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Wie biblische Geschichten auch für deine Lebensgeschichte [nicht] zu Gottes Geschichte werden

Predigtimpuls MCC Köln, 15. Mai 2022
Ines-Paul Baumann

Lukasevangelium 1,46-55 (Magnificat)

Vor, während und nach der Andacht am letzten Sonntag gab es tolle Gespräche. Ohne diesen Austausch gäbe es diesen Impuls so nicht. Und damit sind wir schon fast beim Punkt: Glaubensleben entwickelt sich im Miteinander. Ein respektvolles, liebevolles, ehrliches, vielfältiges Miteinander unterstützt ein respektvolles, liebevolles, ehrliches, vielfältiges Glaubensleben. Ein unterdrückerisches, unterdrückendes, angstbesetztes und einengendes Miteinander unterstützt ein unterdrückerisches, unterdrückendes, angstbesetztes und einengendes Glaubensleben.

Und umgekehrt: je nachdem, wie unser Glaubensleben geprägt ist, wird es auch unser Miteinander prägen.

Ich glaube an eine G*tt, die uns ins Leben ruft und zum Leben beruft (Genesis).
Die uns auf Wege schickt, die uns frei machen (Exodus).
Die an eine Zukunft für uns glaubt, in der mehr steckt, als im Heute sichtbar ist (Propheten & Verheißungen).
Und ich glaube daran, dass uns all dies in Jesus Christus begegnet – um uns auch heute mit hineinzunehmen in ein Leben, in dem Gott genau solche Wege mit uns geht.

Letzte Woche haben wir anlässlich des Muttertags auf die Rolle der Maria bei Jesu Geburt geschaut. Hier und an manch anderen Stellen in der Bibel wird Gott auf eine Weise dargestellt, die aus heutiger Sicht bedenklich sein kann. Die Andacht hat das in den Blick genommen. Seitdem steht die Frage im Raum, wie wir damit umgehen können: Was machen wir mit einem Bibeltext bzw. einem darin dargestellten Gott (sic, dieser Gott ist meistens männlich), der dazu beiträgt, Unterdrückung zu übersehen, zu rechtfertigen oder auszuüben?

Ich schlage vor: Wir tun das, was die Bibel selbst macht, wenn Erzähltes frag-würdig wird und nicht mehr trägt, was in Genesis, Exodus und Propheten ausgerollt wird. In der Bibel darf das Alte dann zwar weiter Platz haben – so wie in einem Tagebuch oder einem Blog einmal Niedergeschriebenes nun für immer festgehalten ist. Zurecht, es gab ja mal gute Gründe, das festhalten zu wollen. Aber wenn sich im Lauf der Zeit oder unter anderen Umständen neue Aspekte auftun, dann werden diese neuen Perspektiven daneben gestellt oder lösen selbige ab:

  • Mal führt Gott Menschen in Versuchung (1. Mose 22,1), mal nicht (Jakobus 1,13).
  • Mal bereut Gott (1. Mose 6,6; 2. Mose 32,14; 1. Samuel 15,11; 2. Samuel 24,16), mal bereut Gott nicht (4. Mose 23,19; 1. Samuel 15,2).
  • Mal vergibt Gott alles (Psalm 103,3), mal vergibt Gott nicht (2. Könige 24,3-4).
  • Mal sind die Gebote der Schrift nützlich (2. Timotheus 3,16), mal nicht (Hebräer 7,18).

In der Bibel werden zu vielen Aspekten mehrere Sichtweisen vertreten. Auch wenn sie widersprüchlich sind. Der Maßstab der Bibel ist nicht, ob alles zusammenpasst und sich auf einen Nenner bringen lässt. Der gemeinsame Nenner ist: In dem, wie eine Sache verhandelt und erzählt wird, sollen Glaubenserfahrungen weitergegeben werden, die in die Fülle des Lebens führen. Die zum Segen werden. Die Leben und Glaubensleben nähren und tragen. Die Vergangenes einordnen helfen, die das Heute tragen helfen, die eine Zukunft gestalten helfen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Geschichte der Maria, wie sie im Neuen Testament steht, damals genau dazu beigetragen hat: Damals war es vielleicht eine Geschichte der Befreiung und Ermächtigung. Damals ließ die Geschichte Gott vielleicht in einem Licht dastehen, das Glaubensleben in Menschen freisetzt (und in dem Glaubensleben Menschen freisetzt). Das Magnificat zeugt zumindest von so einem Verständnis: Es ist ja genau so geschrieben, dass das Geschehene in Marias Verständnis als befreiend und bestärkend erlebt wurde:

Und Maria sprach:
»Meine °Seele lobt die Lebendige,
und mein °Geist jubelt über °Gott, die mich °rettet.
Sie hat auf die °Erniedrigung ihrer °Sklavin geschaut. Seht, von nun an werden mich alle Generationen glücklich preisen, denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan,
und °heilig ist ihr Name.
Ihr Erbarmen schenkt sie von Generation zu Generation
denen, die °Ehrfurcht vor ihr haben.
Sie hat Gewaltiges bewirkt.
Mit ihrem Arm hat sie die auseinander getrieben,
die ihr °Herz darauf gerichtet haben,
sich über andere zu erheben.
Sie hat Mächtige von den Thronen gestürzt und
°Erniedrigte erhöht,
Hungernde hat sie mit Gutem gefüllt
und Reiche leer weggeschickt.
Sie hat sich Israels, ihres Sklavenkindes, angenommen
und sich an ihre Barmherzigkeit erinnert,
wie sie es unseren °Vorfahren zugesagt hatte,
Sara und Abraham und ihren Nachkommen für °alle Zeit.«

Lukasevangelium 1,46-55 (Bibel in gerechter Sprache)

Der Gott, den Maria in dieser Geschichte erfährt, ist befreiend und agiert GEGEN unterdrückerische Strukturen. Aber was, wenn wir beim Lesen der Geschichte heute eine andere Erfahrung machen? Was machen wir dann mit dieser Geschichte? (Oder mit anderen Geschichten in der Bibel, die in uns einen engführenden Glauben bewirken und ein Gottesbild stärken, das Unterdrückung mitträgt und ausübt?)

Erinnern wir uns an die Bibel: Sobald Geschichten bei der Wahrnehmung eines befreienden Gottes eher hinderlich wurden und dem im Weg standen, dann wurden sie eben anders erzählt. Diese Entwicklung ist auch in den Evangelien zu sehen. So manches aus dem Markus-Evangelium stellt sich bei Lukas und Matthäus schon ganz anders dar. Das Johannesevangelium spricht nochmal eine ganz andere Sprache – von derselben Geschichte wohlgemerkt: In Jesus zeigt sich G*tt. Aber um diese Geschichte zu erzählen, ändern die Evangelien schon mal die Geschichten, mit denen sie das erzählen. Nur ein Beispiel von vielen: Im Markus-Evangelium dürfen die Männer im Zwölferkreis um Jesus herum rundherum menschlich sei; später werden sie viel glattgebügelter dargestellt (z.B. Markus 10,35 zu Matthäus 20,20). Warum? Beides wird dazu gedient haben, die Geschichte der Offenbarung Gottes in Jesus so weiterzutragen, dass die Geschichte Jesu für die Zuhörenden zum Segen werden kann.

Auch Jesus selbst handhabt die Schrift mit diesem rückfragenden, weiterdenkenden Blick. Jesus bleibt nicht beim Geschriebenen stehen, sondern bietet neue, zeitgemäße Zugänge und Interpretationen an (z.B. „Es steht geschrieben… Ich aber sage euch…“):

In der Bibel wird also sowohl von Menschen als auch von G*tt durchaus unterschiedlich(es) erzählt. Die Bibel bewahrt damit die Geschichte Gottes vor unterdrückerischen, unterdrückenden, angstbesetzten und einengenden Tendenzen.

Wenn also wir nun biblisch mit den Geschichten in der Bibel umgehen wollen, dann können, sollen und müssen auch wir vielleicht so manches darin anders einordnen und anders erzählen als es dort dargestellt ist. Wenn eine Geschichte für uns nicht mehr abbildet, wofür Jesus steht und was Jesus von G*tt offenbart – dann haben wir eine biblische Freiheit (wenn nicht sogar Verantwortung), diese Geschichte neu einzuordnen, neu zu befragen, neu zu interpretieren und neu zu erzählen. Damit auch heute wieder der Jesus aufscheinen möge, der die Lebensverheißungen Gottes offenbart. Damit wir auch heute in unserem Leben und Glaubensleben ein respektvolles, liebevolles, ehrliches, vielfältiges Miteinander erfahren und erfahrbar machen können. Für uns selbst und füreinander.

 

 

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