Zum Inhalt springen
Home | Alle reden immer vom Wunder Jesu – ich wunder mich am meisten über mich selbst.

Alle reden immer vom Wunder Jesu – ich wunder mich am meisten über mich selbst.

Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

„Fass Mut, steh auf, er ruft dich!“ Mk 10,46-52 (Die Heilung eines Blinden bei Jericho)

Alle reden immer vom Wunder Jesu – ich wunder mich immer noch am meisten über mich selbst.

Ich mein, dass Jesus Wunder tut, das ist ja nun keine so große Überraschung. Das kann man bei Gottes Wirken ja wohl durchaus mal erwarten. Aber was ICH da getan habe, das hat mich wirklich selber überrascht. Ich wusste ja gar nicht, was alles in mir steckt!

Mal ehrlich: Wenn ich mich nur auf Jesus und auf die ganzen Menschen um ihn herum verlassen hätte, hätten die Wunder-Aufschreiber an diesem Tag mal so gar nix zu berichten gehabt. Und wenn ich nicht so laut geworden wäre und nicht so hartnäckig geblieben wäre, auch nicht.

Da geht’s ja schon los: Ich wundere mich, dass ich so laut geworden bin. Normalerweise bin ich ein leiser Mensch. Ich stehe ungern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber an dem Tag war mir das plötzlich egal. Es war mir egal, was die anderen von mir dachten. Es war mir egal,
ob ich im Mittelpunkt stand oder am Rand oder sonstwo,
ob ich zu einer Mehrheit gehörte oder zu einer Minderheit,
ob ich andere beeindrucken oder verärgern würde,
alles egal. Dieses eine Mal ging es nicht um die anderen Menschen – es ging um mich.

Normalerweise soll es einem ja nicht nur um sich selber gehen, war mir immer gesagt worden. Das ist selbstbezogen, egoistisch. „Nimm deine Situation an, stell dich damit nicht in den Mittelpunkt.“ Aber als ich mitbekam, dass Jesus gerade in meiner Nähe vorüberzog, war ich plötzlich wie in eine Wolke von Wahrnehmung und Mut eingehüllt. Als würde Jesus von etwas umweht sein, was die Ahnung von neuen Möglichkeiten zu mir herüberwehte. Da ging es nicht mehr um das, was schon immer so war.
Da ging es nicht mehr um das, was sich gehörte und was nicht.
Da ging es nicht mehr darum, alles mitmachen oder alles auf den Kopf stellen zu müssen.
In Jesu Gegenwart wurde ich meiner selbst gegenwärtig.
Und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass das völlig in Ordnung ist. Ja, dass ich ein Recht darauf habe, mich für mich einzusetzen.

Dass die anderen um mich herum damit auch mitbekamen, dass ich meine Hoffnungen auf Jesus setzte, konnte ich gut wegstecken. Die Jahre vorher hätte ich mir noch Gedanken gemacht: „Oh, jetzt bekommen die anderen das mit, dass ich in Jesus meinen Erlöser und Befreier sehe. Was denken die jetzt von mir? Nehmen die mich jetzt noch ernst? Lachen sie über mich, lästern sie, finden sie mich komisch?“ Andere können sich vielleicht leise und unbemerkt an Gott wenden und so weitermachen wie immer. Aber in meiner Situation war klar, dass ich meine Hinwendung zu diesem – damals ja durchaus auch skeptisch beobachteten! – Außenseiter gar nicht verheimlichen konnte.

Sollten sie es doch mitbekommen. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Auch in den Jahren davor hatten sie ja gedacht, was sie wollten. Hatten mich lieber übersehen, als sich mit mir beschäftigen zu müssen. Ausgerechnet sie, die mit ihrem Augenlicht der Meinung waren, mehr von der Welt zu sehen als ich, hatten mich so oft gar nicht wirklich gesehen! Irgendeine Schublade fanden sie irgendwie immer:
Das fing ja schon an mit der Schublade „Mann“. Wie, du hast immer noch keine Frau?, verhöhnten sie mich. Was auch immer sie sahen, aus allem schlossen sie etwas, wo sie mich hinstecken konnten: ob aus meiner Herkunft, meinem Aussehen, meiner Körperhaltung oder meiner Art zu sprechen.

Am bedeutendsten fanden sie aber natürlich die Schublade „behindert“. Nicht leistungsfähig. Überflüssig. Eine Belastung! Und nur, weil ich nicht sehen konnte, dachten sie, ich könnte auch nicht denken, nicht hören, nicht reden. Redeten lieber über mich als mit mir. Meine Stimme zählte nicht. Was ich zu sagen hatte, galt wenig. – Hallo? Nur weil ich nicht sehen konnte, heißt das doch nicht, dass ich nichts mitbekam! Es war genau so, wie es an diesem Wunder-Tag auch anfing: Kaum machte ich den Mund auf, kam die übliche Reaktion: „Sei ruhig, du störst! Was du brauchst und willst, interessiert niemanden! Dich fragt keiner, merkst du das nicht?

