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Nicht in Stimmung für stimmungsvolle Gottesdienste?

Predigt MCC Köln, 12. Juli 2015
Ines-Paul Baumann

Psalmen: Höhepunkte und Tiefpunkte

„Also Beten geht gerade echt nicht, ich bin noch viel zu geladen.“
„Letzte Woche konnte ich nicht zum Gottesdienst kommen, mir ging es einfach zu schlecht.“
Gibt es sowas wie „passende“ Stimmungen für Gottesdienste und Spiritualität?

So ganz wertfrei stehen wir unseren Gefühlen anscheinend nicht immer gegenüber. Aus meinen persönlichen Beobachtungen ergibt sich folgendes grobes Raster:

  1. Platz: Stimmungen großer spirituelle Meister und großer geistlicher Momente:
    – Friede, Ausgeglichenheit, Achtsamkeit, Gelassenheit, Humor
  2. Platz: Passende Gefühle für einen normalen Gottesdienst:
    – Schuldgefühle (angemessene, in denen Gott uns neue Wege öffnen kann, aber auch unangemessene, die in Kirchen oft noch forciert werden) Dankbarkeit, Mitgefühl
  3. Platz – nein, KEINEN Platz haben diese spirituellen Stimmungskiller:
    – Rachsucht, Wut, Zorn, Angst, Unruhe, Neid, …

Mit solchen Gefühlen ist es für viele nicht passend, zum Gottesdienst zu gehen. Sie bleiben dann lieber direkt ganz weg.

Tatsächlich gehen Kirchen auch mit Bibeltexten manchmal so um. Klassiker sind die Psalmen. In den Gottesdiensten haben sie oft nur in zensierter Form einen Platz. Alle schlimmen Stellen werden rausgestrichen. Hier als Beispiel die Psalmlesung von letzter Woche (nach http://www.daskirchenjahr.de/tag.php?name=5ntrinitatis&zeit=Trinitatis):

Gelesen: Psalm 56, 2-5.13-14

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Meine Feinde stellen mir täglich nach;
denn viele kämpfen gegen mich voll Hochmut.
Wenn ich mich fürchte,
so hoffe ich auf dich.
Ich will Gottes Wort rühmen; / auf Gott will ich hoffen und mich nicht fürchten.
Was können mir Menschen tun?
Ich habe dir, Gott, gelobt,
dass ich dir danken will.
Denn du hast mich vom Tode errettet,
meine Füße vom Gleiten, dass ich wandeln kann vor Gott im Licht der Lebendigen.

Psalm 56, 2-5.13-14

Problem angesprochen, ansonsten Hoffnung, Lob, Dank, Errettung und Licht – alles sehr zugänglich und schön.

Hier nun die gestrichenen Stellen: Psalm 56, 1.6-12

Ein güldenes Kleinod Davids, vorzusingen, nach der Weise »die stumme Taube unter den Fremden«, als ihn die Philister in Gat ergriffen hatten.
Täglich fechten sie meine Sache an;
alle ihre Gedanken suchen mir Böses zu tun.
Sie rotten sich zusammen, sie lauern / und haben Acht auf meine Schritte,
wie sie mir nach dem Leben trachten.
Sollten sie mit ihrer Bosheit entrinnen?
Gott, stoß diese Leute ohne alle Gnade hinunter!
Zähle die Tage meiner Flucht, / sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie.
Dann werden meine Feinde zurückweichen, / wenn ich dich anrufe.
Das weiß ich, dass du mein Gott bist.
11 (hatte als Vers 5 seinen Platz)
12 (hatte als Vers 5 seinen Platz)

Psalm 56, 1.6-12

Wälzen im schlimmen Tun der anderen, Rachsucht, Tränen und die (manchmal sehr nervige) Selbstgewissheit von Leuten, die Gott auf ihrer Seite wissen. Für einen stimmungsvollen Gottesdienst scheint das nicht passend genug zu sein.

