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Home | „Alles verfälscht! Alles geheuchelt!“ Warum sowohl der historische Jesus als auch unsere heutigen Maßstäbe für Glaubenserfahrungen nicht unbedingt weiterhelfen.

„Alles verfälscht! Alles geheuchelt!“ Warum sowohl der historische Jesus als auch unsere heutigen Maßstäbe für Glaubenserfahrungen nicht unbedingt weiterhelfen.

Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

Lk 24,13-31

Ach, wäre ich damals doch dabei gewesen. Hätte ich Jesus doch nur ein einziges Mal sehen können. Mit meinen eigenen Augen. Ihn anfassen können. Seine Stimme hören. Seine Augen sehen. Dann wäre alles viel einfacher. Viel direkter. Viel unverfälschter. Ich würde seine Worte hören können – nicht die Überbleibsel nach mündlichen Überlieferungen, kirchlicher Entscheidungsgewalt, Übersetzungen in andere Sprachen und kulturellen Übertragungen. Wäre das nicht wunderbar? Ich würde Jesus erleben, so wie er war:
– Live! Keine Erinnerungen würden Geschehenes überschreiben.
– Unzensiert! Keine Zwischeninstanz würde entscheiden, was ich zu hören bekommen darf und was nicht.
– In seiner Sprache! Keine Übersetzung würde bereits Deutungen vornehmen!
– In seinem Lebensumfeld! Keine kulturellen Missverständnisse würden mir im Verständnis im Wege stehen!
Wie nahe könnte ich Jesus dadurch sein! Wie überzeugend und mitreißend wäre seine Gegenwart. Wie leicht wäre es dann mit dem Glauben!

Ob ich ihn vor oder nach seiner Auferstehung treffen würde, wäre mir eigentlich egal. Hat beides Vor- und Nachteile. Nach seiner Auferstehung wäre natürlich cool: Wer hat schon jemals einen Auferstandenen gesehen? Und schließlich war das der Wendepunkt in der ganzen Geschichte. Vor der Auferstehung schien nach seinem Tod ja nicht gerade viel los gewesen zu sein mit seinen Anhängern und Anhängerinnen. Andererseits hat Jesus nach seinem Tod nicht unbedingt noch viel Neues gebracht. Vor seinem Tod hat er eindeutig mehr gesagt und getan. Vielleicht wäre es am besten, mit dem Wissen nachseiner Auferstehung ihn vorseiner Auferstehung erlebt zu haben. Nur dann hätte ich wohl eine Chance gehabt, alles richtig zu verstehen, richtig einzuordnen, richtig zu deuten.

Irgendwie ist es ja schon auffällig: Wie viele Leute hatten genau das, was ich mir hier gerade so sehnsüchtig ausmale, eine direkte Begegnung mit dem leibhaftigen Jesus – und sie wurden gar nicht auf der Stelle alle Christen. Anscheinend war es beileibe nicht so, dass die Präsenz von Gott als Mensch in der Begegnung mit Jesus automatisch dazu führte, dass Menschen auf die Knie fielen und Jesus anbeteten. Die reden mit ihm und essen mit ihm und sehen ihn seine Wunder tun und was machen sie? Sie fangen an, mit ihm zu streiten oder laufen ungerührt weiter. Vielleicht gucken sie kurz erstaunt, aber dann ist das Wunder auch schon vorbei, der Magen knurrt und sie latschen heim.

Vielleicht ist es gar nicht so umwerfend gewesen, Jesus zu begegnen. Stell dir mal vor, du isst mit einem Menschen, hörst ihn reden und schmatzen, gehst nach ihm auf’s Klo, liegst nachts im Nebenzimmer und hörst ihn schnarchen, und dann sollst du verstehen, dass du gerade Gott erlebst? Ist ja schon ein bisschen seltsam. Vielleicht gefällt dir sein Haarschnitt einfach nicht, oder die Art wie er läuft, oder überhaupt dass er ein Mann ist, oder du findest irgendwas an ihm unsympathisch, läufst also ganz unbeeindruckt weiter, und schon – zack – hast du leider deine Chance auf einen Small Talk mit Gott verpasst.