Natürlich merkte ich, dass keiner fragte. Wie oft war ich dann tatsächlich in Schweigen verfallen. Sagte nichts mehr. Zog mich zurück. „Hat doch eh keinen Zweck.“ Aber genau das war an dem Tag ja so anders. Plötzlich dachte ich: „Doch, es lohnt sich! Ich will, dass ihr mich hört! Ihr könnt mich nicht mehr zum Schweigen bringen!“ Also schrie ich einfach noch lauter. Ich würde so lange nicht aufhören, bis sie mich endlich nicht nur hörten, sondern mir endlich auch mal zuhörten, mich endlich mal erhörten.

Was soll ich sagen – es passierte erst mal gar nichts. Aber einer blieb dann abrupt stehen: Jesus. Jesus blieb tatsächlich stehen, weil er mein Rufen hörte. Und dann sagte er: „Ruft ihn her!“ Und ihr hättet mal sehen sollen, wie nett diese ganzen Mitläufer plötzlich zu mir waren.

Plötzlich waren andere Stimmen zu hören. Plötzlich war ich nicht mehr der nutzlose Störenfried, den sie am liebsten ignoriert hätten. Als sie nicht mehr drumherum kamen, dass sich Jesus offensichtlich sehr wohl für mich interessierte, änderte sich der Inhalt des Wortschwalls:
Statt dass ich zu hören bekam: „Vergiss es, schweig endlich!“, kam plötzlich bei mir an: „Fass Mut! Sei getrost!“
Statt dass ich zu hören bekam: „Halt dich bedeckt, bleib an deinem Platz in der hintersten Reihe“, kam plötzlich bei mir an: „Steh auf!“
Statt dass ich zu hören bekam: „Kein Mensch interessiert sich für dich!“, kam plötzlich bei mir an: „Er ruft dich!“

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hatten die alle ihre Meinung geändert, nur weil Jesus mich rief? Heuchler! So lange hatten sie mich nicht ernst genommen, und plötzlich sollten sie wirklich Interesse an mir haben?
Oder hatten einfach andere Stimmen die Oberhand bekommen, die sich vorher einfach nicht getraut hatten, sich zu mir zu stellen, oder die einfach untergegangen waren, weil es nur wenige waren?
Oder nahm ich ihr Verhalten einfach anders war? Wertete ich es anders, deutete ich es anders? Nahm ich plötzlich Ermutigung wahr, wo ich vorher nur Entmutigung gehört hatte?

Ich weiß es nicht. Ich kam auch gar nicht lange dazu, mir darüber Gedanken zu machen, denn plötzlich stand ich vor Jesus, und der fragte mich etwas, was mich noch nie jemand zuvor gefragt hatte: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“

Ich war baff. Nicht nur, dass Jesus tatsächlich mit mir redete anstatt nur über mich. Jesus fragte mich wirklich nach meinen Anliegen. Wie oft hatten andere immer genau gewusst, was das Beste für mich ist – ohne mich zu fragen, was ich überhaupt will.
Schlimm waren auch diejenigen, die mit mitleidsvoller Stimme an mich herantraten und fragten: „Darf ich für dich beten? Gott kann dir helfen!“
Äh – klar kann Gott mir helfen, und klar kannst du für mich beten, aber woher bitte schön weißt du denn, wobei Gott mir helfen soll??
Und plötzlich stand dieser Gott persönlich vor mir, und anstatt mir ungefragt und wissend-verständnisvoll die Hände aufzulegen und ein Heilungswunder über mir zu bewerkstelligen, hörte ich diese Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“

Mehr noch: Nicht mal hinterher klopft sich Jesus auf die Brust und fügt das neue Wunder seiner Referenzliste hinzu: „Mittwoch, 14 Uhr: Blinden geheilt. Kommt alle zur nächsten Heilungsveranstaltung am Freitag um 16 Uhr am Dorfbrunnen“. Nichts davon: Dass dieses Wunder geschehen konnte, sieht Jesus ganz und gar bei mir. Und ich finde, er hat Recht.
Jesus war sehr wohl klar, wie sehr ich nach ihm gerufen hatte, gegen allen Widerstand der Menschen um ihn herum, bevor sie seinen
Ruf nach mir an mich weitergaben.

Aber das, was ich da erlebt habe, hat etwas verändert. Was ich geschafft habe, können andere auch schaffen. Wenn ich heutzutage Menschen begegne, die entweder schweigend am Rand sitzen oder deren Stimme angeblich nicht zählen soll, dann spreche ich sie einfach mal an. Frage sie einfach mal, was sie wollen. Höre ihnen zu. Nehme ihre Anliegen wahr. Manchmal stellt sich dabei heraus, dass sie denselben Wunsch nach Jesus haben wie ich damals und nach neuer Teilnahme am Leben. Und dann weiß ich, was ich ihnen mit meinen Worten und meinen Taten sagen möchte: „Fasse Mut, steh auf, er ruft dich“.

Und vielleicht wundern auch sie sich dann irgendwann über sich selbst.

Skip to content