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Ich soll Frieden finden mit mir selbst?

Andacht MCC Köln, 27. Juni 2021
Ines-Paul Baumann

„Friede sei mit euch“, sagt der auferstandene Jesus, als er in die Mitte der verängstigten und verzagten Jünger tritt (Lk 24,36). Friede ist eine der wichtigsten und häufigsten Verheißungen im Alten Testament. Gott ist ein Gott des Friedens (Heb 12,20). „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe“, lässt Jeremia seinen Gott verkünden: „Gedanken des Friedens und nicht des Leids.“ (Jer 29,12). Der Gott, der Einzelne und Gemeinschaften straft, ist das Ergebnis menschlicher Suche nach Antworten in Erfahrungen von Leid.

„In der Welt habt ihr Angst“, stellt Jesus fest. Die Erfahrung vieler Menschen ist aber auch: In Kirchen haben sie Angst. Warum sind es ausgerechnet Kirchen und Religionen, die Räume der Angst schaffen und schüren? „Gott selbst ist der Frieden und gebe euch Friede in allem und überall“ (2. Thess 3,16), hieß es noch zu Zeiten des Neuen Testaments.

Mit Friede ist mehr gemeint als die Abwesenheit von Unfrieden in Form von Krieg und Streit. „Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben“ (Klg 3,17), klagen die Klagelieder, und ergänzen: „Ich habe das Gute vergessen. (…) Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin. Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin!“ (Klg 3,17-19) Orientierungslos, ziellos, emotional einseitig gekippt: Eine Seele in Unfrieden ist eine Seele, die aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Nun gibt es in unserer Welt genug gute Gründe, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Friede heißt nicht, immer mit sich und der Welt in Balance und Harmonie zu sein. Die Bibel spricht nicht umsonst von einem Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft. Damit ist aber nicht gemeint, dass wir die Vernunft ausschalten müssen und anschließend die Hände falten und uns zurücklehnen. Oder alles abtöten, was uns umtreibt. Friede meint nicht Stillstand, sondern er setzt uns in Bewegung. Friede macht uns handlungsfähig.

Materie – die doch so stabil erscheint! – besteht im Inneren aus Atomen, die in sich ständig in Bewegung sind. Stabilität in diesem System heißt, dass sich die Bewegungen im passenden Bezug zueinander vollziehen. Stabilität ist nicht das Ergebnis von Erstarrung oder Festlegung.

Genau so ist Friede „kein Zustand, sondern ein Prozeß, ein Weg, auf dem immer mehr Gegensätzliches integriert und versöhnt wird.“ Dietrich Koller schreibt weiter: „‘Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.‘ Das heißt: Gott ist (…) kein Gott der Ordnung. Ordnung – das wollen nur geistlose Regierer und lebensferne Administratoren. Gott will Frieden. Schalom – das ist seiner hebräischen Sprachwurzel nach ein dynamischer, lebendiger, immer neu zu findender Zustand der Ausgewogenheit und Ganzheit. Alle Gaben und Bedürfnisse einer Gemeinschaft finden ihren Platz durch das permanente Geschehen eines Integrationsvorgangs. Es entsteht beim Friedensprozess dieser Art eine jeweilig neue Gestalt des Hier und Jetzt, in welcher nichts unterdrückt wird.“

Friede entsteht nicht durch Unterdrückung. Mit Unterdrückung fängt der Unfriede an: Es ist nicht alles an seinem Platz. Menschen, Dinge, Anteile sind ausgelagert, ausgeschlossen, nicht eingebunden, unterdrückt. Es geht aber auch nicht darum, dass wir uns „endgültig gefunden haben“ müssen. Als „jeweilig neue Gestalt des Hier und Jetzt“ können in unterschiedlichen Situation auch unterschiedliche Anteile Platz finden. Und was aktuell NICHT Teil davon sein will, muss auch nicht hineingezwungen werden.

Der Weg zum Frieden ist der Weg des Friedens selbst: Ein dynamisches Miteinander all dessen, was in der jeweils aktuellen Gestalt des Hier und Jetzt Gestalt gewinnen und mit gestalten möchte. Im Miteinander der gesamten Welt und Schöpfung. Im Miteinander von Gemeinschaften. Und in mir selbst.

Ich lade euch ein, auch heute in der Andacht wieder ins Gebet zu gehen und vom großen Kreis der Schöpfung über unsere Gemeinschaften bis zu uns selbst anzusehen, was im Zustand eines Ungleichgewichts ist und was nach Frieden ruft, nach Miteinander, nach Integration. Die Stellen zwischen den einzelnen konkreten Gebetseinladungen füllen wir heute mit einem „Friedensgruß-Glockenspiel“: Vier Menschen stehen im Raum verteilt und sprechen uns und einander aus allen Himmelsrichtungen den Friedensgruß zu: Friede – sei – mit – dir. Zwischen jedem Wort liegen zwei Atemzüge Pause. Die Worte mögen unsere Gedanken anstoßen, wie ein Glockenschlag etwas in uns zum Schwingen bringen… vielleicht aber auch in der ständigen Wiederholung manchmal ein ferner Teppich werden, der unsere Gebete und Gebetsanliegen trägt… Und uns manchmal vielleicht auch einfach nur rausreißen aus anderen Gedanken und Stimmen, die es weniger gut mit uns meinen. Friede. Sei. Mit. Dir.

Lesetipps

  • zu Schalom als Prozess: „Heilige Anarchie“ von Dietrich Koller, München 1999 (Zitate: S. 59 und S. 172)
  • zum strafenden Gott: „Das Tagebuch der Menschheit – was die Bibel über unsere Evolution verrät“ von Carel van Schaik & Kai Michel, Hamburg 2020 (6. Auflage)
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