Oder noch schlimmer: Stell dir mal vor, Jesus beeindruckt dich. Du bist ganz hingerissen. Wie er dich anguckt. Wie er mit dir redet. Wie er dich anfasst. Was für ein Mann. Dein Herz schlägt höher. Du bekommst weiche Knie. Und zack, hast du dich in Gott verliebt. Nicht so ideell mit Wiedergeburt und ewigem Leben und alles ist ganz toll, nein: du liegst nachts wach, und immer wenn du an Jesus denkst, wird dir ganz anders. DIESES Verliebtsein. Du kannst deine Gedanken nicht von ihm lassen und hast ihn vor Augen, während du dich selbst anfasst – und da sollst du mitbekommen, dass du gerade dem Erlöser der Welt begegnet bist?!

Spätestens, wenn der davon anfängt, dass er deine Sünden vergibt, müsstest du doch skeptisch werden. Und was mit Menschen passiert, die sich Wunderheilern hingeben, hast du auch oft genug mitbekommen. Diese Gurus mit ihrem sanften Lächeln und ihrer Art, immer von der Liebe und dem Licht und dem Heil und der Erlösung zu reden. Wenn Jesus nicht diese automatische Offenbarungs-Erkennungs-Bekehrungs-Magie verbreitete, warum solltest du dann ausgerechnet bei ihm der Sache Glauben schenken?

Also doch lieber nach der Auferstehung. Mit dem Heiligenschein, so wie es die ganzen Künstler in den Bildern immer darstellen. Damit wäre ja dann wirklich alles klar. Eine Begegnung mit dem auferstandenen Jesus würde doch wirklich alle restlos überzeugen. Hier müsste nicht erst noch der Schleier des all-zu-Menschlichen durchbrochen werden. Gott offenbart sich. Direkt und unverfälscht und nah. Alles wird klar.

Lesung: Lukas 24,13-31 (Emmaus-Jünger)

Anscheinend wird auch nicht in jeder Begegnung mit dem auferstandenen Jesus alles automatisch klar. Auch diese Beiden können erst verstehen, was da eigentlich passiert ist, als sie die Situation im Rückblick ansehen. Stundenlang läuft Jesus an ihrer Seite und sie kapieren es gar nicht.

Es war ja auch nicht wirklich zu erwarten. Immerhin stecken sie nicht gerade in einer Situation, wo damit zu rechnen gewesen wäre. Im Gegenteil. Sie befinden sich auf dem Weg fort von allem, wo sie Jesus als Gott und Heiland erlebt haben. Mit jedem Schritt entfernen sie sich von den Orten und den Menschen, wo Jesus lebendig unter ihnen war. Sie sind enttäuscht und desillusioniert. Sie sind verzweifelt und traurig. Sie sind am Ende ihrer Kraft. Ihr Glaube an den Jesus, ihre Hoffnungen, alles was sie mit ihm erlebt hatten, nichts davon hat sich als tragend erwiesen:
– Jesus, der Wundertäter? Mausetot wie viele andere Wundertäter vor ihm.
– Jesus, Gottes Sohn, die Offenbarung von Wahrheit und Leben? Das Leben muss jetzt ohne ihn weitergehen.
– Jesus, der Retter von aller Unfreiheit und Unterdrückung? Gar nichts hat sich verändert!
– Die Gemeinschaft unter den Jüngern? Von allen verlassen ziehen sie vondannen.
– Der Enthusiasmus seiner Anhänger, der Einsatz in ihrem neuen Auftrag, der Glaube an ein neues Leben in grenzenloser Liebe, die alle Schranken und alles Böse überwindet? Hat sich ja alles in Luft aufgelöst.

Nun sind sie nur noch zu zweit unterwegs. Beide nicht mehr überzeugt und brennend, sondern ausgebrannt und voller Fragen, die das Geschehene in ihnen aufwirft. Hin und her überlegen sie. Versuchen, die Ereignisse zu verstehen. Versuchen, die Entwicklungen zu verarbeiten. Hatten sie sich so sehr geirrt in ihrem Glauben? Wie konnten sie den Geschichten jetzt noch glauben? Wem sollten sie jetzt noch vertrauen?

