Zum Inhalt springen
Home | Fluchterfahrungen & Glaubenserfahrungen (auch Flucht VOR Glaubenserfahrungen)

Fluchterfahrungen & Glaubenserfahrungen (auch Flucht VOR Glaubenserfahrungen)

Predigt MCC Köln, 20. Dezember 2020
Ines-Paul Baumann

4. Mose 33,2-11

Die Flüchtlingsroute aus 4. Mose 33 ist nur ein Ausschnitt aus dem Fluchttagebuch des Exodus. Und diese Flucht ist beileibe nicht nur metaphorisch zu betrachten. Um so bedeutender finde ich die Frage: Wie beeinflussen meine (in meinem Fall: fehlenden) Erfahrungen von Flucht und Migration meine Sichtweisen auf Glaube und Bibel? Und umgekehrt:  Wie beeinflussen meine Glaubensvorstellungen vielleicht auch meine Sichtweisen auf Flucht und Migration? Welche Rolle spielt mein Glaube, wenn ich mich zum heutigen Fluchtgeschehen äußere und verhalte?

Prolog

(Danke, M.!)

Wir sind hier versammelt im Namen Gottes*. Sie ist mit den Verfolgten und den Entwurzelten.

Wir sind hier versammelt im Namen Jesu. Er zeigt uns die Kraft eines Lebens auf der Reise.

Und wir sind hier versammelt im Namen des Heiligen Geist, der Ruach, die all jene erfüllt, die nicht aufhören, für das menschliche Recht auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu kämpfen.

Impuls

Wie sehen Glaube und Bibel aus, aus der Perspektive von Flucht und Migration? Für mich ist es die Ausnahme, durch diese Brille zu gucken. Durch alle Zeiten und weltweit gesehen sind Flucht und Migration aber nicht die Ausnahme. Die Gleichsetzung von Nationalstaat, Heimat und Identität, DAS ist die Ausnahme. Diese Ausnahme bestimmt aber leider die Fragen, die in der Regel gestellt werden, auch und gerade angesichts von Migration. Für den Nationalstaat ist wichtig: Wer gehört dazu, wer nicht? Wer ist drin, wer ist draußen? Und WER hat WAS zu sagen, im Innern? Es sind Fragen der Abgrenzung und Fragen der Macht.

Die Fragen von Migration und Flucht sind andere. Am Anfang steht die Feststellung: HIER, wo ich gerade bin, ist kein gutes Leben nicht möglich (oder gar kein Überleben mehr). Gibt es einen Ort, wo es besser ist? Wo ist so ein Ort? Und wie komme ich dahin?

Die Erfahrung, dass ich woanders hin will/muss, damit es besser wird, gibt es auch im Glauben selbst. Auch im Glauben gibt es die Erfahrung, dass die aktuelle Verortung dem Leben entgegensteht: „Glaube und Religion, wie ich sie kenne, sind lebensfeindlich. Sie tun mir und anderen nicht gut. Geht es auch anders? Falls ja: wo? Und wie komme ich dahin?“ Viele lassen ihren alten Glauben dann hinter sich. Viele kommen allerdings nie in einer besseren Variante davon an. Sie gehen GANZ RAUS aus allem Glauben, machen sich aber gar nicht mehr auf die Suche nach anderen Glaubensmöglichkeiten.

Als MCC kommt uns hier immer wieder eine besondere Aufgabe zu. Als MCC begleiten wir oft Menschen auf ihrer Flucht aus einer vergifteten Glaubenswelt und bei ihrer Migration in eine lebenswürdige Glaubenswelt.

Was können wir also mitnehmen, wenn wir die Bibel mal lesen aus de Perspektive von Flucht und Migration?

Es gibt ein Buch, das zum Lesen der Bibel die Fluchtperspektive aufgreift: „Das Buch der Flucht“ von Johann Hinrich Claussen. Es sieht so aus, als würde der Autor mehr ÜBER Fluchterfahrungen schreiben als MIT ihnen. Auch Perspektiven aus anderen Erfahrungen von Geschlechtlichkeit hätten das Buch bereichert. Dennoch werden darin Impulse versucht und weitergedacht, die ich selten antreffe in den Glaubensbüchern, denen ich sonst so begegne.

