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Aktivismus, der nicht auf Wohlwollen und Zustimmung baut

Predigt, 19. Februar 2023
Ines-Paul Baumann

Das Buch des Amos 5,21-24

Zum morgigen Welttag der sozialen Gerechtigkeit *) ist die heutige Lesung aus dem Amosbuch natürlich eine Steilvorlage. Das Fehlen und Einfordern sozialer Gerechtigkeit ist hier der Dreh- und Angelpunkt für harsche Kritik an religiösen und politischen Gepflogenheiten – auch wenn bzw. weil „das Land (…) seine Worte nicht ertragen [kann]“ (Amos 6,10). Es ist damit auch ein Beispiel für einen Aktivismus, der nicht auf Wohlwollen und Zustimmung baut, sondern Konsequenzen ausspricht, auch wenn er damit rechnen muss, des Platzes verwiesen zu werden (Amos 6,10-13).

Bei Amos wird aber auch deutlich, wie problematisch eine Perspektive ist, die weitere Dimensionen von Ungerechtigkeit nicht mitdenkt. So gut das Amosbuch die materielle Ungleichverteilung wahrnimmt und anklagt, so wenig reflektiert es z.B. die Rollen von Frauen. Manche Auslegungen sehen in Amos 4,2 zwar eine Erwähnung von Frauen aus der Oberschicht als Nutznießerinnen des ungerecht verteilten Wohlstands, aber ansonsten sind Frauen (wie so oft in der Bibel) Objekte der patriarchalen Männer- und Götterwelt und werden ungefragt als Mittel männerbezogener Freude bzw. Strafe eingesetzt (z.B. Amos 7,17). Zusammen mit den oft kriegerischen und zerstörerischen Bildern des Amosbuches entsteht so ein Ton, der heutigen Gerechtigkeitsbewegungen nur schwer als Vorlage dienen kann. **) Damit zeigt es auch, wie gravierend das Fehlen von Intersektionalität soziale Bewegungen schwächt.

Allerdings müssen wir nicht zwingend mit der vorliegenden Fassung des Textes als „originale und letztgültige Endfassung“ leben. Für die Entstehung des Amosbuches wird vermutet, dass hier ein ursprünglicher Text immer wieder angepasst und ergänzt wurde, um angesichts historischer Entwicklungen seine Gültigkeit zu aktualisieren. Der in die Bibel aufgenommene und damit eingefrorene Zustand des Textes zeigt einen historischen Zwischenstand, wie er damals Gültigkeit besaß. Ihn aus heutiger Sicht zu lesen, könnte mit aufgreifen, wie relevant Überarbeitungen bei seiner Entstehung und für seine fortwährende Überlieferung waren, und diese Offenheit für Veränderungen auch bei der Auslegung mit berücksichtigen.

Wichtig wären dann um so mehr die Aspekte im Text, die sich unabhängig von den Anpassungen erhalten und als entscheidend erwiesen haben. Hier zwei davon aus meiner Perspektive:

  • Anstöße zu Erneuerung kommen nicht unbedingt von denjenigen aus einem System, die vom aktuellen Zustand profitieren.
    Hier ist es der Schafzüchter Amos, der den Job als Prophet übernimmt, weil die Propheten innerhalb des Systems längst zu sehr mit drinhängen. Anders als sie hat er zudem vor allem deswegen die Freiheit, das System nicht nur kritisch zu sehen, sondern auch tatsächlich zu kritisieren, weil sein Lebensunterhalt nicht davon abhängt.
  • Soziales Unrecht entspricht nicht dem Willen Gottes, auch wenn es „im Namen Gottes“ geschieht und befeiert wird.
    Der prophezeite „Tag des Herrn“ wird dem Unrecht ein Ende bereiten. Wenn also das noch ausstehende Verwirklichen der Gegenwart und des Willens G*ttes bedeutet, dass das Unrecht dann ein Ende haben wird, dann kann das, was aktuell an Unrecht geschieht, eben NICHT Ausdruck von Gegenwart und Willen G*ttes sein – möge es noch so sehr eingebunden sein in religiöse Strukturen und Zeremonien. Solange religiös motiviertes Tun nicht auch darin mündet, in der realen Gesellschaft an sozialer Gerechtigkeit mitzuwirken, bleibt es seinen Beweis schuldig, sich tatsächlich am „Willen Gottes“ zu orientieren.