Gerade jetzt gesellt sich Jesus zu ihnen – wo sie davon ausgehen müssen, dass sie sich gerade von allem wegbewegen, was sie mit ihm verbunden hat.
Gerade jetzt gesellt sich Jesus zu ihnen – wo sie am wenigsten damit rechnen, dass es ihn überhaupt gibt.
Gerade jetzt gesellt sich Jesus zu ihnen – wo keiner von ihnen begeistert und voller Glauben an Jesus ist, wo niemand ihn enthusiastisch bezeugt und wo niemand sie mitreißt.

Gerade jetzt ist Jesus bei ihnen – und all ihre Maßstäbe, die Gegenwart Jesu in an ihrer Seite zu erkennen, versagen.
Von wegen, die Gegenwart Jesu verändert alles.
Von wegen, die Gegenwart Jesu ist unmittelbar spürbar.

Sie laufen weiter in dieselbe Richtung, sie laufen weiter in derselben Stimmung. Keine erhebenden Gefühle. Keine Änderung der Lage.
Aber Jesus hat sich zu ihnen gesellt.

Sie erkennen ihn nicht. Sie halten ihn für einen Fremden. Sie halten ihn sogar für einen Ahnungslosen. Was stellt der für Fragen! Der weiß ja gar nichts! ALLES muss man dem erst mal erklären!

Aber dann hören sie ihm zu. Und dann laden sie ihn ein zu bleiben. Und dann, jetzt erst!, erkennen sie ihn – und seine Gegenwart an ihrer Seite auch da schon, als sie sich noch von Jesus verlassen und in ihrem Glauben erschüttert wähnten. Erst im Rückblick erkennen wie, wie lange er schon an ihrer Seite war.

Es gibt nicht den unverfälschten „historischen“ Jesus. Es git nur den unverfälschten erfahrenen Jesus – für die Menschen damals und für uns heute.

1) Die beiden Emmaus-Jünger laufen weg von dem Ort, wo sie Jesus zuletzt erlebt hatten, weil sie ihn dort nicht mehr gefunden haben. Jesus war nicht da, wo Menschen ihn abgelegt hatten. Jesus war nicht da, wo sie so sicher waren, ihn zu finden. Jesus hatte sich längst in Bewegung gesetzt. Wann immer wir denken, Jesus ist genau DA und genau SO zu finden, schauen wir in ein leeres Grab.

2) Die beiden Emmaus-Jünger erkennen Jesus nicht mal, als er sich zu ihnen gesellt. Es entsprach einfach gar nicht ihren Erwartungen, Jesus da zu finden, wo sie gerade unterwegs waren. Ihre Informationen, ihre Gefühle, ihre Erwartungen hingen so an dem, was sie kannten, dass sie für diese neue Begegnung gar nicht offen waren. Dieser ahnungslose Geselle, der so wenig wusste von dem, was geschehen war, was sollte dem schon zuzutrauen sein?Wie oft laufen wir an Jesus vorbei, weil wir denken, aus unseren Erfahrungen wüssten wir, wo Jesus auftaucht und wie Jesus zu erkennen ist? Wann immer wir aufhören, denen zuzuhören, die uns vielleicht noch unbekannt sind und uns scheinbar blöde Fragen stellen, werden wir womöglich blind für den Jesus, der längst unseren Weg teilt.

3) Die beiden Emmaus-Jünger werden von Jesus dadurch berührt, dass er ihnen NEU deutet, was sie längst verstanden zu haben meinten. Wann immer wir meinen, unseren Glauben verstanden zu haben, werden wir vielleicht blind für den Jesus, der uns Neues mitteilen möchte.

4) Die beiden Emmaus-Jünger erkennen Jesus dann, als sie die Gemeinschaft mit ihm beim Brotbrechen teilen und von ihm, dem Unbekannten, annehmen, dass das Mahl eröffnet. Wann immer wir unsere Sorgen, unsere Gedanken, unsere Hoffnungen, unsere Anliegen, unsere Zeit und unsere Gemeinschaft auch da teilen, wo Gedanken oder Menschen uns fremd oder neu sind, kann Jesus uns auch neu die Augen öffnen für seine Gegenwart in unserem Leben.


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