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Das Thema Glaube und Kirche hakte sie ab. Wenn Gott sie nicht wollte, wie sie war, dann wollte sie auch diesen Gott nicht.

Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?
Hiob 4,17

Anne war entsetzt. „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“, ausgerechnet dieser Vers wurde ihr heute im Gottesdienst präsentiert. Jahrelang hatte sie von Kirche Abstand genommen, nach Wochen des Zögerns setzte sie heute das erste Mal wieder einen Fuß in einen Gottesdienst, und jetzt das. „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“

Was war ihr anhand dieses Verses nicht schon alles erklärt worden.
Von Kind auf hatte sie gelernt, dass sie nichts wert sei:
Als Mädchen nicht so viel wert wie die Jungs,
als Frau ohne Mann nicht so viel wert wie die anständigen Leute
– aber auch ohne diese Vergleiche war sie nichts wert.
Sie war eben einfach an sich nichts wert.
Ihre Eltern, der Pfarrer ihrer Dorfkirche und selbst die Religionslehrerin – alle, die sie „zum Glauben erziehen“ wollten, hatten ihr das gleiche Bild eingetrichtert:
Gott ist groß, du bist klein:
Gott ist heilig, du bist falsch;
Gott ist mächtig, du bist unfähig.
Bilde dir bloß nichts auf dich ein. Denn – und dann kam immer dieser Vers: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott!“

Lange war ihr gar nicht aufgefallen, was das mit ihr angerichtet hatte. Es war eben so. Ihre Kindheit und Jugend war von diesen Bildern geprägt. Selbst als junge Erwachsene rebellierte sie lange nicht. Zumindest nicht gegen dieses Selbstbild. Dass sie mit ihrer Freundin zusammenzog und keinen Hehl mehr daraus machte, dass das nicht nur irgendeine Freundin war, sondern ihre Geliebte, das war schon so etwas wie eine Rebellion in den Augen ihrer Eltern. Aber dass sie damit ERST RECHT gegen Gott verstoßen würde und ERST RECHT nicht gerecht sein könnte vor Gott, das zog sie nicht in Zweifel. Stattdessen zog sie einfach weg. Weg aus der Enge des Dorfs, weg aus der Enge des Glaubens, weg von allem. Das Thema Glaube und Kirche hakte sie ab. Wenn Gott sie nicht wollte, wie sie war, dann wollte sie auch diesen Gott nicht.

Langsam, ganz langsam nur stellte sie sich ihren Verletzungen. Ihrem Selbsthass. Ihrem Zwang, sich ständig und für alles schuldig zu fühlen. Ihrer inneren Rastlosigkeit, anderen nie zu genügen, und das durch Freundlichkeit und Fleiß ausgleichen zu wollen.

Wie befreiend war es da, zu entdecken, dass sie ein Selbst hatte. Dass sie Gaben hatte. Dass sie einen Wert hatte. In eine Spritualität einzutauchen, in der es keinen Gott gab. Endlich war sie frei, ganz bei sich, nur sie und ihre Möglichkeiten. Wie wohltuend war es zu entdecken, dass auch sie Potentiale hatte. Ihr ganzes Lebensgefühl änderte sich. Sie wurde selbstbewusster. Sie kleidete sich anders, sie ging anders, sie redete anders. Ihre Umgebung nahm das natürlich auch wahr. Im Job wurde sie befördert. Im Restaurant waren die Kellner zuvorkommender zu ihr. Sie wurde angemacht von Frauen, die so schön und attraktiv und selbstsicher und erfolgreich waren, dass sie sich früher sofort klein gefühlt hätte neben ihnen – mittlerweile fühlte sie sich ihnen ebenbürtig. Als sie anfing, die Bewunderung dieser Frauen nicht nur zu genießen, sondern sich mit dem einen oder anderen Techtel auch bestätigen zu lassen, ging ihre langjährige Beziehung mit ihrer ersten Freundin in die Brüche. Ihr Kummer hielt sich in Grenzen – nun war sie wenigstens frei für ihr neues, aufregendes Leben. Plötzlich schien ihr alles möglich zu sein! Die Welt gehörte ihr und ihren neuen Freundinnen!