Wenn du voller Rachegedanken bist und ganz nah am Wasser gebaut, gehst du dann in einen Gottesdienst? Setzt dich der Gemeinde aus (wo du vielleicht auch noch denen begegnest, die sich dir gegenüber so ungerecht verhalten)? Hast Lust auf fröhliches Singen, freundliches Lächeln beim Friedensgruß, andächtige Stille beim Abendmahl?

Sind das die Gefühlszustände, in denen dein inneres Gefühl dich ganz deutlich spüren lässt, wie du eingebettet bist in Gottes Gegenwart?

Was nicht passt, muss eben nicht passend gemacht werden

Wir können über die Psalmen sagen, was wir wollen:

  • Sie mögen theologisch manchmal sehr fragwürdig sein.
  • Ihre Gottesbilder sind sicherlich nicht immer zeitgemäß für das 21. Jahrhundert.
  • Ihre Auffassungen von Männlichkeit, Stärke und Herrlichkeit sind manchmal schwer zu ertragen.

Aber sie schämen sich nicht, ihre gesamten Gefühlslagen in aller Breite vor Gott auszubreiten. Sie glauben nicht, dass ihnen irgendetwas davon vor Gott peinlich sein müsste. Sie glauben nicht, dass Gott sie richtet für ihre Gefühle (oder für ihr Gefühls-Durcheinander).

Sie glauben, dass Gott für sie da ist. An ihrer Seite steht. Dass Gott ihre Sorgen teilt. Dass Gott versteht, was sie so belastet.

Aufgeräumt sein FÜR Gott? Aufgeräumt werden MIT Gott!

Als meine Tochter Milla gerade schaukeln gelernt hatte, schaukelte sie oft lange vor sich hin und erzählte und erzählte und erzählte. Sie erzählte einfach so vor sich hin. Sie wollte gar nicht, dass ich zuhöre oder antworte. Sie erzählte sich einfach alles von der Seele, was sie gerade beschäftigte. Wie eine Katharsis.

Jetzt ist sie sechs, und wenn sie abends im Bett liegt, schnappt sie sich ihre ganzen Kuscheltiere und Spieletiere, und dann wird erzählt und erzählt und erzählt. Auch heute muss ich nicht zuhören oder antworten. Sie erzählt sich einfach alles von der Seele, was sie beschäftigt. Katharsis.

So beten die Psalmen. Die Psalmen müssen erzählen, was sie beschäftigt – mit allen Konflikten, mit allen Emotionen, und mit allen Aggressionen. Katharsis.

Und zwar nicht, um dann anschließend (also wenn emotional alles wieder stabil genug ist) im Gebet die Gegenwart Gottes suchen zu dürfen. Sie suchen die Gegenwart Gottes genau deswegen, GENAU UM sich alles von der Seele reden zu können. Katharsis. In Gott, für Gott, mit Gott, bei Gott – ob Gott antwortet oder nicht. Ob sich anschließend an den Umständen was ändert oder nicht. Die Betenden selbst sind es, die anschließend verändert sind.

Weißt du, ob und was hinter deinen Gefühlen steckt? Was sie dir sagen wollen? Lass sie sprechen! Bring sie zur Sprache!

Ein paar Beispiele, was in den Psalmgebeten alles Platz hat:

Trenn dich von dem, was (oder wer) dein Leben zerstört.

Wenn es Lebenshaltungen oder Einstellungen sind, erlaube ihnen gar nicht erst, groß zu werden. (Aber führe nicht selbst die Hand gegen andere; lege das lieber in Gottes Hände!)

Tochter Babel, du Zerstörerin,
Gott segne den, der dir heimzahlt, was du uns angetan hast!
Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt
und sie am Felsen zerschmettert!

aus Psalm 137,8+9

Gott, warum hast du mich verlassen??? Ach stimmt, hast du ja gar nicht!

