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Nicht: „im Himmel STATT auf Erden“!

Predigt MCC Köln, 2. August 2020
Ines-Paul Baumann

Psalm 115,15-18

Der Psalm 115 erlaubt sich einen Gedanken, der in manchen christlichen Glaubensgebäuden keinen Platz mehr hat. Der Glaube in diesem Psalm kommt ganz ohne die Idee von einem Jenseits aus, in dem die Toten in den Himmel kommen und dort Gott preisen. In den Worten von Psalm 6: „Denn im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?“ (Ps 6,6 Lutherbibel)

Diese Überlegung taucht in der Bibel durchaus öfter auf. Aber wie so vieles haben solche Fragen oft keinen Platz mehr im christlichen Glauben. In unserem „Fragt-mich-was“-Monat IST aber eine ähnliche Frage aufgetaucht: „Darf der Glaube an das Jenseits so wichtig sein, dass ohne Jenseits der ganze Glaube in Frage steht?“

„Glaube an das Jenseits“ ist ja eine sehr offene Formulierung. Zum einen verbinde ich damit ein Leben nach dem Tod. Zum anderen ist das Jenseits in vielen Vorstellungen quasi der „Wohnort“ Gottes. Was passiert mit unserem Glauben, wenn es dieses Jenseits nicht gäbe? Wie wichtig ist das Jenseits für meinen Glauben heute im Diesseits? Wie wichtig ist der Himmel für meinen Glauben auf Erden?

Oft geht es im christlichen Glauben hauptsächlich darum, dass wir im Diesseits die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, im Jenseits dann im Himmel zu landen statt in der Hölle. So ein Glaube ist ganz auf das Jenseits ausgerichtet. (Und auf die eigene Absicherung, wie ich finde. Steht da wirklich Gott im Mittelpunkt? Wird Gott da um seiner selbst willen gelobt und geliebt? Oder nicht eigentlich um meiner selbst willen?)

Trotzdem nimmt der Himmel im biblischen Glauben ja tatsächlich viel Raum ein. (Schönes Wortspiel.) Ständig wird vom Himmel her argumentiert. Mir kommt das manchmal vor wie Erziehungsmaßnahmen (von Eltern gegenüber Kindern, oder in der Schule, oder mit Gefängnissen): Die Androhung von Strafe oder Belohnung soll dazu dienen, das Verhalten auszurichten. Das Ziel ist gar nicht so zukunftsbezogen, sondern die Gegenwart soll sortiert werden. Dann wäre das Jenseits wichtig, um das Diesseits zu verändern. Unabhängig davon, ob es dieses Jenseits dann wirklich gibt oder nicht: Das Diesseits wäre so oder so davon beeinflusst.

Ich glaube nicht, dass Jesus darauf aus war, Gott oder sich selbst als so einen Zuchtmeister darzustellen. Ich glaube aber wohl, dass unsere Vorstellungen vom Jenseits unser Verhalten im Diesseits beeinflussen. Ich persönlich denke dabei an Vorstellungen wie diese: Ein Gott in einem Himmel, in dem Schmerz, Leid und Geschrei ein Ende haben werden (Offenbarung 21,4). In dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen (wenn denn schon irgendwas oder irgendwer „herrschen“ muss, dann doch bitte das). Dann haben Unrecht und Gewalt eben NICHT das letzte Wort. Dann sind die Opfer eben NICHT auf ewig zum Schweigen gebracht. Dann FINDE ich Trost inmitten von untröstlichen Umständen. Und ja, all das verändert etwas. Schon jetzt. Dann STEHE ich wieder auf. Dann MACHE ich weiter. Und ganz am Ende, dann KANN ich loslassen und mich fallen lassen in die liebenden Arme Gottes. Das IST ein anderes Sterben als ins Nichts hinein (auch für die Hinterbliebenen).

