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Opfertheologie reframed (und drei große ABER)

Predigt MCC Köln, 7. Juni 2015
Ines-Paul Baumann

Römerbrief u.a.: „Sühneopfertod“

Es ist historisch einmalig, dass mit der MCC eine Kirche gegründet wurde, die eine Vielzahl von Glaubensinhalten und -formen lebt. Angesichts des Schadens, den Opfertheologie angerichtet hat (und immer noch anrichtet), muss ich mich aber immer wieder fragen lassen: Wie kann ich es vertreten, dass auch von dieser Kanzel opfertheologische Botschaften verkündet werden dürfen?

(Andere MCC-Gemeinden sind da übrigens auch zu anderen Antworten gekommen; manche bekennen sich z.B. ausschließlich zu Progressivem Christentum.)

Opfertheologie: Manche lieben sie, manche hassen sie. Für die einen ist es der Weg zum Leben, für die anderen verstellt es jeglichen Weg zum Leben, und dazwischen gibt es wenig. Der einen Freud, der anderen Leid – und beide Seiten vertreten ihre Meinung vehement und mit wenig Gelassenheit oder Spielräumen. Zu viel hängt für sie daran.

„Was ist Opfertheologie überhaupt?“, mögen sich diejenigen gerade fragen, die weder dem einen noch dem anderen Lager angehören (die gibt es ja auch.) Die inhaltlichen Grundzüge der Opfertheologie lassen sich beispielsweise anhand des Römerbriefs so zitieren:

(Röm 5)

8 Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
9 Nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht gemacht sind, werden wir durch ihn erst recht vor dem Gericht Gottes gerettet werden.
(…)

12 Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.

(…)

20 (…) wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden.
21 Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen, durch Jesus Christus, unseren Herrn.
(Röm 6)

4 Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben.

11 So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus.

22 Jetzt, da ihr aus der Macht der Sünde befreit und zu Sklaven Gottes geworden seid, habt ihr einen Gewinn, der zu eurer Heiligung führt und das ewige Leben bringt.

(Röm 8)

1 Jetzt gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind.
2 Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes.

Anhänger_innen der Opfertheologie geht bei diesen Worten das Herz auf. Sie finden sich wieder in dem Menschenbild. Der angebotene Lösungsweg ist genau ihr Glaubensweg. Sie teilen das Gottesbild. Die Konsequenzen dieses Denkens erleben sie als befreiend und erlösend.

Gegner_innen der Opfertheologie sehen jeden dieser Punkte anders: Sie teilen das Menschenbild nicht, sie teilen den Lösungsweg nicht, sie teilen das Gottesbild nicht, und sie halten die Konsequenzen dieses Denkens für gefährlich und schädlich.

Warum wirken die Worte aus dem Römerbrief so unterschiedlich? Beide Seiten würden sagen, dass ihre Sichteweise Heil stiftet. Die unterschiedliche Bewertung kommt aus einer unterschiedlichen Lebenserfahrung, denke ich: Die unterschiedlichen eigenen Erfahrungen führen zu gänzlich unterschiedlichen Sichtweisen.

Gibt es heute noch (oder wieder) Lebenserfahrungen, für die Opfertheologie eine heilstiftendende Antwort sein kann?

Gesellschaftlich tun sich heutzutage viele schwer mit Begriffen wie „Sünde“, „Sklaven“ und „Gericht“. Ob es Menschen gut geht oder nicht, möchten wir heute nicht mehr als Beweis dafür verstehen, wie wenig oder wie viel sie gesündigt haben. Viele glauben nicht mehr an einen Richter im Himmel, der den Guten viel Gutes und den Bösen viel Böses einschenkt.

„Ob du einen Beruf hast, eine Arbeitsstelle, eine Ehe, einen Freundeskreis, einen gesunden Körper und ein tolles Handy – all das hat vor allem mit dir selbst zu tun. Wer seine Potentiale fördert und einsetzt, kommt zurecht zu Erfolg. Wer kein erfolgreiches Leben führt, macht halt zu wenig. Das ist nicht wertend gemeint. Das ist nicht „gut“ oder „böse“. Es ist einfach so, und es geht auch gar nicht anders. Entwickel dich immer weiter, tu was, genüge den Anforderungen, und du bist dabei. Es liegt an dir. Heutzutage sind wir selbst für den Erfolg oder Misserfolg unseres Lebens zuständig!“

Viele Menschen haben all das nicht, was bei uns als Erfolg oder Belohnung gilt (Arbeitsstelle, Ehe, Gesundheit, Handy, …), ich weiß. Nur wenige verzichten freiwillig oder aus Überzeugung darauf. Die meisten, die das nicht haben, sind nicht glücklich darüber. Oft fühlen sie sich schlecht, minderwertig, benachteiligt. Manche schimpfen dann auf das System. Aber für „das System“ ist klar: Wenn du es nicht schaffst, bist du selber schuld. Wenn du unglücklich bist, bist du selber schuld. Wenn du dick bist, bist du selber schuld. Wenn du krank bist, bist du selber schuld. Wenn du alleine bist, bist du selber schuld. Wenn du Schmerzen hast, bist du selber schuld.

