Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
5. November 2023
Römerbrief 7,14-25
„Schließlich braucht es die Vorstellung einer anderen Welt, um das Hier und Jetzt zu verändern“ und zum Beispiel „für eine bessere (sprich antikapitalistische, antirassistische und geschlechtslose) Gesellschaft frei von Ausbeutung einzutreten“. [1]
Ich glaube, es braucht ebenfalls die Vorstellung einer besseren Welt, um sich distanzieren zu wollen von den Sachen, die im Hier und Jetzt nicht gut laufen (im obigen Sinne z.B. Kapitalismus, Rassismus und das patriarchale, binäre Zweigeschlechtersystem).
Und wo ich Teil von Sachen bin, die nicht gut laufen, kann es nicht nur zu Empörung, Wut und Kampfgeist kommen, sondern auch zu Scham oder Schuld.
Im Kontext von Religion sind wir hier auch ganz schnell beim Sündenbegriff.
Leider ist der Begriff „Sünde“ oft vor allem getränkt von bestimmten Inhalten, und viele dieser Inhalte wurden gesetzt von cis-männlichen und körper- und lustfeindlichen Theologen.
- Ich möchte heute zum Einen vorschlagen, den Begriff „Sünde“ von der Gleichsetzung mit bestimmten Inhalten zu lösen und stattdessen zu verstehen im Kontext bestimmter Strukturen und Dynamiken.
- Zum anderen rede ich heute als trans-maskuliner, sexpositiver Mensch aus einer Perspektive, die in der Tradition christlicher Theologie nicht gerade maßgeblich war. Was nicht heißt, dass ich das Ideal von Enthaltsamkeit austausche durch das Ideal von gewollter und praktizierter Sexualität, sondern dass mir statt fremdbestimmter Zuweisungen und dem Blick auf andere als Objekte an einem selbstbestimmten Zugang und Umgang mit (A-)Sexualität gelegen ist. Statt der Menge (egal ob möglichst gar keine Sexualität oder möglichst viel) sollte doch im Vordergrund stehen, ob und wie und warum Sexualität in meinem Leben eine Rolle spielt oder eben auch nicht.
Ich betone das deswegen, weil unterschiedliche Haltungen ja auch beim Bibellesen dazu führen, dass wir Texte unterschiedlich verstehen.
„Warum ist dir das wichtig? Welche Erfahrungen hast du gemacht? Was bedeutet das für dich? Welches Anliegen ergibt sich daraus für dich? Was verbindest du Gutes und Hilfreiches damit?“ In der MCC Köln üben wir immer mehr ein, diese Fragen mitzudenken. Das gilt sowohl dann, wenn wir etwas äußern (wie z.B. beim Predigen), als auch dann, wenn wir zuhören (z.B. bei einer Predigt): „Warum sagt die Person das, was sie gerade sagt? Und warum reagiere ich so, wie ich reagiere?“ Wenn wir im gemeinsamen Austausch hinterher nicht nur unsere unterschiedlichen Positionen mit-teilen, sondern auch von unseren unterschiedlichen Hintergründen erzählen, dann kann aus manchmal gegensätzlichen Meinungen ein gegenseitiges Miteinander werden. Wir können einander begleiten, verstehen, korrigieren, ergänzen und bereichern – nicht, weil wir alle dasselbe glauben, sondern gerade deswegen, weil die Liebe Gottes uns als Glaubende unterschiedlich anspricht und in Anspruch nimmt.
Und so ein Einüben ist eben nicht nur hilfreich bezüglich unserer Erfahrungen mit Glaubensthemen, sondern auch bei anderen Themen: Erfahrungen von Rassismus, Antifeminismus (inkl. Transfeindlichkeit) oder mit einer binären Geschlechterordnung insgesamt. Seit dem 26.10. befinden wir uns gerade in den Intersex Awareness Weeks. Auch hier sagen Einblicke in persönliche Erfahrungen manchmal mehr als große theoretische Abhandlungen, und ganz nach dem Motto „Mehr als Worte sagt ein Lied“ hören wir hierzu ein Lied. Es ist komponiert worden für unser Gemeindemitglied Ann-Katrin, und Ann-Katrin selbst singt es in dieser Aufnahme:
Lied einspielen: „Ich bin Mann und ich bin Frau“ (Ann-Katrin Gödde)
Was für unseren Umgang miteinander gilt (also dass erst unsere Erfahrungen verständlich machen, was wir äußern), gilt nun genau so für unseren Umgang mit denjenigen, deren Äußerungen in der Bibel festgehalten sind.
Eigentlich müssten wir auch Paulus erstmal fragen: „Wie kommst du zu dem, was du sagst? Was ist dir daran wichtig?“ Leider gehörte Paulus noch nicht zu der Generation, die sowas selber mit in ihre Äußerungen einbringt.
