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Müssen wir heute Jesu Meinung ändern?

Predigt MCC Köln, 17. August 2014
Ines-Paul Baumann

Mt 15,22-28: „Die kanaanäische Frau“

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ist schlimm genug, aber unter Gläubigen wird sie auch noch göttlich überhöht.

Hast du schon mal gesagt bekommen (oder glaubst du selbst), dass manche Menschen das Heil Gottes nicht erfahren können,
1. weil sie ein bestimmtes Merkmal haben (oder nicht haben),
2. und weil das „so in der Bibel steht“?

Gibt es Anteile IN DIR, die aus deiner Sicht „kein Recht“ auf das Heil Gottes haben?

Was ist das „Problem“-Thema?

Im heutigen Predigttext geht es um eine Frau aus Kanaan. Sie hat angeblich „kein Recht“ auf das Heil, das Jesus bringt. Das Merkmal, das ihr fehlt: Sie ist keine Jüdin.

Unabhängig davon, ob es sich um Homosexuelle, Geschiedene, Drogenkonsumenten, Ehebrecherinnen, Ungetaufte oder Depressive handelt: Beim Umgang mit Menschen, die „kein Recht auf Heil“ haben, lassen sich meistens zwei Phänomene beobachten.

1) „Du sollst (nicht) …“

„In der Bibel steht…!“, so fängt das erste Phänomen meistens an. Und dann wird irgendein Vers zitiert, vorzugsweise aus dem Alten Testament, der „beweist“, dass die Person mit diesem Merkmal (oder ohne dieses Merkmal) nun mal leider nicht vor Gottes Willen bestehen kann.

Auch in Bezug auf die Frau aus Kanaan fände sich ein „passender“ Vers:

„Vielmehr sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat,
damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt.“

(Dtn 20,17)

2) „Als Christen müssen wir nett zu ihnen sein.“

Das zweite Phänomen bezieht sich selbstverständlich auch auf die Bibel. Ausgangspunkt ist dieses Mal allerdings das Gebot der Liebe:

„Sie haben kein Recht auf Heil, aber als Christen müssen wir nett zu ihnen sein.“

(Manche ‚tolerante‘ christliche Gemeinde
zum Umgang z.B. mit Homosexuellen)

3) Jesus selbst setzt Voraussetzungen.

Im Predigttext findet sich diese beiden Phänomene nicht. Die Frau aus Kanaan bekommt weder das „Du sollst (nicht)“-Zitat zu hören, noch wird sie mit der mitleidigen Selbstgewissheit der ach-so-Toleraten bedacht. Damit wäre in manchen christlichen Kreisen schon mal viel gewonnen.

Aber im Predigttext öffnet das nur den Raum für etwas noch Schlimmeres. Jesus selbst sagt: „Zu dir bin ich nicht gesandt.“ Dir gilt meine Botschaft nicht. Du hast kein Recht auf das Heil, das ich bringe. Dir fehlt ein Merkmal: Du bist „keine von uns“.

(Wenn Jesus denkt, er sei „nicht zuständig“ für sie – tut er das mit dem Wissen darum, dass es andere Religionen gibt, denen sie sich zuwenden kann bzw. sogar soll? Sind Christen, die heute so drauf sind, „die Falschen“ abzuweisen, wenigstens dankbar dafür, dass es andere Religionen gibt, die ihren Job übernehmen??)

So wie heute in manchen Kreisen hat sich auch damals niemand darüber gewundert, dass der kanaänitischen Frau kein Heil zustehen sollte. Das war allen geläufig, das war selbstverständlich, das war eben so. Jesus outet sich hier als ganz normaler Zeitgenosse. Und wie die meisten Menschen, die auch heute andere zurückweisen, tat er das voller Selbstgewissheit und im Vertrauen darauf, auch hier „im Namen Gottes“ zu handeln.

Nur weil wir heute mit „das-geht-ja-gar-nicht“ auf das reagieren, was Jesus hier sagt, war das damals noch lange nicht so. Das ist genau das Problem mit den Selbstverständlichkeiten: dass sich keine/r drüber aufregt.

Der Clou der Geschichte liegt durchaus darin, dass Jesus nicht an seiner Meinung festhält, sondern sich überzeugen lässt (und zwar nicht vom Papst oder von einer guten Predigerin, sondern von der „falschen“ Person selbst!). Wo sind all die Christen, die es ihm gleich tun, und sich von denen, die sie abweisen, eines Besseren belehren lassen?

Sowohl die biblischen Gebote als auch die gesellschaftlichen Gepflogenheiten treten nun in den Hintergrund und werden überwunden. Es gibt etwas, das noch wichtiger ist: nämlich das Heil Gottes, das auch der Frau zusteht, die nicht „die richtigen Voraussetzungen“ dafür erfüllt.

Jesus vollzieht diesen Wandel in seinem Denken und in seinem Handeln. Er stellt den bedingungslosen Zugang zum Heil, das er bringt, über biblische Gebote und über den Zeitgeist. Das ist der inhaltliche Knackpunkt dieser Geschichte.

