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„Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.“ #Jahreslosung #Passing #Drag #RosaWinkel #Darkroom #Allyship #MSP

Predigtimpuls, 15. Januar 2023
Ines-Paul Baumann

Genesis 16,10-14

Queere Erfahrungen zu Sichtbarkeit werfen unterschiedliche Aspekte auf Gesehenwerden. Biblische Geschichten und christliche Theologien lassen sich damit erstaunlich fruchtbar zugänglich machen und erweitern.

Für Hagar war es eine Wohltat und Befreiung, als sie sich von Gott gesehen sah. Allerdings kennt die Bibel auch genug Situationen, in denen Beteiligte es vorzogen, nicht (oder nicht direkt) den Blicken Gottes oder anderer Menschen ausgesetzt zu sein. Themen des Sehens und des Verbergens werden in der Bibel an vielen Stellen und vielschichtig verhandelt.

Hagars Erfahrung des Gesehenwerdens blieb nicht bei dieser Erfahrung stehen. Sondern erstens war diese Erfahrung der Ausgangspunkt für wichtige Entscheidungen, die sie danach traf. *) Und zweitens änderte diese Erfahrung auch umgekehrt Hagars Blick auf Gott – und hatte zur Folge, dass sie G*tt einen neuen Namen gab. Einen Namen, den G*tt vorher nicht gehabt hatte: **)

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“, so formuliert es die Lutherbibel in Genesis 16,13.
„Du bist El-Roï – Gott schaut auf mich -. “ heißt es in der Einheitsübersetzung.
„Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.“, so drückt es die Bibel in gerechter Sprache aus.

Bei Hagar können wir also zweierlei sehen:

  • Manchen GottesNAMEN gehen GottesERFAHRUNGEN voraus.
    G*tt ist für uns die, als die wir sie erleben.
  • Manchen GottesERFAHRUNGEN gehen LEBENSerfahrungen voraus.
    G*tt zeigt und erweist sich im Kontext. Wie wir G*tt erleben und verstehen, ist nicht immer gleich, sondern hängt sehr von unseren Lebenserfahrungen und -umständen ab. Bei Hagar begegnet ihr G*tt als die, die Hagar gerade braucht und versteht. (Das ist – auch in der Bibel – längst nicht immer so.)

G*tt ist nicht für alle gleich.

Von daher kann und muss G*tt nicht für alle denselben Namen haben.

Auch viele Begriffe im Leben und in der Geschichte von LGBATIQ*-Menschen greifen Aspekte von Sichtbarkeit auf.***) Manche davon sind anschlussfähig an andere Minderheiten-Situationen, andere sind eher spezifisch. Aber auch hier könnten aus Lebenserfahrungen theologische Einsichten wachsen:
Vielleicht tauchen darin Aspekte auf, die sich auch in deinen Glaubenserfahrungen spiegeln?
Aspekte, die von deinen G*ttesbildern etwas in Worte und Begriffe bringen?
Aspekte, die dir eine Tür öffnen, deine Blicke auf G*tt besser zu verstehen (oder wie du G*ttes Blicke auf dich verstehst, verstehen möchtest, verstehen kannst)?

Aus spezifisch christlicher Sicht kommt noch hinzu: G*tt ist in sich selbst auch nicht dieselbe. Von der Trinität her gibt es mindestens drei, die in G*tt eins sind.
Nicht-binäre Menschen können hier von ihrer Erfahrung her vielleicht etwas bei G*tt sehen und erfassen und verstehen, was anderen nach 2000 Jahren theologischer Erläuterungen noch ein Rätsel ist.
Oder Menschen mit MPS: Wenn ich selber viele bin, blicke ich vielleicht mit großer Affinität und ganz anderem Erkenntnishorizont auf eine G*tt, die in sich auch viele ist.

Hier nun also ein paar Aspekte von Sichtbarkeit und Verborgenheit, die ich ergänzend zur (Lebens- und Gottes-)Erfahrung von Hagar in den Raum stellen möchte. Gibt es darin Lebenserfahrungen, die deine G*tteserfahrungen beeinflussen? Wie zeigt sich G*tt dir vielleicht genau darin? Oder für was öffnet dir das Sichtweisen auf G*ttes Sichtbarkeiten und Verborgenheiten?