Für mich persönlich war der christliche Glaube tatsächlich entscheidend dafür, das Leben im Diesseits überhaupt anzunehmen. Spätestens in meiner Jugend spürte ich in aller Unerbittlichkeit, dass es für mich kein Leben als Erwachsene geben könnte. Erwachsene, das waren Männer ODER Frauen, und ihr ganzes Leben war danach sortiert. Beziehung, Beruf, einfach alles. Da ich weder Mann noch Frau werden wollte, gab es für mich keinen Platz in dieser Welt. Selbst Schwule und Lesben waren Männer ODER Frauen. Und die meisten Transmenschen auch, nur eben andersherum als ihnen bei Geburt zugewiesen, aber dann eben doch: Mann ODER Frau. Mit 14 dachte ich tatsächlich, Sterben wäre interessanter als Leben. Ich war nicht verzweifelt oder so. Ich war eher neugierig – und das, was beim Sterben passieren würde, fand ich allemal spannender als das, was das Leben für Erwachsene zu bieten hatte. Mir ging es gar nicht darum, dass alle Menschen von Grund auf böse seien; das glaub(t)e ich nicht. Oder dass Menschen von Grund auf und immer zum Guten fähig seien; das glaub(t)e ich auch nicht. Mir fehlte eher insgesamt der Glaube ans Menschsein. Ich hatte überhaupt keinen Glauben an ein Leben vor dem Tod.

Als ich dann den christlichen Glauben kennenlernte, gab es das erste Mal einen Platz für mich. In Christus sind wir nicht Männer und Frauen! (Galaterbrief 3,28) Hurra! Statt erwachsen zu werden, wurde ich Christ!

Und plötzlich drehte sich meine gesamte Blickrichtung um. Mit dem auferstandenen Christus kehrte bei mir nicht nur der Glaube an ein Leben nach dem Tod ein, sondern auch der Glaube an ein Leben vor dem Tod. Kaum glaubte ich an Gott, sah ich einen Gott, der an uns Menschen glaubt. Der Gott, der mir in Jesus begegnete, war Mensch geworden. Aus Liebe zu uns Menschen. Wenn in Christus Gott Mensch wurde, dann bedeutete das für mich: Wenn ich Christus nachfolgen will, muss und kann ich Mensch werden. Was mir allemal besser schien, als Mann oder Frau werden zu müssen ;)

Ich weiß nicht, ob und wie ich einen Glauben an das Diesseits entwickelt hätte ohne meinen christlichen Glauben an ein Jenseits. Insofern habe ich das Jenseits schon gebraucht. Für mich war das Jenseits der Weg ins Diesseits.

Auch Jesus war nicht auf das Jenseits an sich fixiert, sondern lebte und wirkte ganz im Diesseits. Alles, was Jesus für uns getan hat, was Jesus für uns ist, was Jesus uns an Leben ermöglicht hat, das hat er alles VOR seinem Tod ermöglicht. Nichts davon war davon abhängig, dass er erst hätte sterben müssen. (So weit zum „Opfer“, das Gott angeblich gebraucht hätte.) Abendmahl, VaterUnser, Ruf zur Umkehr, Vergebung, Heilungen, Reich Gottes: in Jesus wurde das alles im Diesseits zugänglich. Wie hat Jesus uns zu beten gelehrt (Matthäus 6,10): „Gott, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Nicht: „im Himmel STATT auf Erden“!

Gott ruft uns nicht nur in ein Leben nach dem Tod – sondern auch in ein Leben vor dem Tod. Nimm dir dafür so viel Jenseits, wie du für das Diesseits brauchst. Das Jenseits hat genug davon. Und wenn sich dein Diesseits dem Ende neigt, dann steht dir das Jenseits immer noch offen. In Christus ist Gott bei dir – im Sterben, aber auch alle Tage davor.

Kleiner Lesetipp: „Die Gegenwart des Verlorenen. Zur Rede vom ‚Paradies‘ im Neuen Testament“ von Marlene Crüsemann in „Gott ist Beziehung“, herausgegeben von Claudia Janssen und Luise Schottroff (Gütersloher Verlagshaus 2014)
 

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