Vielleicht teilst du diese Sichtweise nicht in allem. Vielleicht bist du in deinen Augen NICHT an allem selber schuld, vielleicht haben aus deiner Sicht deine Eltern oder ehemalige Partner_innen oder Arbeitgeber dein Leben ruiniert. Aber auch dann wird dir immer wieder gesagt werden: Wie du jetzt damit umgehst, liegt an dir. An deiner Einstellung. An deiner Haltung. Wenn du den RICHTIGEN Umgang damit entwickelst, wird es dir besser gehen.

Folgende drei Schritte sind dabei immer wieder von uns gefragt; Patrick Schreiner nennt sie Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung:

  • Erstens müssen wir ständig in uns reingucken: „Wo kann ich noch was verbessern? Wo habe ich Defizite? Wo kann ich noch etwas tun, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden?“
  • Zweitens müssen wir ständig die entsprechenden Veränderungen an uns vornehmen: „Welche Maßnahmen treffe ich, um mich zu verbessern? Um mich den Erwartungen anzupassen? Mache ich genug Therapie, Sport, Fortbildungen, Kurse, Unternehmungen, …?“
  • Drittens müssen wir natürlich ständig dafür sorgen, dass andere auch mitbekommen, was wir alles machen. Was nützt der ganze Einsatz sonst? Facebook, Twitter, Selfies, Bewerbungsschreiben, Nachweise für’s Amt oder für den Arbeitgeber, Tracking-Programme über meinen Fahrstil (dann krieg ich die Autoversicherung günstiger!), Bonus-Punkte für die Krankenkasse, Payback-Punkte … mein Einsatz will belohnt sein!

Es ist seltsam: Wenn ich das so aufliste, klingt das nach einem anstrengenden und stressigem Programm. Aber die meisten, die mir davon aus ihrem eigenen Leben erzählen, tun das mit Freude, Stolz, Zufriedenheit und Selbstverständlichkeit. („Hier wieder was gespart, da wieder eine tolle Rückmeldung bekommen, hier ein großartiges Angebot genutzt, da eine Krise gewinnbringend durchgemacht, hier für einen neuen Kurs angemeldet, …“)

Wir fühlen uns darin nicht unterdrückt oder ausgebeutet. Wir machen das alles ganz freiwillig!

Ich kann gut nachvollziehen, was sich daran gut anfühlt:

  • (Bei der Selbstthematisierung:) „Da geht noch was! Ich kann noch mehr! (Und ich bin mir das wert!)“
  • (Bei der Selbstoptimierung:) „Ich habe die Macht, mich und mein Leben besser zu machen!“
  • (Bei der Selbstdarstellung:) „Ich werde gesehen! Ich bekomme Bestätigung!“

Es gibt aber auch eine „mitlaufende Gegenbotschaft“, die meist unausgesprochen bleibt:

  • „Ich bin schuld.“
  • „Ich bin nie gut genug.“
  • „Ich muss es selber machen; andere helfen mir nicht.“
  • „Mein Wert liegt im Urteil anderer über mich. Andere haben das Recht, über mich zu urteilen und zu richten.“

Und mit so einem Lebensgefühl erscheint die Opfertheologie in einem ganz anderen Licht.
Opfertheologie hat auf jeden dieser Punkte eine Antwort, die entlastend und befreiend wirken kann:

  • „Ich bin schuld.“
    „Ich bin nie gut genug.“
    => Ich darf so kaputt und defizitär sein, wie ich mich fühle.
  • „Ich muss es selber machen;
    andere helfen mir nicht.“
    => Ich bin Teil einer Gemeinschaft, in der ich Solidarität erfahre und ausübe.
  • „Mein Wert liegt im Urteil anderer über mich. Andere haben das Recht, über mich zu urteilen und zu richten.“
    => Die Meinung anderer hat keine Macht mehr über mich. Ich weiß mich von Gott gesehen, verstanden und angenommen.

