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Es geht auch ohne Abhängigkeiten, Belohnungen und Hierarchien (zur Jahreslosung 2021)

Predigt MCC Köln, 3. Januar 2021
Ines-Paul Baumann

Lukas 6,36 (Jahreslosung)

Sowohl die Jahreslosung als auch die ganzen Verse drumherum können leicht missverstanden werden als eine Anleitung zur Selbstausbeutung.

„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Lukas 6,36 (L=E)

Es gibt auch eine andere Übersetzung davon: „Habt Mitleid, wie auch °Gott mit euch leidet.“ (https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Lk/6/36-/) Hier wird zumindest deutlicher: Es geht nicht darum, von mir abzusehen, sondern ich werde gesehen. Gott leidet mit mir – dafür muss ich nicht andere in Mitleidenschaft ziehen.

In der Bibel wird der Sitz der Barmherzigkeit mit der Gebärmutter in Verbindung gebracht. Sie gibt einer anderen Person Raum zum Wachsen, um diese dann loszulassen und als eigenständiges Wesen in die Welt zu schicken. Auf Dauer wäre diese Form von Miteinander tödlich. Das geht nur zeitlich begrenzt; wie beim barmherzigen Samariter. Abhängigkeit kommt vor, ist aber temporär und führt eben nicht zwangsläufig zu hierarchischen Verhältnissen.

In der MCC Köln haben wir eine Mitgliedschaftsvereinbarung und Selbstverpflichtungserklärungen für Mitarbeitende. Sie sollen dabei helfen, die gemeinsamen Grundlagen unserer Zusammenarbeit zu klären – den Raum, in dem wir uns als Einzelne und als Gemeinde entwickeln wollen. Vom Zeitpunkt, Adressatenkreis und Inhalt her *) klingt Jesu Feldrede im Lukasevangelium so ähnlich. Und im Kern sagt er: Erwartet keinen Lohn und keinen Dank. **)

Jesus ist selbst mit Undankbarkeit konfrontiert, als er drei Jahre später vor Pontius Pilatus steht. Aufgrund von Verleumdungen und falschen Anklagen soll er hingerichtet werden. Ist das der Dank? Jesus bekommt die Gelegenheit, die Dinge geradezurücken. Aufzuzeigen, was er alles geleistet hat. Die Vorwürfe zu entkräften. Die Lügen seiner Gegner zu entlarven. Nichts davon tut Jesus. Er schweigt.

Als ich in der Oberstufe war, war ich Klassensprecherin. Beim Abendessen erzählte ich davon. Mein Vater fragte nur: „Willst du beliebt sein?“ Ich war enttäuscht, oder empört, oder beides, warum lobt er mich nicht oder nickt anerkennend? Aber im Nachhinein muss ich sagen: Gute Frage. Warum tue ich, was ich tue?

Ich glaube, dass Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolger genau dieselbe Frage gestellt hat. Die ganzen Worte in Lukas 6 drehen sich darum. Zum einen geht es darum, WIE sie sich verhalten sollen. Zum andern geht es darum, WARUM sie das tun. Was erhoffen sie sich davon? Was erwarten sie dafür?

Jesus zieht allen Erwartungshaltungen konsequent den Zahn. Eine Hoffnung nach der anderen zerstört er. Warum rechtfertigt Jesus, dass diejenigen, die ihm nachfolgen, von anderen nichts zu erwarten haben?

Er rechtfertigt es gar nicht. Jesus ist viel radikaler. Er stellt sich gegen ein System, das von Belohnungen lebt. Belohnungen machen uns abhängig von denen, die die Belohnung ausschütten oder verweigern können.

Gemeindearbeit arbeitet oft mit solchen Belohnungssystemen. Was für Beziehungsgefüge entstehen dadurch? Was ist das für eine Kirche, die Anerkennung verteilt? In Form von Roben, Pfarrhäusern, Titeln, Rechten? In anderen Kreisen zählt zahlenmäßiges Gemeindewachstum als „Belohnung“ für die Gemeindearbeit. Oder ein Anstieg bei den Spenden.

Aber am allerschlimmsten finde ich, wenn das Belohnungssystem meinen Glauben prägt: Was ist das für ein Gott, der mich mit Liebe „belohnt“?

