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Auf(er)stehen durch und mit Geschichten

Andacht MCC Köln, 11. April 2021
M.

Heute geht es um Auferstehung und die Kraft von Geschichten. Vor zwei Wochen hatte ich am Frühstückstisch eine spannende Diskussion darüber, was Ostern für uns persönlich bedeutet. Ich persönlich fühle darin eben vor allem eine mutmachende Geschichte über das Auf(er)stehen nach Leid und Unrechtserfahrungen, und darüber, wie wir unsere Geschichte nach unseren Erfahrungen weiterschreiben können. Für mich reiht sich Ostern damit als eine von vielen Geschichten ein, die vom Auf(er)stehen handeln. Ich würde heute gerne kleine und große Auferstehungsgeschichten um uns herum miteinander verknüpfen. Ich werde drei Textimpulse vorlesen, wir werden ein Lied hören und es wird Raum für Stille und Zeit mit euch selbst geben.

Gong.

Stille.

Eingangsgebet
Gott*, gib uns nun Raum, für ein gemeinsames Gebet.
Gott*, gib uns nun Raum, für das gemeinsame Wahrnehmen deiner Gegenwart.
Gott*, gib uns nun Raum, für das ganz unterschiedliche Wahrnehmen deiner Gegenwart.
Gott*, gib uns nun Raum, um uns selbst und unseren spirituellen Anteilen begegnen zu können.
Gott*, gib uns nun Raum, gemeinsam Kirche sein zu können.
Amen.

Impuls I: Ostern als Coming Out
Ich möchte anfangen mit einer Auf(er)stehungsgeschichte, die vielleicht einige von uns verbindet: Queere Coming-Outs. Kerstin Söderblom hat in Queertheologische Notizen einen tollen Impuls dazu geschrieben, den ich gerne mit euch teilen möchte:

Herausdrängen
Herausdrängen aus Mauern von Angst und Vorurteilen.
Steine weg wälzen aus Sachzwängen, Befindlichkeiten, engen Grenzen.
Sich endlich trauen, sich zu zeigen, Ich zu sagen, da zu sein, Platz einzunehmen.
So wie ich bin.
So wie Gott mich geschaffen hat
und gesegnet.

Heraus
Heraus aus den Grabhöhlen fester Vorstellungen zeigt sich ein Mensch,
bekennt sich zu sich selbst.
Seht her, so bin ich!
Von Gott gewollt und gesegnet.

Comingout I
Heraus aus den Gefängnissen von Normalitätsvorstellungen.
Was sollen denn die Nachbarn sagen?
Wie kannst du uns das nur antun?
Was haben wir bloß falsch gemacht?
Nicht mehr länger bereit sein, sich zu verstecken,
nicht mehr länger fähig, Masken zu tragen,
nicht mehr länger willig,
sich im Schrank zu verstecken.

Ostern
Da hat es uns einer vorgemacht.
Er ist herausgetreten aus Gewalt, Hass und Tod.
Er hat tödliche Erwartungshaltungen überwunden und uns zugerufen:
Seht, ich lebe, lebt ihr auch!

Comingout II
Heraustreten aus den Grabhöhlen von Vorurteilen, Verleumdungen.
Sich trauen ich selbst zu sein, so wie ich bin,
von Gott geschaffen,
lesbisch, schwul, bi, trans*, inter*, queer*,
ohne Schublade, ohne Etikett, ohne Normalitätssiegel
und gesegnet.
Einfach ich.
Heraustreten aus den Grabhöhlen von Vorurteilen.
Nicht nur an Ostern.

Text: „Herauskommen: Ostern“ aus Queertheologische Notizen (2020) von Kerstin Söderblom, S. 41f.

Stille.

Impuls II: Nanette
Neben Coming-Out-Geschichten gibt es in unserem Alltag noch andere Auf(er)stehungsgeschichten, denen ich Raum geben möchte: Geschichten über das Aufstehen und Weiterschreiben der eigenen Geschichte nach Gewalterfahrungen. Dafür möchte ich einen Impuls aus Nanette von Hannah Gadsby mitgeben, den ich übersetzt und zusammengekürzt habe. Ich werde nicht auf Details ihrer Geschichte eingehen, weil ich niemanden triggern möchte, daher setzt der Impuls am Ende der Geschichte, in der Gegenwart, nach der Leiderfahrung ein. [TW: sexualisierte und queerfeindliche Gewalt]. Hannah Gadsby ist eine Comedienne aus Australien, die ihre eigenen Erfahrungen – als lesbische Frau, die eher maskulin auftritt, als Überlebende sexualisierter Gewalt und als Autistin – in Comedy-Programmen verarbeitet. In Nanette erzählt ihrem Publikum ihre Lebensgeschichte: wie sie sich selbst dafür abgelehnt hat, lesbisch zu lieben, wie sie wegen ihres maskulinen Auftretens auf der Straße verprügelt wurde, und wie sie als Kind und junge Erwachsene sexualisierte Gewalt erfahren hat. Sie selbst sagt im Anschluss folgendes über ihre Geschichte:

Ich erzähle euch das nicht, damit ihr von mir als Opfer denkt. Ich bin kein Opfer. Ich erzähle euch davon, weil meine Geschichte Wert hat. Meine Geschichte ist wertvoll. Ich erzähle euch davon, weil ich will, dass ihr wisst, weil ihr wissen müsst, was ich weiß: Momente, in denen du machtlos gemacht wirst, können deine Menschlichkeit nicht zerstören. Es liegt eine unfassbare Stärke darin, nachzugeben, ohne zu zerbrechen. [Und es gibt nichts stärkeres, als zerbrochene Menschen, die sich langsam wieder zusammenfügen.] Was hätte ich dafür gegeben, eine Geschichte wie die meine zu hören! Nicht um anzuklagen. Nicht für Anerkennung, für Geld oder für Macht – sondern um mich weniger allein zu fühlen. Um mich verbunden zu fühlen. Ich will, dass meine Geschichte gehört wird. […] Anders als oft behauptet, ist nicht Lachen die beste Medizin. Unsere Heilung liegt in Geschichten. […] Und ob ihr wollt oder nicht – eure Geschichte ist meine Geschichte. Und meine Geschichte ist eure Geschichte. Ich habe nicht länger die Kraft, meine Geschichte zu tragen. […Könnt ihr mir beim Tragen helfen?]

Stille.

Lied: Running Up That Hill (A Deal With God) von Kate Bush

Impuls III: Zukunftsträume
Vergangenen Ostersonntag wurde in der Signal-Gruppe unter anderem gefragt:
Was verpassen andere, wenn du deine Geschichte nicht erzählst?
Und was kannst du aus den Geschichten anderer mitnehmen?
Lasst uns da einen Moment drüber nachdenken.

Kurze Stille.

Ich finde, es kann gar nicht so einfach sein, seine Geschichten zu erzählen. Manchmal müssen wir unsere Geschichte erst weiterschreiben, ehe wir andere daran teilhaben lassen können. Die eigene Geschichte weiterschreiben, das ist auch leichter gesagt als getan. Ich glaube, ganz viel beginnt damit, von uns selbst zu träumen.
Es gibt ein Gedicht von Erich Fried, ein Liebesgedicht, das das total schön verkörpert. Fried träumt von einem Du – und dieses Du kann alles sein: Gott*, eine geliebte Person, oder aber wir selbst. Ich würde euch das Gedicht gerne vorlesen, und danach nehmen wir uns noch einen letzten Moment Stille. Bei dem Gedicht geht es nicht so sehr darum, jeden Satz zu verstehen – sondern das Gedicht zieht Kreise und spielt mit Worten; wenn ihr möchtet, könnt ihr die Augen schließen oder eine Kerze fixieren und spüren, was diese Kreise in euch bewegen. Das Gedicht heißt In Gedanken:

Dich denken
und an dich denken
und ganz an dich denken und
an das Dich-Trinken denken
und an das Dich-Lieben denken
und an das Hoffen denken
und hoffen und hoffen
und immer mehr hoffen
auf das Dich-immer-Wiedersehen
Dich nicht sehen
und in Gedanken
dich nicht nur denken
sondern dich auch schon trinken
und dich schon lieben
Und dann erst die Augen aufmachen
und in Gedanken
dann erst dich sehen
und dann dich denken
und dann wieder dich lieben
und wieder dich trinken
und dann
dich immer schöner und schöner sehen
und dann dich denken sehen
und denken
dass ich dich sehe
Und sehen dass ich dich denken kann
und dich spüren
auch wenn ich dich
noch lange nicht sehen kann
– Erich Fried: In Gedanken –

Stille.

Schlussgebet & Segen
Danke, dass ihr euch heute Zeit für mich und meine Ideen genommen habt. Ich würde gerne noch einen Schlusssegen sprechen. Du kannst dich dafür hinstellen, setzen, oder eine andere Position einnehmen, die sich für dich gerade richtig anfühlt.

Gott*, danke, dass du heute bei uns warst.
Danke, dass du bei uns bist, auch wenn wir es nicht spüren.
Danke, dass du auch dann bei uns bist, wenn wir uns verlassen fühlen.
Danke, dass du uns hilfst, unsere Geschichten zu tragen.
Ich bitte dich: öffne unsere Augen,
und unsere Herzen,
damit wir lernen, auch die Geschichten unseres Gegenübers zu sehen.

Gott*, lebendige Quelle von Zärtlichkeit und Widerstand, segne dich.
Gott* segne deine Geschichte.
Möge Gott* dich auffangen, wenn deine Geschichte dich zum Straucheln bringt,
und dich stützen, während du aufstehst.
Möge Gott* dir deine Wunden verbinden, deine Tränen trocknen, dich im Arm halten und trösten,
bis du bereit bist, weiterzugehen.
Möge Gott* dir Gefährt*innen und Geliebte an die Seite stellen, die dich begleiten, deine Geschichte
mit dir weiterschreiben und sie für dich tragen, wenn dir die Kraft fehlt.
Gott*, lebendige Quelle von Zärtlichkeit und Widerstand, segne dich.
Gott* segne deine Geschichte.
Amen.

Gong.

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