Aber was heißt das eigentlich in Bezug auf das, was wir von Jesus zu kennen meinen?

Müssen wir heute Jesu Meinung ändern?

Die erste Reaktion Jesu auf die Frau zeigt: Auch Jesus war in seinem Denken und Handeln von seiner Umwelt geprägt. Und dann sind auch Jesu Aussagen über Gottes Reich geprägt von seiner Umwelt.

  • Jesus ist nicht einfach vom Himmel gefallen und hat unberührt von seiner Zeit „die Offenbarung“ mitgebracht.
  • Jesus hat sich auch nicht nur deswegen auf die Sprache und die Vorstellungen der damaligen Kultur quasi einlassen müssen, um sich darin verständlich zu machen.

Jesus war in seinem Denken und Handeln nicht nur Sohn Gottes, sondern auch ein Kind seiner Zeit.

Seine Auseinandersetzung mit der Frau aus Kanaan ist genau deswegen in der Bibel gelandet: Das war ein Thema zu der Zeit, als die Bibel zusammengestellt wurde. Ob Jesu Botschaft auch den Menschen gilt, die nicht aus dem Judentum kamen, wurde früh debattiert. Die Frage war extrem wichtig für die ersten Christen. Sie war von praktischer Bedeutung – weil ein gesellschaftlicher Wandel stattfand. Leute, die nicht aus dem Judentum kamen, wollten sich dem Christentum anschließen. Die theologischen Debatten reagierten also auf einen Wandel in der Gesellschaft. Deswegen wurde der Predigttext aufgeschrieben und überliefert.

Aber was ist mit den Aspekten, die erst Jahrhunderte später einem gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt waren? Zu denen in den Evangelien vielleicht keine Geschichten zu finden sind, in denen Jesus seine Meinung ändert?

Frauen sind heute immer noch nicht in allen Kirchen gleichberechtigt.
Der Umgang mit Homosexuellen ist immerhin im Wandel.
Selbst das Gottesbild in unserer Gesellschaft ist im Wandel.

Woher sollen wir also wissen, welche Aussagen Jesu beeinflusst waren von seiner Umwelt, so wie gegenüber der Frau aus Kanaan? Und woher sollen wir wissen, welche Aussagen Jesu „auf immer“ Bestand haben, egal was unsere Gesellschaft gerade denkt?

Vielleicht wird an diesem Punkt der inhaltliche Knackpunkt der Geschichte so wichtig. Wenn Jesus sich darauf einlässt, dass sogar die Gebote und Gepflogenheiten in den Hintergrund treten müssen, damit das Heil auch der Frau aus Kanaan offensteht – dann haben wir hier unseren Schlüssel vielleicht schon gefunden.

Wenn „sogar“ Jesus selbst seine Aussagen revidieren muss unter diesem Gesichtspunkt (= „Barrieren zum Heil sollen keinen Bestand haben“), warum sollten dann nicht auch wir die Aussagen Jesu unter diesem Gesichtspunkt betrachten? Warum sollten dann nicht auch wir mal etwas anders verstehen, als wir es bisher für selbstverständlich „christlich“ erachtet haben?

Ein Beispiel:
Viele Menschen fragen sich heutzutage, ob Gott wirklich eine Person ist, die von außen alles sieht, alles bestimmt und alles tun kann, was sie will (wenn sie denn wollte, denn oft passiert entweder gar nix oder nur Schlimmes). Immer weniger Menschen glauben an so einen Gott als „Person“. Sie haben aber sehr wohl Zugang zu Gott als Quelle des Lebens, als mutmachende Kraft, als Gemeinschaft stiftende Geistkraft. Auch viele dieser Menschen sehen in Jesus Christus das Zentrum ihres Glaubens. Auch sie glauben, dass Jesus Christus in besonderer Weise das Reich Gottes offenbart.

Vielen von ihnen wird aber abgesprochen, „wahre“ Christen zu sein. Gott MUSS eine Person sein – hat nicht Jesus selbst uns gelehrt, zu Gott als „Vater“ zu beten?

Ja, aber woher wissen wir, ob Jesus genau an diesem Punkt eine zeitlos gültige Aussage über das Wesen Gottes getroffen hat – oder einfach zeitbezogen im Rahmen seiner damaligen Umwelt agiert hat und das damalige Denken aufgegriffen hat? Das könnte er doch aus zwei guten Gründen getan haben: Erstens weil er selber Kind dieser Zeit war, und zweitens um sich in seiner Zeit verständlich zu machen. Aber wenn sich die Zeit seitdem nun mal verändert hat?

  • Wenn Menschen heute es nicht mehr schaffen, das Vater-Bild positiv zu besetzen…
  • wenn heute nicht Gott allmächtig und allwissend ist, sondern Google…
  • wenn Gott als Person gedacht für Menschen darauf hinausläuft, dass Gott tot ist…

… dann soll das Menschen vom Heil Gottes ausschließen, nur weil sie sich nicht dem Denken unterwerfen, das Kirchen seit 2000 Jahren unverändert in dogmatische Festungen gegossen haben?

