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Verwundeter Gott

Predigt MCC Köln 3. April 2016
Ines-Paul Baumann

Johannes 20,19-29: Der „ungläubige“ Thomas

Die biblischen Texte (und viele Menschen in vielen Kulturen seitdem) haben sich viele Bilder von dem auferstandenen Jesus gemacht. Diese Bilder sind vielfältig, widersprüchlich, unterschiedlich. Aber immer wieder gehört zu diesen Bildern, dass Jesus seine Verletzungen mit sich herumschleppt.

Der Auferstandene hat den Tod überwunden. Der Auferstandene kann Wände überwinden. Unvermittelt tritt er vor den Jüngern in Erscheinung, obwohl sie sich hinter geschlossenen Türen verschanzt hatten. Nichts, so scheint es, kann diesen Jesus mehr aufhalten. Strahlend erhebt er sich als Sieger über den Tod und Todesmächte.

Und doch schleppt dieser Sieger etwas mit sich herum, was ihn nun sein ewiges Leben lang begleiten wird: die Wundmale in seinen Händen und in seiner Seite. Alles kann er überwinden – aber seine eigenen Verletzungen schleppt er weiter mit sich herum.

Auch Thomas will Jesus nicht einfach so sehen und berühren – er will ausgerechnet Jesu Wundmale sehen und berühren.

Offenbar sind es genau diese Wundmale, die Jesus nun als den ausweisen, der er ist und war. Die Wundmale sind eingeschrieben nicht nur in Jesu sterblichen Körper, sondern auch in seinen auferstandenen Leib. Diese Wundmale wird Jesus nie wieder los.

In der Dreieinigkeit sind Gott-Vater und der Heilige Geist nun also nicht nur in Gemeinschaft mit Jesus, sondern auch mit Jesu Wundmalen. Ständig haben sie vor Augen, was Jesus angetan wurde.

Das ist eine bemerkenswerte Anerkennung des Leids, das Menschen anrichten.

Gott hat es ständig vor Augen. Und in Jesus ist es Teil von Gottes Wesen geworden. Dieser Gott ist seit Jesu Kreuzigung und Auferstehung ein Gott, der Verletzungen mit sich herumschleppt. Ja sogar einer, der anhand seiner Verletzungen erkannt werden kann. Dessen Verletzungen ihn glaubhaft machen. Die ihn glaub-würdig machen.

Dieser Gott weiß, was Verletzungen aus einem machen können. Verletzungen, die weh tun. Die uns angetan werden. Die sich in uns einschreiben. Die mich prägen. Die Teil meiner Geschichte sind, die Teil meines Wesens geworden sind.

Der Gott des Heils, der Heilung und der Heiligung ignoriert diese Verletzungen nicht. Er geht nicht einfach darüber hinweg und tut so, als wäre nichts gewesen. Er macht nicht einfach alles gut, damit ich alles hinter mir lassen kann.

„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!“, bekennt Paulus (in 2. Kor. 5,17) als einer der ersten, nachdem er in der Zuwendung Jesu ein neues Leben begonnen hat – und er meint damit nicht nur ein Leben mit einer neuen Ausrichtung, sondern begreift sich selbst als „neue Kreatur“. Als Erbe der Auferstehung. Als Lebender, dessen Leben nun auf ewig mit Gott verbunden ist.

„Das Alte ist vergangen, alles ist neu geworden.“ Die Wundmale Jesu zeigen uns, dass das Alte im Neuen nicht vergessen ist. Es ist vergangen, weil es im Neuen enthalten ist. Die Wundmale sind da – aber sie bluten nicht mehr. Ihre alte Todeskraft ist vergangen, weil die Kraft de Lebens sie nun mit einschließt und sie verschließt. Sie haben ihre Macht verloren – aber sie sind im Neuen enthalten.

Das mag für manche ungeheuer tröstlich sein. Manch andere mag das aber auch ungeheuer untröstlich stimmen.

Wann sollen wir denn gänzlich heil werden, wenn nicht mit dem Tod? Sollen auch wir unsere Verletzungen tatsächlich ein ewiges Leben lang mit uns herumschleppen?