Spüre zu diesen Fragen einfach bei jedem Aspekt ein bisschen in dich hinein. (Wenn dir ein Begriff nichts sagt, macht das nichts – das ist mit manchem kirchlichen Vokabular auch manchmal so.) Hier ein paar Beispiele mit allerersten spontanen Ideen dazu von mir:

  • Transgender Day of Visibility
    • Ein Tag der Sichtbarkeit! Dabei sind trans* Menschen doch immer da. Aber manchmal bedarf es halt eines spezifischen Settings für’s Sich-Zeigen.
      Sind G*ttesdienste vielleicht sowas wie Hours of Visibility?
  • Passing, gelesen werden (als …)
    • Wie oft wurde Jesus falsch gelesen! Gärtner, Elia, Spaziergänger, … Einmal fragt er sogar seine Jünger: Wer bin ich für euch? Sein Passing als Sohn G*ttes war offenbar nicht immer das beste.
    • Sein Passing als Fremde*r, Hungernde*r oder Gefangene*r hingegen kann als perfekt eingeschätzt werden (Mt 25). Führt prompt auch zu Empörung :)
  • Darkrooms
    • Manchmal ist es schöner, nicht alles zu sehen. Sich stattdessen ganz auf die Stellen zu konzentrieren, die mich gerade interessieren – kann auch gerne mal immer nur die eine Stelle sein.
      Ist das nicht beim Bibellesen auch manchmal so?
    • Wo ist dein G*tt, wenn du in den Darkroom gehst? Bist du froh, wenn G*tt draußen wartet? Oder darf dein G*tt mit rein? Was sagt das alles über dein G*ttesbild?
  • Klappen
    • Orte der Unsichtbarkeit, um sichtbar sein zu können? Oder Orte von Sichtbarkeit, um unsichtbar sein zu können?
      Ist das jetzt eher vergleichbar mit den Jüngern, die sich nach dem Tod Jesu im Haus verschanzt haben? Oder eher mit all den Gleichnissen Jesu, in denen Alltag und Öffentlichkeit plötzlich zu – nicht immer als solche eingeordneten – Räumen für Gottesnähe werden? Oder oder oder…
  • Rosa Winkel
    • Sichtbarkeit pur – und in schlimmster Form und Konsequenz. Sichtbarkeit ist eben nicht immer gleichbedeutend damit, anerkannt zu werden.
      Das Schild auf dem Kreuz Jesu zeugt auch davon.
  • Deadname
    • Warum verschwindet Jesus eigentlich genau in dem Moment, als die Emmaus-Jünger ihn als den identifizieren, den sie von früher erkannt haben? (Lk 24,31)

Hier noch weitere Aspekte; schau einfach mal selbst, was dir dazu in den Sinn kommt:

  • Transition, Angleichung
  • Repräsentation (in Filmen, Büchern, Spielen, etc)
  • übertriebene Anerkennung; auf diesen einen Aspekt reduziert werden; für ALLE mit diesem Aspekt sprechen zu sollen
  • Gaydar
  • Codes (Ohrringe, Kleidung, Sprachmelodie, Sofafarbe, …)
  • Drag
  • Allyship (Wie kann ich als Ally gesehen werden? Ohne selbst falsch einsortiert zu werden?Oder mich „unrechtmäßig“ so zu präsentieren? Oder die Blicke wiederum auf mich als Mittelpunkt zu lenken?)

Wenn du magst, kannst du deine Gedanken und Gefühle gerne bündeln in einem Bild – deiner persönlichen Bezeichnung für Gott. Mach es ruhig wie Hagar und bring DEINEN Blick auf Gott zum Ausdruck.

In der MCC Köln gibt es dafür aktuell ein Fotoprojekt. Du vollendest den folgenden Satz, und Elena und Elke machen dann dazu ein Foto, was IHNEN wiederum dazu einfällt: „Gott ist für mich wie…“ Kosten entstehen dir keine. Hier die Einladung der beiden zum Mitmachen:

Fotoprojekt „Wer ist Gott für Dich?“

„Manchmal erscheint uns Gott ganz nahe, dann wieder weit weg. Manchmal ist sie wie die beste Freundin, manchmal nur noch ein nebulöses Etwas. Und manchmal sogar kaltherzig und lieblos.