Genau so ist es mit den Generationen derer, die seine Texte seit Jahrhunderten auslegen und entscheidend geprägt haben, was wir in den Paulustexte zu lesen meinen. Auch diese (meist männlichen) Ausleger dachten nicht daran, mal darüber nachzudenken, warum sie so dachten wie sie dachten; auch von ihnen finden wir dementsprechend wenig Reflexion über den Zusammenhang ihrer Positionen mit ihren Positionierungen in ihrer Gesellschaft.
Sowohl bei Paulus als auch bei den verbreiteten Deutungen geht also verloren, dass wir es hier keineswegs mit „objektiven“ Äußerungen zu tun haben.
Deutlich wird das vielleicht am besten dadurch, dass wir mal mit einer anderen Brille auf Paulus gucken, als die oft verbreitete theologisch-christliche (weiße, cis-endo-männliche, heteronormative) Tradition das normalerweise getan hat und tut. Hierfür ist es eigentlich fast egal, welchen Aspekt wir als Rahmen nehmen – Weißsein, Heterosexualität, Zweigeschlechtersystem, Kapitalismus, …:
In allen Fällen gibt es ein weit verbreitetes und als „normal“ angenommenes Denken, das so selbstverständlich ist, dass sich alle, die da rein passen, nicht erklären müssen. Sie merken nicht mal, dass ihre Position eine Position ist. Dass es hier überhaupt ein Thema gibt, wird nur dann deutlich, wenn eine Person NICHT so ist ( NICHT weiß, NICHT hetero, NICHT Mann oder Frau, NICHT gewinnorientiert, …).
Das „Thema“ ist aber auch dann nie das Thema selbst („Hm, warum sind wir eigentlich alle heterosexuell?“), sondern zum Thema wird die Person, die das Thema als Thema thematisiert, indem sie eben „anders“ ist („Oha, Hadice ist lesbisch!“).
Und dieses Anderssein wird dann nicht nur Thema, es wird vor allem zu einem Problem („Wie können wir Hadice davon überzeugen, dass sie falsch liegt mit ihrer Homosexualität?“ statt „Wie können wir uns davon überzeugen, dass wir falsch liegen, wenn wir davon ausgehen, dass alle heterosexuell sein müssten?“).
Aus diesen Vorannahmen und „Selbstverständlichkeiten“ und dem, was sich diesbezüglich als „anders“ zeigt, lässt sich vielleicht schon einiges erschließen in Bezug darauf, was in unserer Gesellschaft oder Gemeinden strukturell einen Blick wert ist.
Ich habe mir zum Beispiel nie darüber Gedanken gemacht, dass ich weiß bin. Ich habe nie darüber nachgedacht, was es heißt, „von Weißsein betroffen“ zu sein (danke, Tsepo Bollwinkel, für diesen Begriff!).
Klar, mein Anspruch an mich selbst ist schon immer, dass ich nicht rassistisch bin! Aber dass ich trotzdem in einer Gesellschaft und einem Denken aufgewachsen bin, dass von Rassismus durchtränkt ist, geht davon ja nicht weg.
Ich habe also zwei Ebenen in mir: Mein WOLLEN ist, nicht rassistisch zu sein. Ich will hier das Gute und Richtige zu tun. Realität ist aber auch, dass meine WIRKLICHKEIT dermaßen von Rassismus durchzogen ist, dass ich ganz klar Teil davon bin (auch wenn ich es NICHT WILL). Es ist ein Jahrhunderte altes Erbe, das sich fortwährend durch die Geschichte dessen zieht, was mein Aufwachsen und Denken geprägt hat.
So. Und mit diesen Gedanken im Kopf lese ich nun Paulus – mit seiner „Erbsünde“ und seinem Ringen darum, Gutes zu wollen und Teil von etwas zu sein, dass Schlechtes vollbringt.