Steht das Heil also doch nicht allen zu, die sich an Jesus Christus wenden – sondern nur denen, die das passende Vokabular und die passenden Denkschablonen aufsetzen können?

Jesus selbst ändert sein Denken, damit diese Frau Zugang zum Heil finden kann. Mit welchem Grund sollten ausgerechnet diejenigen, die Jesus nachfolgen wollen, so wenig bereit sein, es ihm gleich zu tun?

Wenn hier ein Mann in Lederhosen und Handschellen am Gürtel reinkommt, mir von seiner letzten Nacht im Darkroom erzählt und mich bittet, mit ihm zu beten, dass nichts passiert ist – soll ich das erst dann tun, wenn er bitte schön sein Leben geändert hat? (Von der Frau aus Kanaan wird NICHT berichtet, dass sie vor oder nach ihrem Besuch bei Jesus ihre Nationalität, Kultur oder Religion geändert hat.)
(Und der Hinweis auf AIDS als Strafe Gottes ist sicher nicht Teil davon, dass dieser Mann im Sinne Jesu Zugang zum Heil findet…)

Wenn hier ein Lesbenpaar sitzt und sich Sorgen macht um die psychisch kranke Tochter – fange ich dann an, Bibelverse zu zitieren mit dem Fazit, es sei ja kein Wunder, dass die Tochter „so gestört sei“? (Jesus hat die Frau aus Kanaan nicht gefragt, wo denn ihr Mann geblieben sei.)

Wenn hier ein älterer Mann mit Anzug vorfährt, eine jüngere Blondine mit im Ferrari, und sagt: „Mit meiner Tochter stimmt was nicht“, antworte ich dann: „Kein Wunder, mit deinem Leben stimmt auch was nicht“ und schicke ihn weg? Selbst wenn das mein erster Gedanke wäre: Wie soll er so Zugang zum Heil finden? (und vielleicht dann auch tatsächlich etwas in seinem Leben ändern? Aber nur diese Reihenfolge ist sinnvoll, die andere nicht!)

Wenn hier heute eine sitzt und sagt: „Die Anrede ‚Vater Unser“ bringe ich einfach nicht über die Lippen“ – muss ich ihr dann lange Vorträge halten über die Trinität (die eh kein Mensch versteht), oder kann ich einfach sagen: „Bete, so wie du es möchtest, zu Gott im Himmel, zu Gott auf Erden, zu Gott in dir, zu Gott in unserem gesamten Sein, egal, Hauptsache bete!“

Wenn wir Jesus nachfolgen möchten, sollten dann nicht auch wir alles daran setzen, dass ALLE Menschen Zugang zu dem Heil bekommen, das Jesus schenkt? Auch wenn dann manche Gebote und Gepflogenheiten eben auch mal in den Hintergrund treten müssen?

Nur zur Beruhigung: Das ist ganz ursprünglich biblisch, viel biblischer als nur das wörtliche Zitieren von Versen mit einem antiken Sinngehalt. Die Bibel selbst lässt nicht stehen, was Menschen den Zugang zum Heil verwehren könnte: Das Gebot, die Fremden zu vernichten, wird schon im Alten Testament überwunden (s. Jesaja 56,3-5!). Jesus selbst ändert seine Grundsätze, als er erkennt, dass sie andere ausschließen.

Die Meinung ÜBER Jesus ändern

Der Jesus, von dem die meisten Leute heute wissen, ist der Jesus am Anfang der Geschichte: ausgrenzend, den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entsprechend, geprägt vom Denken seiner Umwelt. Die meisten Menschen, die heute was über das Christentum erfahren, tun es aus Filmen und aus den Medien. Und die berichten am ehesten genau über solche ausgrenzenden Christen, die ihre eigenen Moralvorstellungen als Gottes Meinung darstellen.

Den Jesus am Ende der Geschichte kennen die wenigsten. Es ist um so wichtiger, dass wir von ihm erzählen. Erzählt von eurem Glauben. Stürzt euch in Gespräche. Viele da draußen (und hier drin) sind interessiert an Gott – aber nicht an dogmatischer Ausgrenzung.

Und so wie Jesus erst von einer Frau außerhalb seiner Glaubensvorstellungen geheilt wurde von seinem eigenen ausgrenzenden Denken und Handeln, so brauchen auch wir vielleicht manchmal die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden, um sowohl Gott als auch einander und uns selbst neu zu entdecken. Und um auch unsere eigene Meinung über Jesus zu ändern.

Jesus war nicht nur damals im Wandel, in einer Änderung, in einem Prozess. Jesus lebt, und Jesus ist auch heute im Wandel. Welche Grundsätze würde Jesus auch heute ändern, wenn sie jemanden ausschließen?

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