Wer ist Gott für Dich?

Dieser Frage wollen wie im Rahmen eines Fotoprojektes nachgehen.

Elena und Elke werden Euren Worten Bilder geben, die dann im kommenden Jahr im Rahmen einer Foto-Ausstellung in den Räumen der MCC gezeigt werden.

Zum Ablauf: Vervollständigt den Satz „Gott ist für mich wie …“ und lasst uns Eure Gedanken per Email umweht@gmx.de zukommen. Wenn Ihr mögt, schreibt Euren Vornamen dazu. Euer Satz plus Name werden auf dem Bild erscheinen. Wenn Ihr nicht möchtet, dass Euer Name genannt wird, setzen wir „Anonymus“ ein.

Der Satz sollte so kurz wie möglich und so lang wie nötig sein.

Beispiele: „Gott ist für mich wie eine warme Decke.“ „Gott ist für mich unmenschlich.“ Oder auch: „Ich erlebe Gott wie ….“

Es geht nicht nur um positive Aussagen. Wenn Ihr im Augenblick mit Gott gar nicht klar kommt, versucht auch das zum Ausdruck zu bringen.

Wäre toll, wenn Ihr dabei seid!“

Anmerkungen

*) Diese Konsequenzen betreffen auch Hagars Sohn. Er stirbt nicht. Der Preis dafür ist, dass Hagar in das alte System zurückkehrt. Ihr Widerstand und Aufbegehren gegen dieses System ist damit allerdings nicht vom Tisch; spätestens ihr Sohn steht dafür, dass dieses System nicht alle und alles vereinnahmen kann:
„Er wird ein Wildesel von einem Menschen sein, seine Hand gegen alle und aller Hand gegen ihn, und allen seinen Brüdern setzt er sich vor die Nase.“ (Gen 16,12 – Zürcher Bibel)
Auch hier wieder: Ich sehe in diesem „Wildesel“ ja eine große Nähe zum ursprünglichen Sinn von „queer“ als pervers, wild, trotzig, ausgegrenzt, …

**) Es passt zum Thema von Sichtbarkeit und Verborgenheiten, dass auch Geschichte oft unsichtbar gemacht wird, insbesondere die Geschichte(n) von Frauen*, BiPOCs, LGBTs, Armen, Ungebildeten, …

Die alte Luther-Konkordanz in meinem Regal ist ein gutes Beispiel dafür:
– 1 Mose 16,13 kommt NICHT vor (HAGAR sagt: „“Du bist ein Gott, der mich sieht.““)
– 1 Mose 32,31 KOMMT vor („ABRAHAM nannte die Stätte ‚Der Herr sieht‘“).
Dabei war Hagar die erste, nicht Abraham!

***) Es gibt ja queere Theorien zu Zeit und Zeitlichkeit (z.B. in: „Sexual Disorientations: Queer Temporalities, Affects, Theologies“, hrsg. Von K.L. Brintnall, J.A. Marchal, S.D. Moore / Fordham University Press 2018).

Also habe ich mich gefragt, ob es auch queere Theorien zu Sichtbarkeit gibt. Nicht im Sinne von: „Wie können queere Strategien und Entwürfe innerhalb normativer Strukturen mittels normativer Strukturen sichtbar sein?“ Sondern im Sinne des Queerens von Sichtbarkeit.

Anscheinend gibt es was dazu; gelesen habe ich es es so schnell aber noch nicht:

Weißt du mehr dazu und über theoretische Ansätze queerer Sichtbarkeit? Dann lass mich bitte davon wissen!! ines-paul.baumann@mcc-koeln.de DANKE!

Nachtrag:

Ich habe in den Predigten und Kommentaren zur Jahreslosung inhaltlich viele gute Aspekte gelesen, z.B.:

Andererseits gibt es aber auch echt Gruseliges (z.B. in die damals übliche, gänzlich unverdächtige Leihmutterschaft heutige Abwehrhaltungen hineinzulesen; Links spare ich mir hier).

Ich fand’s für heute einfach mal spannend, den PROZESS aufzugreifen, der bei Hagar zu sehen (sic! :) ) ist: wie Lebenserfahrungen, Gotteserfahrungen und Theologisieren ineinander greifen.

 

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