Die ersten Risse in dieser heilen Welt leugnete sie erst mal. Da war beispielsweise die Kollegin, die drei Tage nicht zur Arbeit erschienen war. Alle rätselnden. Immer gut gelaunt war sie gewesen, ging voll in ihrer Arbeit auf, selbst nach Feierabend arbeitete sie oft noch etwas aus, dazu trieb sie noch Sport, eine tolle Figur hatte sie, fast wie die Models auf den Plakaten, das beste Beispiel für ein gelungenes tolles Leben. Dass ausgerechnet diese Kollegin mit schweren Esstörungen und Depressionen nun statt auf der Arbeit in der Klinik in Psychisch Kranke war, das wertete Anne – als Ausnahme.

Den kurzen Schock steckte sie gut weg. Auch dank der Ablenkung durch zwei Freundinnen aus ihrem Bekanntenkreis. Die waren seit ein paar Monaten dabei, sich mithilfe von Samenspenden ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Anne war ganz aufgeregt, was heutzutage alles möglich war. Eine Schwangerschaft ganz ohne Mann! Naja, fast zumindest. Das, was sie von dem Mann brauchten, hatten sie ja. Viele in ihrem Bekanntenkreis hatten auf diese Weise schon Kinder bekommen. Entzückende wunderbare kleine winzige Menschenwesen, geliebt in den Armen getragen ihrer übernächtigen, aber glückseligen Mütter. Wie anders war das als die Enge, die sie selbst in ihrer Kindheit erlebt hatte – mit einem Vater, der immer arbeiten war, und einer Mutter, die Wert darauf legte, dass Frauen lange Haare und Kleider trugen. Die Rollen waren klar aufgeteilt, alles perfekt eingespielt, aber die Spannungen zwischen den beiden explodierten nicht nur an Weihnachten. Wie anders waren da diese Regenbogenfamilien! Familien, die sich wirklich aus Liebe gründeten, die sich mit ihren Kindern wirklich Wünsche erfüllten, in denen die Eltern miteinander und gleichberechtigt waren. Endlich konnte Anne sehen, dass Familienleben tatsächlich schön sein konnte.
Und nun noch ihre beiden besten Freundinnen! Monat für Monat fieberte Anne mit. Hatte es diese Mal geklappt? Nein, wieder nicht. Immer noch nicht. Seltsam. Alle Untersuchungen konnten kein Problem finden. Rein medizinisch gesehen hätte die Schwangerschaft schon längst klappen müssen. An Annes Gefühl von „alles ist möglich“ begann etwas zu nagen. Sie versuchte, das Gefühl zu verdrängen. Aber der Anblick der kleinen Babies ließ in ihr ungewohnte Gedanken aufkommen. Das einzige, was die machten, war Atmen, Schlafen, Essen und Verdauen. Und das war genug, um froh und dankbar zu sein! Jeder Morgen, an dem diese kleine Wesen am Leben waren, bedeutete unendliches Glück. Etwas, das Menschenhände zwar pflegen, aber nicht herstellen konnten. Ein Geschenk. Aber von wem sollten sie es annehmen? Anne wurde schleichend bewusst, dass es doch noch einiges gab, was außerhalb ihrer Möglichkeiten und Kräfte stand.

Auch mit ihrem gerade laufenden Kurs bei der Meisterin für innere und äußere Selbstentfaltung fühlte sie sich nicht mehr so wohl wie früher. Unmengen Zeit und noch mehr Geld hatte Anne mittlerweile in diese Kurse gesteckt – aber jetzt, wo sich Fragen und Zweifel und eine unbestimmte Leere in ihr Leben einzuschleichen schienen, da fand sie dort keinen Raum und keine Antworten. Anne fragte sich, ob die Entfaltung ihrer Potentiale vielleicht gerade an eine Grenze stieß. Geradezu ketzerisch fühlte sie sich, als sie nicht mehr nach ihrem höheren Selbst sich sehnte, sondern nur danach, auch so sie selbst sein zu dürfen. Sie wollte nicht mehr immer weiter müssen, immer an sich arbeiten, sich immer weiter entwickeln, sich immer ihre Möglichkeiten vor Augen halten, immer an sich selbst glauben.