Kurz noch: Was für Paulus hier die Tora ist (also die Gebote Gottes, die eben nicht einfach hinnehmen, „wie es halt so ist“, sondern ständig daran erinnern, was daran problematisch ist, und darauf hinweisen, wie es gerechter und friedlicher zugehen könnte), das wären übertragen in diesem Zusammenhang dann zum Beispiel Workshops zu Rassismus und Weißsein und alles, was ich daraus mitnehme:
14Wir wissen doch, dass die Tora von der °Geistkraft bestimmt ist. Ich aber bin durch mein °begrenztes menschliches Dasein angreifbar, verkauft unter die Gewalt der Sündenmacht. 15Was ich bewirke, durchschaue ich nicht. Ich mache nämlich nicht das, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. 16Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bestätige ich damit, dass die Tora heilbringend ist. 17Jetzt! jedoch bewirke ich es nicht mehr selbst, sondern die Sündenmacht, die mich besetzt. 18Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem °begrenzten, angreifbaren Dasein, das Gute nicht wohnt. Der Wille, das Heilbringende zu tun, ist da, aber bewirken kann ich es nicht. 19Denn das Gute, das ich will, verwirkliche ich nicht. Aber das Schlechte, das ich nicht will, das vollbringe ich. 20Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bestimme ich nicht mehr selbst über mein Handeln, sondern die Sündenmacht, die mich besetzt. 21Weil mir das Böse anklebt, entdecke ich die Tora, ich, der das Gute tun will. 22Denn mit allem, was mein Menschsein im Innern ausmacht, habe ich Lust an der °Tora Gottes. 23Ich sehe aber ein anderes °Gesetz, das mit den Gliedern meines Körpers gegen das Gesetz meiner Sinne zu Felde zieht. Mit Hilfe des Gesetzes der Sündenmacht, das in allen Teilen meines Körpers gegenwärtig ist, versklavt es mich in die Kriegsgefangenschaft. 24Ich geschundener Mensch! Wer rettet mich aus diesem von den Mächten des Todes beherrschten °Dasein? 25Dank sei Gott durch Jesus, den °Messias, unseren °Befreier. Also verrichte ich nun mit meinen Sinnen °Sklavendienste für die Tora Gottes und mit meinem °Körper Sklavendienste für das Gesetz der Sündenmacht.
Brief an die Gemeinde in Rom, Kapitel 7,14-25
(Bibel in gerechter Sprache)
https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Roem/7/1/
Mir geht es nicht darum, ob Paulus diesen Text in Bezug auf mein Weißsein geschrieben hat – sicherlich nicht. Aber genau so wenig glaube ich, dass Paulus diesen Text selbstverständlich für alle männlichen Theologen geschrieben hat, die in den letzten Jahrtausenden in einer Mischung aus Selbsthass, Egozentrik und Lustfeindlichkeit auf die Idee kamen, die Trennung in (böse) Körperlichkeit und (gute) Rationalität sei der Schlüssel zum Verständnis biblischer Texte und wahren Glaubens.
Und genau angesichts dieser so unterschiedlichen Lebensperspektiven finde ich es so bemerkenswert, wie in den Äußerungen des Paulus (wie auch immer sie nun gemeint gewesen sein mochten) etwas steckt, an das sowohl der (cis-männliche, körperfeindliche) Theologe im x-ten Jahrhundert als auch ich (als trans-maskuliner, sexpositiver Mensch) im 21. Jahrhundert anknüpfen können.
Und besonders spannend finde ich natürlich die Frage, was Paulus denn damit nun als Erfahrung über seinen Glauben teilen wollte. Was hat er in all dem von, über und mit Jesus gesehen? Steckt da etwas drin, was ich auch für meine Sicht von, über und mit Jesus mitnehmen kann und möchte? Oder das mir hilft zu verstehen, ob und warum mir vielleicht eher andere Aspekte aus Jesu Leben und Wirken näher sind?
Was auch immer Paulus tatsächlich gemeint haben könnte; verstehen tue ich ihn jedenfalls so: Inmitten des „Ich-will-Gutes-bin-aber-immer-noch-ständig-Teil-eines-unterdrückerischen-Systems“ sieht Paulus in Jesus einen BEFREIER (s. Vers 25).
Ich lese Jesus als Befreier hierbei in doppelter Hinsicht:
- In dem Wirkensraum Jesu ist die Liebe Gottes gestaltend für meine Bezüge zu anderen und zu mir selbst. Es kommt nicht darauf an, dass ich immer alles richtig machen muss, damit Gutes geschehen kann. Meine Leistung ist nicht letztlich ausschlaggebend, sondern getragen und eingebettet ist alles in Gottes Liebe zu allen Menschen.
- In dem Wirkensraum Jesu verlieren auch die ganzen -ismen an Wirkungsmacht. Die in Gesellschaften (zum Teil seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden) vererbten Strukturen sind nicht mehr automatisch vorherrschend.
Vielleicht ist das am Anfang nur eine Hoffnung.
Ein Glaube.
Aber mich danach auszurichten ermöglicht es, Neues einzuüben. Wenn die Gegenwart Jesu mehr Gewicht für mein Fühlen und Handeln bekommt als vermeintlich all-so-gegenwärtige Strukturen von Entzweiung und Hierarchisierung. Unsere sonntäglichen Gottesdienste und Andachten (und unser Umgang darin miteinander und mit uns selbst) mögen in diesem Sinne Räume zum Üben und Einüben sein.
[1] „Materialistischer Queerfeminismus. Theorien zu Geschlecht und Sexualität im Kapitalismus“ von Friederike Beier (Hg.), Münster 2023, S. 11 (https://unrast-verlag.de/produkt/materialistischer-queer-feminismus/)