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Spiritualität und (A-/)Sexualität

Predigt MCC Köln 9. Okt. 2016
Ines-Paul Baumann

1. Thessalonicher 4,1-8: „Ermahnung zur Heiligung“

Heil, Heilung und Heiligung können nicht heilsam vonstattengehen, solange ich meine Sexualität leugnen und unterdrücken muss. Es ist NICHT „Wille Gottes“, wenn der Wille anderer mein geistliches oder mein sexuelles Leben bestimmt, kontrolliert und verengt. Das kann viele Formen annehmen:

  • Wenn ich keinen Sex haben will, dann darf ich nicht dazu gezwungen werden.
  • Wenn ich Sexualität leben will, darf mich niemand dazu zwingen, das zu verleugnen oder in die Heimlichkeit zu drängen.
  • Auch in der Frage, MIT WEM und WIE ich meine Sexualität teile, darf ich nicht nur von Fremdbestimmung abhängig sein.

Respekt und Achtung voreinander und zu mir selbst sind die Kriterien, die meine Entscheidungen leiten sollen, nicht die Erwartungen anderer.

Heilung und Heiligung im Angesicht von Gottes Liebe bezieht ALLES von mir ein. Sie geschieht nicht da, wo ich Teile von mir dem Angesicht Gottes zu entziehen versuche, sondern wo ich alles von mir in Gottes Gegenwart mitbringen kann. Mein Weg als geistliches Wesen und mein Weg als (a-/)sexuelles Wesen gehören zusammen. Gott schenkt mir in ALLEM Zuspruch, Heil, Liebe und Befreiung. Gott heiligt mich, nicht an meinem körperlichen Leben vorbei, sondern auch in und durch und mit meinem körperlichen Leben.

Heute feiern MCC-Gemeinden weltweit den ersten MCC-Gottesdienst am 6. Oktober 1968. Seitdem versuchen wir, unseren Umgang mit Spiritualität und mit Sexualität zusammenzudenken. Und ausgerechnet heute schlagen die Losungen diesen Text als Predigttext vor :)

1 Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus – da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut –, dass ihr darin immer vollkommener werdet.
2 Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus.
3 Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unzucht
4 und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung,
5 nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen.
6 Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben.
7 Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung.
8 Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.

  1. Thess. 4,1-8

Als ich im Alter von mit 17 Jahren zum Glauben gekommen bin (lange bevor ich MCC kennenlernte), war GANZ KLAR, was in diesem Text steht: „Spiritualität ODER Sexualität“, das war das Motto.

Mir kam das damals sehr gelegen. Ich hatte überhaupt gar keine Lust darauf, dass mein weiblicher Körper als „Gefäß“ einer männlichen Lustbefriedigung dienen sollte. Was Paulus so großzügig anbietet für diejenigen, die halt nicht anders können, erschien mir als genau das: eine Notlösung für die Schwachen.

Es war äußerst praktisch, meine eigenen Probleme in Bezug auf Sexualität dahinter verstecken zu können. Ein guter Christ braucht keinen Sex. Ein richtig guter Christ braucht nicht mal eine Beziehung! In einer renommierten christlichen Zeitschrift las ich: Beziehung ist was für Leute, die ihre Lebenslügen miteinander teilen. Ich lachte mir in mein hochnäsiges Fäustchen und dankte Gott, dass ich besser war.

Ich hatte die Rechnung aber ohne meine Mitchristen gemacht. Um mich herum wimmelte es nicht von selbstbewussten Singles, die sich ganz dem Herrn hingegeben hatten. Ich war umgeben von Kleinfamilien, die einen Kleinwagen fuhren und ihr eigenes kleines Reihenhäuschen hatten. Die Rolle der Frau in diesem Konstrukt war klar. Und so gläubig ich auch war: Ich konnte nicht glauben, dass DAS auch mein Lebensweg sein sollte.
Dass „ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung“ – in diesem Vorschlag das Objekt der Begierde zu sein schien mir wenig begehrenswert.