Hier ein paar Beispiele:

  • „Alle Menschen sind Sünder.“ (Röm 3,23):
    Ich bin gar nicht als Einzige/r so. Es ist eben nicht meine eigene persönliche Schuld. Ich kann gar nix dafür! Wie schön, dass ich jetzt frei und umfassend eingestehen kann, wie defizitär ich bin!
  • „Das Blut Christi macht uns rein.“ (1. Joh 1,7):
    Vielleicht bin ich als schuldiger, defizitärer Sünder hierhergekommen. Aber ab jetzt liegt über meinen Sünden die Gnade Gottes wie weißer Schnee. Ich selber kann und brauche mich gar nicht rein zu machen. Das Kreuz lässt mich in den Augen Gottes rein sein!
  • „Jesus ist für unsere Sünden gestorben.“ (Röm 5,8):
    Nicht ich muss mich optimieren! Ich brauche gar nicht gut (genug) zu sein; Jesus macht mich gut (genug)! Nicht ich muss mich und mein Leben verbessern; Jesu Tod am Kreuz hat alles verändert!
  • „Niemand von uns lebt für sich selbst und niemand stirbt für sich selbst.“ (Röm 14,7):
    Ich bin nicht mehr allein, ich bin Teil einer Gemeinschaft, einer großen und wichtigen Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Menschen!
  • Gott sieht mich, Gott urteilt über mich, Gott richtet mich (Röm 14,10) … und Gott hat mich angenommen! (Röm 15,7) :
    Ich bin nicht mehr darauf angewiesen, dass andere mich sehen und mich bestätigen. Ich bin frei von den Erwartungen und Ansprüchen anderer, die es nicht so gut mit mir meinen wie Gott!

All dies können Momente wahrer Befreiung sein. Hier kann ein Wandel geschehen, der wirklich Heil, Heilung und Heiligung ermöglicht. Wie beim Exodus im Alten Testament kann sich hier ein Auszug aus lange eingeübten Gefangenschaften vollziehen.

Jesus hat Menschen damals herausgerufen aus Unterdrückung und Vereinzelung, Jesus ruft uns heute heraus aus Unterdrückung und Vereinzelung. Für manche ergeht der Ruf Jesu heute vielleicht genau über die Opfertheologie. (Freilich gibt es auch andere Wege…!)

Aber wer sich verstrickt findet in das Denken, das heute weite Teile unserer Gesellschaft als selbstverständlich und alternativlos empfinden, findet in der Opfertheologie vielleicht eine Tür zu einem neuen Leben.

Und wer diesen Schritt erst mal gemacht hat, kann wahre Wunder erleben und gestalten, wenn die Liebe Gottes tiefer und tiefer die alten Strukturen umspült und ausspült.

Aaaaaber…

  • Freilich funktioniert das nicht, wenn die alten Strukturen ihrerseits das neue Glaubensleben tragen. Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung führen dann auch in Gemeinden wieder zu defizitärer Selbstwahrnehmung, zu einem richtenden Gottesbild, zu leistungsbezogenem Erfolgsdenken, zu Schuldzuweisungen an sich und andere, zu „Aufopferung“ und Anpassung, … Und Opfertheologie kann solche Haltungen leider auch fördern, statt aus ihnen zu befreien. Wie gut, dass Jesus selbst gar nichts wusste von der Notwendigkeit seines Sterbens, als er zu Lebzeiten ganz ohne Sühnetod großzügig Heil, Heilung und Heiligung stiftete statt Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung!
  • Freilich gibt es auch andere Wege aus der neoliberalen Lebensenge zur Lebensfülle Gottes. Jesus hat weder im Rahmen von Neoliberalismus noch im Rahmen Paulus’scher Opfertheologie gelebt und gewirkt.
  • Freilich darf Kirche nie selbst dieses Menschenbild einpflanzen und Menschen kaputt reden (z.B. als „Voraussetzung“ dafür, „das Erlösungswerk Jesu annehmen“ zu können…). Jesus hat Menschen nicht erst zerbochen, um sie anschließend heilen zu können.

Fürbitte

Gott, angesichts der schädlichen Auswirkungen von Opfertheologie können wir nicht schweigen.
Wir denken an alle, die glauben, dass Opfer notwendig sind, weil du dich in deiner Ehre verletzt fühlst und ein Blutopfer zur Versöhnung gebraucht hast.
Wir denken an Menschen, die unter Gewalt leiden, weil Liebe mit Opfer, Gehorsam und Hingabe verknüpft wird.
Wir denkan an alle, die vermeintliche Tugenden wie Selbstaufopferung, Hingabe und Selbstverleugnung auch noch religiös untermauern und damit fatale Vorstellungen z.B. von Frauenrollen prägen.
Jesus, wir wollen stattdessen das verkünden und leben, was du selbst verkündet und gelebt hast: nämlich deinen Ruf zu einem Leben in Fülle, erfüllt von der göttlichen Geistkraft, die Menschen aufrichtet – und nicht klein und ohnmächtig macht.
Wir bitten für alle Menschen und alle Anteile in uns, die sich der Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung unterworfen haben. Hilf uns heraus in ein Leben, wo wir uns und einander annehmen lernen und solidarisch handeln lernen.
Amen.

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