen Strukturen und Inhalten geprägt von cis-männlich endo-geschlechtlichen Menschen. Reicht es, wenn weibliche*, trans*, nicht-binäre oder intergeschlechtliche Menschen dann freundlicherweise auch daran teilhaben dürfen? Dient es nicht vielmehr dem Segen ALLER, Neues zu schaffen als Ergänzung abseits des Bestehendem (anstatt vorrangig das Bestehende um weitere Leute zu ergänzen)? Möge die MCC auch weiterhin ein Ort sein, an dem ausprobiert, gestaltet und verworfen werden kann, wie Glaube gelebt und ausgedrückt werden kann.
  • Ich frage mich derzeit oft, warum neurotypische Menschen Gottesdienste gestalten, die dann möglichst „offen“ sein sollen für neurodiverse Menschen. Ich wünsche mir z.B. mal einen Gottesdienst, den autistische Menschen gestalten (und zwar nicht nur „für sich untereinander“). Wo der Umgang mit Worten, mit Anderen, mit Eindrücken so gestaltet ist, dass es keine Overloads und Meltdowns auslöst. Mit Raum für Stimming statt Masking. Wie wird der Friedensgruß aussehen, wenn er ohne Anfassen und Blickkontakt auskommt? Wie wird das Abendmahl gestaltet sein?

In der MCC Köln ist derzeit vielleicht ganz konkret so etwas im Gange: dass neue Menschen nicht bloß dazukommen, sondern ihre Erfahrungen und Perspektiven so einbringen, dass die MCC mit ihnen anders aussehen wird als vorher ohne sie. Gottes Segen diesen Wegen!

Zum Untermauern und Weiterdenken

  • [1] Der Umgang von Paulus mit den Speisegeboten und der Beschneidung sind schöne Beispiele dafür, s. 1. Korinther 8,1-13, Galater 5,6 u.v.a.m.
  • [2] Paulus skizziert das ausführlicher mit dem Bild des Ölbaums in Römer 11,17-24 (direkt vor dem heutigen Text):
    • Die „wilden“ Ölzweige (Heiden, Völker) müssen nicht erst „veredelt“ werden (Judentum, Israel), um zum Olivenbaum (Gläubige, Heiligkeit) dazu zu gehören. Sie werden Teil des Heiligen, so wie sie sind. Die Gleichsetzung, dass die Zweige des Olivenbaums aus demselben Holz sein müssten wie der Olivenbaum selbst, wird aufgehoben: jüdisch sein und gläubig sein sind nicht mehr identisch.
    • In diesem Bild wird freilich auch deutlich, dass Paulus dem Judentum weiterhin eine zentrale Bedeutung beimisst: die bisherigen Zweige sind die quasi „natürlichen“ Zweige; die früher ausgeschlossenen Zweige sind „angepropft“; Bezugspunkt ist für ihn ganz klar weiterhin der Ölbaum, wie er bisher ausgesehen hat. Aber vielleicht ist das auch nur ein rhetorischer Trick. Mit dem heutigen Text wirkt es eher so, als würden die bisherigen Zweige (Israel) der neuen Zweige (Völker) bedürfen, um gerettet zu sein – wohingegen die neuen Zweige gerettet sein können, auch solange die bisherigen Zweige erst noch auf den Trichter kommen müssen (Vers 11: „Über einen Teil Israels erging eine Verhärtung. Sie wird so lange anhalten, bis die °Völker vollzählig hinzugekommen sind. 26Auf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden“).
    • Die neuen Zweige ersetzen die bisherigen Zweige aber auch nicht. Die bisherigen Zweige sind weiterhin Teil des Baumes, wenn sie sich mit dem Wesentlichen verbinden. Nur weil sie alte Zweige sind, sind sie nicht falsche Zweige. Die neuen Zweige müssen sich nicht den bisherigen anpassen, aber auch die bisherigen Zweige müssen sich nicht den neuen anpassen. Wichtig ist für beide nicht das gegenseitige Überbieten oder Vereinnahmen, sondern die Verbindung mit dem, wofür der Ölbaum schon immer stand – allerdings funktioniert DAS halt jetzt nicht mehr über „das war schon immer so“ und „die anderen gehören nicht dazu“. Die Zeiten sind vorbei, dass die bisherige Mitte sagen kann: „Wir sind der Maßstab (aber kein Problem, wir sind ja ganz offen und tolerant)“. Paulus zufolge können Tradition, eine lange Geschichte und Sicherheit im Eigenen auch verschließen und verhärten – und von Heiligem trennen anstatt dahin zu führen. Sich nur zu öffnen reicht dann nicht mehr. Erst wenn die Mitmenschen ihre eigenen Wege gefunden haben, kann sich das bisher Dominierende einordnen als eines von vielen und damit auch zu sich – und seinem Gott – finden.
  • [3] Paulus versucht schon von seiner Seite aus, den Kern seiner Botschaft so zu formulieren, dass es den Kontext der Zuhörenden aufgreift:
    • zum Prinzip: 1. Korinther 9,20-23 („Den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, …“)
    • als Beispiel: Apg 17,16-34 (Paulus’ Predigt in Athen)
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