Und so hatte sie sich eben entschieden, nach all den Jahren mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen. Und nun stand da dieser Vers: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“

Anne dachte nach. Irgendwie war es ja auch lustig, dachte sie plötzlich. Wenn wirklich kein Mensch, also wirklich kein einziger Mensch, vor Gott gerecht sein konnte, dann musste das ja wirklich für alle Menschen gelten. Egal, ob das Männer waren oder Frauen, ob sie oft in der Kirche waren oder selten, ob sie selbstbewusst waren oder nicht – alle! Dann konnte sich auch niemand über sie erheben und ihr einflüstern, dass Menschen, die heterosexuell lebten, vor Gott eben doch ein bisschen gerechter dastehen würden als solche, die homosexuell lebten. Das würde ja gar keinen Unterschied machen! Die ganzen moralisch „guten“ Menschen und ihre Darstellungen von den moralisch „bösen“ anderen wäre hinfällig! Sie alle würden schließlich im selben Boot sitzen! Dem ganzen Richten und Abwerten von anderen wäre der Boden entzogen!

Anne begann, diesen Vers zu mögen. Sie entspannte sich ein bisschen und lehnte sich schmunzelnd zurück. Sie war hier nicht schlechter als alle anderen um sie herum. Verstohlen blickte sie um sich. Alle diese Superchristen waren auch nur Menschen. Auch nur Menschen! Auch nur Menschen! Anne fühlte sich plötzlich wie mit 11, als sie nach der Schule auf dem Spielplatz herumgetanzt, die Namen ihrer Lehrer gerufen und ihnen die Zunge herausgestreckt hatten. „Auch nur Menschen, auch nur Menschen!“
Anne riss sich zusammen. Schließlich war sie hier in einer Kirche. Und wenn all die Menschen um sie herum nicht das Recht hatten, so zu tun, als seien die besser als sie, so hatte auch sie nicht das Recht, so zu tun, als sei sie besser als die.

Trotzdem fühlte sie sich schon freier. Sie atmete tief durch. Und nach und nach fielen auch die anderen Ansprüche und Regeln von ihr ab. Der ganze Drang zur Selbstbehauptung und sich durchzusetzen ließ nach. Warum sollte sie noch so tun, als wäre sie immer nur die Starke? Hier brauchte sie nicht mehr so zu tun, als wäre sie immer zu allem in der Lage. Hier brauchte sie nicht gut drauf zu sein, zu funktionieren, andere zu beeindrucken. Wenn sie nicht mal Gott beeindrucken konnte, wen sollte sie dann beeindrucken müssen? Hier konnte sie einfach nur Anne sein, Anne mit ihren Grenzen, Anne mit ihren Abgründen, Anne mit ihren Gefühlen, Anne mit ihren Zweifeln, Anne mit ihren Ängsten. Hier musste sie sich nicht mehr größer machen als sie ist – aber auch nicht mehr kleiner, als sie ist: denn ob sie groß oder klein war, war ja gerade nicht der Maßstab, mit dem Gott sie anschaute! Endlich konnte Anne so groß und so klein sein, wie sie war! In manchem toll und stark und groß, und in manchem klein, schwach, irrational und unverständlich. Das ist es nicht, was Gott gegenüber eine Rolle spielt!
Noch nie zuvor hatte sich Anne von Gott so wahrgenommen gefühlt. So umfassend, so ganzheitlich, so wahrhaftig, so authentisch. Das war etwas ganz anderes als die früheren Gefühle von falsch oder richtig. Von gut oder schlecht. Hier musste nicht alles gut sein, sie musste nicht in allem gut sein. Gott sah sie einfach an, wie sie war. Sie wusste, Gott würde ihr manches zu sagen haben, und manches in ihrem Leben würde sie einer völligen Umkehr unterziehen. Aber dazu musste sie nicht mehr auf ihre Kraft bauen, sie würde es nicht mehr tun, UM von Gott gesehen zu werden. Nein, WEIL Gott sie sah, und weil Gott sie so umfassend und wahrhaftig sah, das würde alles verändern. Dass Gott sie so umfassend sah und dass Gott sie genau damit annahm, daraus ergab sich ein gänzlich neuer Bezug zu Gott. Da, wo vorher Regeln und Vergleiche geherrscht hatten, ein System von Wertigkeiten und Belohnung, da kehrte plötzlich eine Wahrheit ein, die befreiend war. In Annes Herz kehrte ein Frieden ein, den sie vorher nie gekannt hatte.
Anne fiel ein Vers aus dem alten Testament ein, und ihr war, als würde Gott diesen Satz gerade nur für sie sprechen (Jer. 31,3):

Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.

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