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Du antwortest nicht
(…)
Rühmt den Herrn,
denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen
und sein Antlitz nicht verborgen; und als er zu ihm schrie, hörte er’s.

aus Psalm 22,2-3.24-25

Untröstlich – und der Gedanke an Gott macht es nur noch schlimmer…

Meine Seele will sich nicht trösten lassen.
Ich denke an Gott – und bin betrübt;
ich sinne nach – und mein Herz ist in Ängsten.
ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden kann.

aus Psalm 77,2-5

Selbst voller Schmerzen, trotzdem für andere Begleitung und Segen sein…

Ich habe mich müde geschrien,
mein Hals ist heiser.

Ich bin elend und voller Schmerzen.
Gott, deine Hilfe schütze mich!
Ich will den Namen Gottes loben mit einem Lied
und will ihn hoch ehren mit Dank.
Das wird dem HERRN besser gefallen
als ein Stier, der Hörner und Klauen hat.
Die Elenden sehen es und freuen sich,
und die Gott suchen, denen wird das Herz aufleben.

aus Psalm 69, 4.30-33

Sie haben kein Recht, mich anzugreifen und fertigzumachen! Vor Gott stehe ich rein da! Sollen sie doch selber gedemütigt werden!

HERR, höre die gerechte Sache,
Sprich du in meiner Sache;
deine Augen sehen, was recht ist.
du läuterst mich und findest nichts.
Wo wir auch gehen, da umgeben sie uns; ihre Augen richten sie darauf, dass sie uns zu Boden stürzen,
HERR, mache dich auf, tritt ihm entgegen und demütige ihn!

aus Psalm 17,1-3.11.13

Ich könnte nur noch heulen und klagen! Ich will nur noch weg hier!

Gott, höre mein Gebet
und verbirg dich nicht vor meinem Flehen.
Merke auf mich und erhöre mich,
wie ich so ruhelos klage und heule,
Ich sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben,
dass ich wegflöge und Ruhe fände
Siehe, so wollte ich in die Ferne fliehen
und in der Wüste bleiben.
Abends und morgens und mittags will ich klagen und heulen;

aus Psalm 55,2-3.7-8.18

Freilich gibt es auch Psalmen mit anderen Gefühlen. Leidenschaft, Sehnsucht, Liebe (auch wenn andere sich gegen mich wenden):

Unerfüllte Liebe (zu Menschen, zu Gott, …) in einem verständnislosen Umfeld:

Wie ein Durstiger, der nach Wasser lechzt, so verlangt meine Seele nach dir. Mit meinem ganzen Körper spüre ich, wie groß meine Sehnsucht nach dir ist
Deine Liebe bedeutet mir mehr als das Leben,
Nachts auf meinem Lager denke ich an dich, stundenlang sinne ich über dich nach.
Sie aber trachten mir nach dem Leben, mich zu verderben

aus Psalm 63,2.4.7.10

Ich finde, das klingt wie aus dem Tagebuch einer homosexuellen Liebe in einem homophoben Umfeld…. (Bei uns ist das ja manchmal eher umgekhert: Homosexuelle Liebe ist bei uns kein Problem. Aber wer äußert, solche Gefühle für Gott zu hegen, kann schon mal unter Verdacht geraten, „nicht ganz gesund“ zu sein ….)

Lieben, Klagen, Heulen, Schmerzen, Sehnsucht…: Nichts davon muss uns vor Gott peinlich sein. Vielleicht gilt anderen manches davon als spiritueller Stimmungskiller. In der Bibel und in unserem Glaubensleben hat es aber Platz. Lass dich davon nicht vertreiben aus der Gewissheit der Gottesnähe. Lass es dich HINtreiben in die Gottesnähe. Gott ist bei dir, egal ob deine Gefühle gerade dazu passen oder nicht.

Die Psalmisten haben sich und ihre Gefühle wahr- und angenommen. Auch Gott nimmt dich wahr und nimmt dich an – mit allem, was du bist und fühlst.

 

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