Dass „soziales Engagement“ zu den Grundwerten der UFMCC gehört (s. https://insidemcc.org/about-mcc/what-we-believe/#mcc-core-values: „Justice“), mag uns hier Bestätigung und Ansporn zugleich sein. Allerdings bedarf es auch bei uns steter Kritikfähigkeit, vor allem bei Warnungen bezüglich z.B. rassistischer, kolonialer, misogyner, ableistischer und klassifizierender Dynamiken – und die vielleicht auch mal von Seiten geäußert werden, die nicht im Mittelpunkt der bestehenden MCC-Strukturen stehen, wie wir sie aktuell kennen und vielleicht schätzen gelernt haben.

Insgesamt gibt das Buch Amos jedenfalls Anlass zur Hoffnung – nicht nur auf in Bezug auf Systeme auf gesamtgesellschaftlicher Ebene oder Organisationen, sondern auch angesichts individueller, persönlicher Biografien:

Wenn z.B. deine Erfahrungen mit Kirche geprägt sind von einem System,

  • in dem „das Wohl aller“ zufällig fast immer auch bedeutet, dass Leitende ihre eigenen Vorteile aufrechterhalten,
  • wo „Gottes Wille“ vorrangig zur Begründung dient, Menschen kleinzuhalten,
  • wo Liturgien hauptsächlich das eigene Erwähltsein und Wohlfühlen vergewissern sollen,
  • wo Eigentum, Wohlstand und Vermögen eher Anlass sind für inbrünstiges Gotteslob als für soziales Engagement,
  • wo Geld von unten nach oben fließt, weil das zum „Dienen“ dazugehört und es dort „mehr bewirken“ kann,
  • wo Kontakt zu Außenstehenden höchstens zum Missionieren erwünscht ist, aber nicht als möglicherweise wichtiger Korrekturfaktor der gemeindeinternen Selbstbezüge,
  • und wo Menschen, die Kritik äußern, lieber weggejagt als ernst genommen werden,

dann lässt sich mit dem Amosbuch sagen: G*tt sieht dich und stärkt dich darin, dich davon abkehren und lösen zu können. Hoffe allerdings nicht, dass du diese Hilfe in dem findest, was du innerhalb des Systems kennengelernt hast. Aber vielleicht hörst du bereits diese Amos-Stimme (in dir drin oder von außen), die dir Klarheit verschafft, auch wenn ein unbequemer Weg vor dir liegt.

Mögen wir als MCC immer genug von Amos-Stimmen zu hören bekommen, um immer wieder Teil der Lösungen sein zu können, anstatt hier selbst zum Problem zu werden.

Und möge jede*r heutige Amos vor jedem Kritisieren auch selbst immer wieder wirklich erstmal auf die Stimme G*ttes lauschen – und sich nicht seinerseits irgendwann in einem System wiederfinden, in dem die eigene Selbstbestätigung, Angst vor eigenen Veränderungen, „das habe ich schon immer so gemacht“ und Unzugänglichkeit gegen äußere Korrektur- und Hilfefaktoren zu einem Selbstläufer werden. Möge in einem solchen Fall dann auch diese*r Amos eine andere Amos-Stimme an die Seite bekommen – und den Reflex des Verjagens überwinden können :)

»(…) Ich werde sie in ihren Erdboden pflanzen,
und sie sollen nicht mehr aus ihrem Erdboden ausgerissen werden,
den ich ihnen gegeben habe«,
sagt Gott, °Gott für dich.

Das Buch Amos 9,15 (Bibel in gerechter Sprache)


*) Anlässlich des Welttags der sozialen Gerechtigkeit hier ein paar Infos von der Bundeszentrale für politische Bildung zur Situation in Deutschland (passend zu einem kapitalistischen System ist natürlich auch der Maßstab an Kapital ausgerichtet; aber die Aussage spricht trotzdem für sich…):

Das Nettogesamtvermögen aller Privathaushalte in Deutschland summierte sich im Jahr 2017 auf 10,3 Billionen Euro. Die untere Hälfte der erwachsenen Bevölkerung besaß davon gerade einmal 1,3 Prozent. Die wohlhabendsten zehn Prozent besaßen rund zwei Drittel des Gesamtvermögens, dem reichsten Prozent der Bevölkerung gehörten 35 Prozent. Die Gruppe der reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung besaß sogar ein Fünftel des deutschen Gesamtvermögens.“
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/327336/welttag-der-sozialen-gerechtigkeit/ (Stand: 2021)

**) Im Austausch nach dem Gottesdienst habe ich mich davon überzeugen lassen, dass dieser Ton und das Szenario der Zerstörung durchaus seine Berechtigung haben können – nämlich in dem Sinne, dass sie zur Situation passen. Immerhin ist es das Verhalten der Gesellschaft, das zur Zerstörung führt, wenn sie sich nicht ändert (und zwar grundlegend ändert!).

 

 

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