Jesu Auftaktrede an seine Nachfolger_innen und sein Schweigen vor Pilatus sagen dasselbe: „Euer System von Anerkennungen und Belohnungen macht nicht frei, sondern abhängig. Es führt zu Hierarchien und Machtgefällen. Es ist hochgefährlich.“

Jesus macht da nicht mit. Jesus will nicht, dass wir in Gottes Namen einsteigen in solche Strukturen und Dynamiken. Kirche soll nicht der Ort sein, an dem Anerkennung in Form von Rechten, Titeln oder Aufmerksamkeit ausbezahlt wird. Kirche soll nicht der Ort sein, wo Helfen zu Abhängigkeiten und Hierarchien führt.

Alles, was in diese Richtung geht, darf nicht mal Mittel zum Zweck sein. Wenn ihr merkt, dass ihr hineingezogen werdet in solche Belohnungsgefüge: Geht auf Distanz. Entzieht euch. Zur Not: schweigt.

Wenn dein Vaterbild verstrickt ist in Systeme von Belohnung als Anerkennung: Überlege gut, ob „Vater“ als Begriff für deinen Gottesbezug taugt.

Wenn dein Mutterbild verstrickt ist in Systeme von Belohnung als Anerkennung: Überlege gut, ob „Mutter“ als Begriff für deinen Gottesbezug taugt.

Wenn Reaktionen auf deine Gemeindearbeit verstrickt sind in Systeme von Belohnung als Anerkennung: Überlege gut, ob sie als Maßstab für den Wert deiner Arbeit taugen.

Wenn Gemeinde kein Belohnungssystem ist, gilt für die Nachfolger:innen Jesu auch: Sie müssen solche System nicht ihrerseits füttern. In der MCC Köln dient Geld eh nicht als Belohnung. Weder ich noch andere haben hier ihre Arbeitsstelle im Sinn von Lohnarbeit – ich finde das gut; so bleibe ich unabhängig. Es heißt umgekehrt auch, dass niemand bei uns als belohnende Dankes- oder Anerkennungsmaschine fungieren muss. Im Reich Gottes gibt es nicht den Mitarbeiter des Monats, oder das extra Lob vom Pastor, oder die Zeit oder die Aufmerksamkeit, die ich euch schenken muss, damit ihr glückliche Schafe seid.

Die „Belohnung“ der Barmherzigkeit ist das Gedeihen einer anderen Person. Diese andere Person ist nicht dazu da, dass ich sie in Anspruch nehme. Wenn die Person anders denkt und handelt, als ich es tun würde, ist das kein Grund, beleidigt zu sein. Die andere Person ist auch nicht dazu da, dass ich sie von mir abhängig mache. Barmherzigkeit ist eine vorübergehende Beziehung, die einen anderen Menschen loslassen kann, damit dieser eigene Wege gehen lernt. Barmherzigkeit saugt nicht aus.

Wenn du spürst, dass andere dich aussaugen und dich nicht loslassen wollen oder schnell beleidigt sind oder dir ständig reinreden wollen, möchten sie dich vielleicht eher in ein Belohnungsgefüge oder in Abhängigkeiten hineinziehen. Scheue dich nicht, dich dem zu entziehen und auf Abstand zu gehen. Auch im Gemeindeleben ist Distanz erlaubt.

Jesu eindringliche Warnungen sollen uns also gerade nicht in Selbstausbeutung treiben, sondern uns und einander vor Ausbeutung schützen. Barmherzigkeit meint es gut mit dir und mir – im akuten Helfen UND im anschließenden Freigeben.

*) Gerade eben hatte Jesus von den vielen Jüngerinnen und Jüngern, die ihm bereits nachfolgten, zwölf ausgewählt und sie Apostel genannt (Lk 6,12-15). Danach widmete er sich allen möglichen Leuten, die ihn um Heilung bitten (Lk 6,17-19). Und dann „richtete [er] seinen Blick auf seine °Jüngerinnen und Jünger und sprach“ (Lk 6,20) die hier als „Feldrede“ gesammelten Worte inklusive der Jahreslosung.

**) Zumindest nicht auf Erden. Dass die Evangelien oft mit einem belohnenden Gottesbild arbeiten, finde ich problematisch. Aber vielleicht war es aus damaliger Sicht besser, die Sehnsucht auf Belohnung auf Gott zu lenken, um sich dadurch wenigstens von Menschen frei machen zu können.

 

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