Schon bald entdekcte ich, dass umgekehrt schon eher ein Schuh daraus wurde: „Ein jeder von uns soll seine eigene Frau zu gewinnen suchen“? OK, dann mal los! Leider galt dieser Bibelvers aber mal NICHT ALLEN Christen, sondern nur den männlichen. Naja, mir und einer anderen Frau aus der Gemeinde war das egal; wir suchten und fanden einander und hatten ganz wunderbaren Sex mit unseren wunderbaren „Gefäßen“.

Auch wenn ich überhaupt kein schlechtes Gewissen hatte, war doch relativ klar, dass der Rest der Gemeinde das kaum so wundervoll finden würde wie ich.

Als ich nach Köln ging, ließ ich die Gemeinde hinter mir. Was hatte ich gelernt?
1) Was in der Bibel steht, ist sehr unterschiedlich je nach Blickwinkel, aus dem mensch es liest.
2) Mein sexuelles Erwachen ist für Gemeinden weniger ein Grund zum Feiern als mein spirituelles Erwachen (obwohl es recht zeitgleich einherging und mich gleichermaßen erfüllte).

Zur Begründung dieser unterschiedlichen Bewertung in christlichen Kreisen war der heutige Predigttext eine Steilvorlage. „Da steht‘s doch: Sexualität heißt, dass der Mann das Recht hat auf eine Frau. Der christliche Mann tut das natürlich auf liebevolle Weise. Entzieh dich nicht dem Willen Gottes.“
Naja – die Interpretation, dass Sexualität und Spiritualität nicht zusammenpassen, war mir da sogar lieber.

Dann kam MCC, und im Angesicht dessen, was ich dort mitbekam, entfaltete der Text andere Aspekte. Stand da wirklich, dass Sexualität und Spiritualität nicht zusammenpassen? Oder geht es vielmehr darum, dass UNZUCHT und Spiritualität nicht zusammenpassen? Solange ich also nicht Sex gegen Bezahlung habe und mich halbwegs im Zaum halte, darf Sexualität sehr wohl Teil meines Lebens sein?

Ja, so konnte ich den Text auch lesen, und das war doch schon mal ein recht befreiender Zwischenschritt – vor allem den biblischen Texten gegenüber. Ich begann zu begreifen, WIE SEHR unsere kulturelle Prägung unseren Blick auf Bibeltexte prägt. Klar, Sklavenhaltung befürworten wir nicht mehr, da war die Bibel halt Kind ihrer Zeit. Aber dass der Mann das Recht hat auf eine Frau als Gefäß, das ist zeitloses Wort Gottes? Nein. Widersprüche zu meiner Kultur können nicht nur bezüglich der Haltung von Sklaven angemessen sein, sondern auch bezüglich einer patriarchalen Haltung Frauen gegenüber.

Nun wäre MCC nicht MCC, wenn es dabei geblieben wäre. Bis hierher hatte ich immerhin noch handfeste Maßstäbe für gut und böse. Ich las den Predigttext zwar anders als früher, aber wir konnten immer noch gute Freunde werden: Unzucht und Sex gegen Bezahlung, das sind doch klare Grenzen.

Sex gegen Bezahlung, das ist doch klar zu definieren: Hier geht es um Leute, die Sex haben, um etwas dafür zu bekommen:
Geld…
Sicherheit… Anerkennung…. Eine Beziehung… Eine Familie… Das Gefühl, geliebt (oder wenigstens begehrt) zu werden….
Wie viele Menschen lassen sich auf Sex ein, um dafür etwas zu bekommen? Sex, ganz „bezahlungsfrei“ – wo findet der statt? Wie viele Erwartungen haben wir so verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr als Erwartung empfinden? …
Die Grenze, die ich so lange ziehen zu können meinte, fiel. Sex „gegen Bezahlung“, das ist ein weites Feld. Und wer, bitte schön, soll darüber richten?

Heute lese ich den Predigttext mit größerem Misstrauen. Steht da wirklich, dass Menschen, die sich auf Sex einlassen, um etwas dafür zu bekommen, ausgeschlossen sind von Gottes Liebe? Steht da wirklich, dass es OK ist, wenn Menschen andere „für sich zu gewinnen suchen“, um sie unabhängig von deren eigenem Verlangen als „Gefäße“ zu benutzen?

Mit diesem Misstrauen gehe ich nochmal an den Text heran. Und siehe da, ich mache neue Entdeckungen.

