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Er war dogmatisch, haderte mit Homosexuellen, war religiös radikal und ging mit Gewalt gegen Andersdenkende vor: Paulus passte gut in das Feindbild von „Kirche“

Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

(Lesung: Apg 9,1-26)

Paulus hätte perfekt in das Feindbild gepasst, das Kirchen manchmal erfüllen. Paulus war vor seiner Begegnung mit Jesus dogmatisch, haderte mit Homosexuellen, war religiös radikal und ging mit Gewalt gegen Andersdenkende vor.

Ich saß neulich mit einer Berlinerin am Küchentisch, und in irgendeinem Zusammenhang begann sie, etwas von Bischof Wölki zu erzählen. Spöttisch unterbrach ich sie: „Ach, Wölki, der neue Homo-Hasser-Import aus Köln?“ Woraufhin sie ganz geduldig beschrieb, wie toll Wölki sich in Berlin machen würde, auch im Dialog mit Homosexuellen, und wie er überhaupt den Kontakt mit normalen Menschen auf der Straße suche, und man müsse ihm doch eine Chance zur Veränderung geben.

Mein Feindbild war erschüttert! Ich wusste zwar nicht, ob ich ihr abnehmen sollte, dass Wölki so einen guten Weg eingeschlagen hätte, aber woher nahm ich das Recht, es völlig und von vorneherein auszuschließen? Wenn Gott selbst so einen radikalen religiösen Fanatiker wie Paulus ändern kann, warum sollte Gott nicht auch heute Menschen dazu bewegen können, sich zu ändern? Ist das nicht genau das, wovon wir hier immer predigen? Glauben wir das denn nun oder nicht??

Seitdem ich da kurz drüber nachgedacht habe, würde es mich eigentlich auch nicht mehr wundern, wenn der Papst morgen an die Öffentlichkeit tritt und sagt: „Ich muss mich bei euch allen entschuldigen. Ich liebe einen Mann. Ich habe die Liebe Jesu geleugnet und euch stattdessen mit Verboten und Geboten überhäuft. Ich habe mich und euch jahrelang belogen. Ab heute werde ich es anders machen. Ich danke Gott, denn durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“
Glauben wir, dass so was passieren kann? Hoffen wir, dass so was passieren kann? Beten wir dafür, dass so etwas passieren kann?

Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass wir unsere Feindbilder aufgeben können?!
Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass die Nervensägen in der Gemeinde sich bessern können?!
Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass wir mehr aus unserem Leben machen können, als uns in der Kindheit eingetrichtert wurde?!
Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass diejenigen, die sich uns und anderen schuldig gemacht haben, eine Chance bekommen und nutzen wollen?!
Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass jedes Blatt sich wenden und jeder Mensch sich ändern kann?!
Glauben und hoffen wir tatsächlich, dass wir im Geist Gottes keine Feindbilder mehr brauchen?!

Kirchen stehen heute leider oft genau für das Gegenteil dessen, was Paulus damals nach seiner Begegnung mit Jesus erlebt hat. Kirchen stehen dafür, Feindbilder aufzubauen und zu unterstützen. Wie wichtig ist es, dass wir als Kirche dafür einstehen, Feindbilder abzubauen!

Wie geht das? Was ist da passiert bei Paulus? Und was können wir für heute daraus mitnehmen?

1) Was ist da passiert?

– Entgegen mancher Redewendung wurde Saulus nicht zum Paulus durch die Begegnung mit Jesus. Sein römischer Name ‚Paulus‘ wurde erst dann gang und gäbe statt seines jüdischen Namens ‚Saulus‘ (= mit der ihn Jesus bei seiner Erscheinung anspricht), als sein Einsatz für Jesus unter den Römern ausschlaggebend für die Wahrnehmung und Rolle des Paulus wird. Namen sind nicht unabhängig vom Umfeld. Es ist durchaus ernst zu nehmen, wenn Menschen darum bitten, mit einem bestimmten Namen angesprochen zu werden.