In einem Kapitel in dem Buch widmet sich der Autor dem Exodus: den Wüstengeschichten nach dem Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten. „Die Geschichte erzählt davon, dass das Volk ohne ohne all das gedacht werden kann, was sonst ein Volk ausmacht. Es kommt mit nichts aus, weil es etwas hat, das die gewöhnlichen Heimatvölker nicht kennen, nämlich einen Gott, dem ebenfalls alles fehlt, was damals einen Gott ausgemacht hat: ein fester Ort, ein heiliger Raum, ein Bild und ein Name.“ (S. 122) Claussen bezeichnet Gott in diesem Kapitel als HERR NIEMAND für das VOLK NIRGENDWO. (S. 124)

Was hingegen versprechen Kirchen, Religionen und Glaubensvorstellungen so oft? Einen Gott, der unserem Verständnis von Nationalstaaten entspricht. Und wieder ist wichtig: Wer gehört dazu und wer nicht?

Das sind Fragen der Sesshaften. (Oder der Festgesessenen.) Sie HABEN Namen für Gott, sie HABEN Orte für Gottesbegegnungen, sie HABEN Bilder von Gott und richtigem Christsein, sie HABEN Vorstellungen von Heiligen Räumen.

Wo ist dann der Gott des Exodus, der genau all das nicht hat? Wo ist der Gott, dem all das fehlt, was Gottesvorstellungen ausmacht – um Gott für diejenigen sein zu können, die ebenfalls nichts haben (oder nichts wollen), was durch Orte und Namen festgelegt werden kann?

Wenn ich über Meere und Länder reise: Was habe ich von einem Gott, der an einem bestimmten Ort zu finden ist?

Wenn ich selber von mehreren Sprachen umgeben bin: Was habe ich von einem Gott, der einen bestimmten Namen hat?

Wenn ich im Glauben in mehreren Traditionen und Vorstellungen zuhause bin (oder eben auch nicht mehr): Was habe ich von einem Gott, der in einer bestimmten Form von Gottesdienst zu finden ist?

Wenn ich selber bei Glaubensthemen nicht immer nur fröhlich und erhoben bin (oder ernst und andächtig, oder meditativ, oder in Einheit, oder oder oder….): Was habe ich von einem Gott, der sich mir nur dann zeigt, wenn ich gerade Zugang zu diesem einen Gefühl oder Bewusstsein habe?

Mir gefällt der Gedanke, dass mein Glaube nicht getragen sein muss von dem, was Nationen, Menschen und Götter stark macht: Dass ich meinen Glauben UND meine*n Gott* lösen kann von bestimmten Orten und Namen. Dass der Zugang zu Gott nicht abhängig davon ist, dass ich mich gerade in einer bestimmten Denkweise verorten kann.

All das öffnet einen Raum für bedingungsloses Miteinander. Ein offenes Abendmahl. Zu dem wir eingeladen sind an allen Orten, an denen wir uns im Leben und im Glauben gerade befinden – auch wenn es gerade eher Durchgangsstationen sind und alles andere noch ungewiss ist. Dem ständigen Suchen und Finden und Weitergehen in der Bibel sind wir damit viel näher als wenn wir uns im Glauben gut eingerichtet haben, uns darin ganz heimisch fühlen und NICHT ab und zu ein Gefühl von Fremdheit und Befremdung hätten.

Segen

(Abgewandelt von: https://feministische-theologinnen.ch/gott-segne-deine-hande/#more-1130 – Danke an M.!)

Gott* segne deine Reise. Mögen dich Menschen mit offenen Armen empfangen und dir Geborgenheit schenken, an jedem (Zwischen-)Ziel.

Gott* segne deine Schultern, und gebe dir Kraft für das, was du dir vornimmst.

Gott* stärke deinen Rücken, auf dass du für deine Visionen einstehen kannst.

Gott* segne deine Stirne, deinen wachen Verstand und schenke dir segensreiche Ideen.

Gott* segne dein Herz, es schlage für die Gerechtigkeit und sei offen für andere.

Gott* segne deine Stimme, möge sie nicht überhört werden.

Gott* stehe dir zu Seite, wie Gefährtinnen* und Freunde*, die dich lieben und begleiten.

Gott* segne dich – Gott* segne dein Leben.

 

Skip to content