„Lust“ (Vers 5: „nicht in gieriger Lust wie die Heiden“)

  • Hier wird dasselbe Wort verwendet wie ein paar Verse zuvor, wo Paulus seine „Lust“ zu den Briefaddressaten artikuliert: „Wir aber, liebe Brüder, nachdem wir eine Weile von euch geschieden waren – von Angesicht, nicht im Herzen –, haben wir uns umso mehr bemüht, euch von Angesicht zu sehen mit großem Verlangen.“ (2,17). Was in Kapitel 2 für reine, heilige Verlangens-Lust steht, steht in Kapitel 4 plötzlich für unreine, unheilige Unzucht-Lust? (Oder wirft die Unzucht-Lust in Kapitel 4 ein ganz neues Licht auf Paulus‘ Verlangens-Lust zu seinen Brüdern in Kapitel 2? …)

„Gefäß“ (Vers 4):

  • In 1. Petr 3,7 werden beide Geschlechter mit diesem Wort bezeichnet.
  • Das hier verwendete Wort ist im griechischen grammatikalisch männlich
  • Es kann auch meinen: der eigene Körper. Diese Bedeutung ist verbreiteter im Griechischen.
  • Die Bedeutung als „Frau“ oder „Gattin“ ist verbreiteter im Jüdischen.
  • Paulus selbst benutzt sonst ein anderes Wort für „Frau“.
  • Gemeint kann auch sein: „the sexual organ specifically“

Es gibt also tatsächlich ganz unterschiediche Übersetzungsmöglichkeiten. In deutschsprachigen Bibeln schägt sich das nieder; hier ein paar Beispiele:

  • Luther: „dass ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung“
  • Einheitsübersetzung: „dass jeder von euch lernt, mit seiner Frau in heiliger und achtungsvoller Weise zu verkehren“
  • Zürcher Bibel: „dass jeder von euch in Heiligung und Würde mit seinem Gefäss, dem Leib, umzugehen wisse“
  • NGÜ: „Jeder von euch muss lernen, Herr über seine Triebe zu sein“

Vers 4 könnte also auch meinen: Geht bewusst mit eurer Sexualität um. Unterdrückt und verleugnet euch nicht solange, dass sie unkontrollierte Wege geht.

Vers 6 passt dazu und könnte der Schlüssel zu Paulus‘ Anliegen sein: „Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder.“
Der andere ist nicht dafür da, meinem Vorteil zu dienen.
Der andere ist nicht dafür da, von mir ausgenutzt zu werden.
Der andere ist nicht dafür da, von mir benutzt zu werden.

Benutzt niemanden als VERACHTENSWERTES „Gefäß“, nicht Frauen, nicht Männer, nicht eure eigenen Körper.
„Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt“, fährt Paulus fort. Gott achtet uns. Auch wir können und sollen einander und uns selbst achten – und entsprechend miteinander umgehen.

Ich lese das heute so: Missachtung oder Hochachtung machen sich nicht daran fest, ob und mit wem ich Sexualität teile. Ich kann Sex haben oder auf Sex verzichten – und gleichermaßen keine Achtung vor mir und anderen haben. Umgekehrt gibt es viele Möglichkeiten, Achtung voreinander und vor mir auch in meinem Umgang mit Sexualität zum Ausdruck zu bringen.

Wenn sich mein Glaube nicht auch da bewährt, wo es um Sexualität geht, da ist Gottes Liebe nicht tragend. Wenn ich behaupte, Gott zu achten, dann muss das auch Ausdruck finden in der Achtung anderer und meiner selbst – Sexualität mit eingeschlossen.

Ob Paulus selbst das schon genau so gemeint hat? Keine Ahnung. So manche Übersetzer würden sicher nicht meiner Meinung sein ;) Aber sowohl Paulus als auch sie versuchten, Gottes Willen innerhalb ihrer Kultur wahrzunehmen und zu deuten. Das verbindet uns.
(Und wer weiß, was Paulus mit seinem Pragmatismus – „naja, wenn es halt nicht anders geht, dann macht es halt so“ – heute sagen würde.)

Danke, MCC, dass du mich zu diesem Weg eingeladen hast. Herzlichen Glückwunsch zum 48. Jubiläum!

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