– Entgegen mancher Theorien über Gemeindewachstum und Missionsstrategien hat sich Paulus nicht bekehrt, weil er Christen begegnet ist, die ihn mit den richtigen Argumenten davon überzeugt haben, was für ein schlimmer Sünder er ist und dass er Gott um Vergebung bitten muss, damit alles gut wird. (Keiner der Berichte über die „Bekehrung“ von Paulus erwähnt irgendetwas davon.) Jesus arbeitet nicht mit Methoden. Es gibt keine breite gesellschaftliche Öffentlichkeit gegen Paulus, keinen politischen Druck, keine Bündnisse gegen ihn, keine Medienkampagnen, keine Kurse über wahres Christentum, keine Flyer, nichts davon. Das einzige, was bei Paulus die Veränderung bewirkt, ist die plötzliche und unerwartete Begegnung mit Jesus selbst. Er befindet sich dabei nicht in einem Gottesdienst, er liest dabei nicht in der Bibel, er befindet sich dabei nicht im Gespräch mit einem aufrichtigen Christen. Paulus bereut zu diesem Zeitpunkt nichts an seinem Leben, er empfindet sich nicht als Sünder, er ist nicht in einer Krise, er findet sich nicht falsch. Ich würde sogar sagen, seinen Charakter und sein Selbst nimmt er genau mit. Man könnte sagen, außer der inneren Begegnung mit Jesus ist nichts passiert. Und trotzdem entfaltet diese „Erscheinung“ die Kraft, die sein Leben gänzlich auf den Kopf stellt. Ausschlaggebend dafür ist: PAULUS HÄLT NICHT AN SEINEN ALTEN FEINDBILDERN FEST. Stattdessen handelt er ab nun im Heiligen Geist und im Gebet. (Nur sein Problem mit „richtigem“ Sex war wohl noch größer als sein Problem mit „richtiger“ Religion, zumindest zu der Zeit, als er seine Ansichten im Römerbrief äußerte.)

2) Was passiert anschließend?

Kaum hatte Paulus diese Erscheinung, geht ohne andere Christen gar nichts mehr!
Wer besucht Paulus jetzt und hilft ihm weiter? Ein anderer Christ.
Wer hilft ihm, seinen alten Ruf loszuwerden? Christen.
Wer handelt solidarisch, als ihm seine früheren Freunde an den Kragen wollen? Christen.
DIE CHRISTEN HALTEN NICHT AN IHREN FEINDESERFAHRUNGEN FEST. Stattdessen handeln sie im Heiligen Geist und im Gebet.

Dadurch, dass also weder Paulus noch die Christen an ihren Feindbildern festhalten, lernt Paulus ein völlig neues Leben kennen. (Und die Gemeinden lernen durch Paulus so manch Neues im Leben kennen.) Im Heiligen Geist und im Gebet entdecken sie eine Verbundenheit, die alte Gräben überwindet.

Bis dahin war das Leben von Paulus geprägt von Druck, Stärke, Obrigkeitsdenken, Hierarchien, Befehlen und Regeln.

Nun lernt Paulus ein anderes Leben kennen:
– Der erste Christ, der zu ihm kommt, legt ihm die Hände auf und segnet ihn. Er berührt ihn, wie Paulus wahrscheinlich nie zuvor berührt worden ist – körperlich und geistlich.
– Paulus erlebt Solidarität, Hilfe, Miteinander und Füreinander.
– Paulus erlebt auch die Ängste und Zweifel unter den Christen. (Unter Minderheiten kam es auch damals schon vor, dass man nicht nicht jedem und sofort vertraut….).
– Paulus lernt den Widerstand kennen von denen, die sich von seinem neuen Lebenswandel in Frage gestellt fühlen.
– Paulus lernt sehr früh Vielfalt kennen – kulturelle Vielfalt, soziale Vielfalt, Vielfalt in der Mitarbeit mit Menschen verschiedener Geschlechter.

Die Basis zum Einstieg in dieses neue Leben ist: An Stelle äußerer Befugnisse ist seine eigene, ihm von Gott gebene innere Befugnis getreten. Diese innere Überzeugung ist nun stärker als alle früheren äußeren Regeln. Wie maßgeblich bestimmen unsere inneren Überzeugungen unser Leben!