Was ist mit den Narben meines Trans-Körpers, bleiben die ewig in mich eingeschrieben?
Was ist mit meinen ausgemergelten Freunden, die an AIDS gestorben sind? Bleiben sie auf ewig ausgemergelt?
Was ist mit den verkrüppelten und vergifteten Opfern von Tretminen und Giftgas?
Mit denjenigen, die an den Grenzzäunen Europas und im offenen Meer verhungert, erfroren und ertrunken sind?
Mit dem Krebs, der eine von innen zerfressen hat?
Mit den Pulsadern, die sich eine Verzweifelte aufgeschnitten hat?

Kann nicht wenigstens der Tod uns erlösen von all dem Leid, das in uns eingeschrieben ist, auch körperlich? Wann sollen wir denn ganz und heil werden, wenn nicht nach dem Tod?

Soll das Leid etwa anhalten und bleiben dürfen? Sollen wir dann etwa auch auf Erden nichts mehr dagegen tun, nach dem Motto: Was seinen Platz hat bei Gott, hat nun mal auch seinen Platz auf Erden? Wenn es eh in Ewigkeit bleibt, warum sollten wir es überhaupt bekämpfen?

Im Gegenteil. Die Wundmale Jesus sind eine ständige Erinnerung, dass wir das Leid eben nicht verdrängen, vergessen und ignorieren dürfen. Das Leid ist mitten in unserer Welt, genau so wie es mitten in Gott ist. Was Gott ständig vor Augen hat, davor können wir nicht einfach die Augen verschließen. Die Wundmale Jesu in der ewigen Welt sind genau so wie alle Wundmale in dieser Welt eine fortwährende Klage und Anklage. Sie erinnern und rütteln auf. Genau wie Gott müssen wir das Leid wahrnehmen und die Leidenden annehmen.

Die Wundmale des Auferstandenen sind kein Zeichen dafür, dass uns das Leid endlos quälen darf. Sie sind ein Zeichen genau dafür, dass das Leid überwunden wird, anstatt dass es uns überwindet.

Die Wundmale des Auferstanden bezeugen ein Leiden, das zum Tod geführt hat, ja. Und das Leben in der Auferstehung kennt (und anerkennt) dieses Leiden. Aber es ist kein Leiden mehr, das trennt. Auch unsere Verletzungen können uns nicht mehr abhalten von der heilsamen Gemeinschaft mit Gott, mit uns selbst und mit einander, in die uns die Auferstehung ruft.

Die Wundmale sind noch da. Aber sie nehmen Jesus nicht mehr das Leben. Sie quälen ihn nicht mehr, sie halten ihn nicht mehr auf, sie schränken ihn nicht mehr ein, sie schließen ihn nicht mehr aus vom Leben in Fülle. Sie trennen ihn nicht mehr von seinen Geliebten – stattdessen verbinden sie ihn nun mit ihnen.

Genau so werden auch die Verletzungen, die wir mit uns herumschleppen, uns nicht mehr abhalten können von dem Leben, das uns verheißen ist. Sie haben ihren Platz, sie nehmen uns aber nicht mehr den Raum zum Atmen und Leben.

Gott reicht uns ihre Hand – TROTZ und MIT den Leiden, die in uns eingeschrieben sind. Nicht mehr nehmen sie uns mit in den Tod – sondern wir nehmen sie mit in das Leben, in das Gott uns ruft.

Die Erinnerung an das Leiden gehört mit hinein in die Zuwendung Gottes.
Die Geschichte, die sich eingeschrieben hat in die Körper, gehört mit hinein in die Erlösung, in das Geborgen-Werden und das Geborgen-Sein.
Was uns gezeichnet hat, gehört mit hinein in die Wendung, wo Gott uns ins ewige Leben ruft.
Wir nehmen sie mit, unsere Verletzungen – aber nicht, damit sie uns weiter quälen dürfen, sondern damit auch sie vor das Angesicht Gottes kommen. Damit auch sie Gott schauen.

 

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