Die Art und Weise, wie Paulus seine Begegnung mit Jesus beschreibt, wird heute oft als eine betrachtet, die historisch einmalig war. Das stimmt, und das ist heute nicht anders: Jede und jeder hat eine einmalige und ganz eigene Geschichte von Gotteserlebnissen. Aber damals wie heute verändern sich Leben, wo Menschen Jesus begegnen. Diese Reihenfolge ist wichtig! Paulus hat ZUERST die Begegnung mit Jesus, DANN verändert sich sein Leben. Christentum wird heute meistens anders wahrgenmommen: Christentum heißt oft: Veränder dein Leben, DANN darfst du Gott begegnen. Die meisten Menschen kennen „Christentum“ als „Regeltum“ – nicht wie Paulus ein Leben WEG von den äußeren Regeln, sondern ein Leben HIN zu äußeren Regeln: Nur wenn du so-und-so lebst, DANN darfst du in die Kirche, DANN darfst du zum Abendmahl, DANN darfst du Gott begegnen.

Wir sollten als Gemeinde keine Bedingungen aufstellen, die Jesus gar nicht aufstellt. Jesus lädt ein. Jesus möchte Menschen begegnen. Euch hier und heute. Und so vielen, die heute nicht hier sind.

Paulus wird später sagen, er hat die GNADE Jesu erfahren. Wo die meisten Menschen heute Prägungen durch Kindheit, Gene, Erziehung und Sternzeichen für sich erleben, sollten sie auch die Möglichkeit bekommen, die Gnade Gottes zu erleben. Es ist gut, dass wir mit Psychologie und anderen Wissenschaften die Prägungen in unserem Leben verstehen und verarbeiten können. Aber lasst uns als Gemeinde auch ein Ort sein, wo wir zusätzlich ein Bewusstsein für die Perspektive der Gnade Gottes ermöglichen.

Was können wir dazu beitragen, dass Menschen ihre Gotteserfahrungen als Gnade erleben, die ihr Leben verändert?

1) Paulus hatte genug Wissen von Religion (und zwar von unterschiedlichen Religionen!), um seine Begegnung mit Jesus richtig einordnen zu können.
=> Wir können ein Ort sein, Hintergrundwissen zu vermitteln, um Menschen dazu in die Lage zu versetzen, ihre Gottesbegegnungen wahrnehmen und einschätzen lernen können. Wie viele Menschen haben Eindrücke, Bilder, Visionen – und keine Begriffe dafür, das einzuordnen und den Reichtum ihrer Gotteserfahrungen verstehen zu lernen.

2) Paulus wurde von anderen Christen gesegnet und unterstützt – auch da, wo es für das eigene Leben mit Aufwand oder Risiko verbunden war.
=> Wir können eine Gemeinde sein, in der wir als Menschen einander ein Segen sind. Und wir können eine Gemeinde sein, in der wir einander mit praktischer Hilfe zur Seite stehen, wenn es jemandem an den Kragen geht.

3) Paulus trat aus einem Leben äußerer Regeln über zu einem Leben innerer Gewissheit und äußerer Vielfalt.
=> Wir können eine Gemeinde sein, in der Vielfalt gelebt und wertgeschätzt wird, damit alle unter uns ihre eigene innere Bestimmung wahrnehmen und entfalten können.

4) Paulus hat fanatisch mit dem Christentum gehadert, bevor er Jesus begegnet ist.
=> Viele unter uns wissen, wie wichig es sein kann, zu hadern, zu zweifeln, nachzufragen! Ich glaube, dass insbesondere manche von denen, die heute das Christentum kritisch sehen und dagegen vorgehen (ob rational oder polemisch), auf eine ganz besondere Weise näher dran sind an Jesus, als das von außen gesehen oft der Fall zu sein scheint. Lasst uns ein Raum sein, in dem Menschen ihre Probleme mit Gott äußern und verarbeiten können. Jesus hatte an ihnen viel mehr Freude als an religiös satten und selbstzufriedenen Frommen.

Lasst uns als Gemeinde ein Ort sein, an dem Feindbilder gegenüber anderen Menschen, gegenüber Anteilen in sich selbst und gegenüber Gott abgebaut werden können. Ich glaube, als MCC haben wir an diesem Punkt eine ganz besondere Verantwortung, eine ganz besondere Aufgabe, eine ganz besondere Möglichkeit und eine ganz einfache, wunderbare Botschaft: Was immer dich heute nervt, angreift und verfolgt: Gott kann es wenden.

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