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Mit aller Vielfalt gegen Whiteness als herrschendes Standardmodell (oder: wenn aus Integration Vereinnahmung wird)

Predigtimpuls MCC Köln, 18. Dezember 2022
Ines-Paul Baumann

4. Advent / Chanukka Fest / Internationaler Tag der Migrant*innen

Hinweis zum Content: Zum Teil werden Aspekte aufgegriffen, die in unserer Gesellschaft als körperlich relevant präsentiert sind und darüber Wirksamkeit entfalten, z.B. Rassifizierung anhand von Hautfarben und an einer Stelle auch Geschlechterschubladen anhand von Genitalien.

Hinweis zu meiner Perspektive: Ich spreche aus weißer Position.

Als cis-national und mono-lingual verortete Person kann ich den Horizont an Erfahrungen und Expertisen von Migrant*innen nicht teilen, nicht erfassen und nicht zur Sprache bringen. Ich empfinde aber ein großes Unbehagen, wenn der Blick auf „Integration“ verengend verstanden wird als Anpassungsleistung an eine Kultur, die rassifizierend und kolonialisierend ihre eigenen Mehrheitsverhältnisse als repräsentativ und standardisierend verstanden hat und versteht.

Der Umgang westeuropäischer Kirchen in und mit der Geschichte Jesu ist ein Beispiel hierfür. Mit Bethlehem als Geburtsort kommt Jesus eigentlich aus Palästina aus dem Nahen Osten. Heute ist Jesus in der westeuropäischen weißen Wahrnehmung und Repräsentation „einer der ihren“. Was für eine Integrationsleistung! Oder was für eine Vereinnahmung? Und was bedeutet das für den Umgang mit diesem Jesus heute?

Beginnen wir mit einem fiktiven Bericht einer fiktiven Integrationsagentur über das Leben dieses Jesus:

„Nehmen wir als Beispiel diesen Jungen aus Palästina im Westjordanland.

Schon seine Herkunftsfamilie weist problematische Züge auf. Schon bei der Schwangerschaft war klar, dass der Verlobte der Mutter nicht der leibliche Vater des Kindes war. Trotzdem heiratet er seine Verlobte und nimmt sich des Kindes mit an. Die wahren Verwandschaftsverhältnisse bildeten früh Grund für Spekulationen.

Kurz nach der Geburt fliehen die Eltern mit dem Kind in ein anderes Land. Niemand von ihnen ist dort heimisch, sie haben dort keine Verwandtschaft, und sie werden dort auch keine Wurzeln fassen. Schon bald kehren sie zurück.

Das Kind entwickelt auffällige Züge. Mit 12 Jahren haut es das erste Mal von zuhause ab. Seinem eigenen Alter völlig unangemessen sucht er Kontakt zu Erwachsenen auf deren Augenhöhe. Später werden sich deutliche Schwierigkeiten im Empfinden und Benennen von Familienzugehörigkeiten zeigen. Die Herkunftsfamilie wird verleugnet; stattdessen stehen die eigenen Interessen und Werte im Mittelpunkt bei der Suche nach Weggefährt*innen.

Der junge Mann zieht sich immer mehr in eine Parallelwelt zurück. Berufliche Perspektiven scheinen für ihn keine Rolle zu spielen. Von einem Aufbau einer Paarbeziehung zu einer Frau ist nichts bekannt. Zusammen mit 12 Männern zieht er durchs Leben. Die Leitkultur und Grundwerte der gegenwärtigen Gesellschaft ignoriert diese Gemeinschaft. Stattdessen wird wortreich Gegenpropaganda verbreitet. Der junge Mann entwickelt sich im Kreis seiner Anhänger zum charismatischen Anführer. Auch auf die Mitte der Gesellschaft soll Einfluss genommen werden. Es dauert nicht lange, da wird er sogar handgreiflich und begeht Sachbeschädigung. Zu seinen Motiven befragt schweigt er nur.

Alle Versuche, diesen jungen Mann in die Mitte der Gesellschaft zu integrieren und ihm Teilhabe am normalen sozialen Leben zu ermöglichen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Nur wenige Jahre nach seinem dreißigsten Geburtstag stirbt er als verurteilter Krimineller den Kreuzestod.

Um so erstaunlicher und bemerkenswerter ist die Geschichte seiner Integration beim Rückblick auf sein kurzes Leben. Es gelang schon bald, aus dem Jungen fremder Herkunft dann doch „einen von uns“ zu machen – so gut, dass sogar seine Haut- und Haarfarbe unserer Mehrheitsgesellschaft angepasst werden konnten. Die Geschichte eines nicht integrierbaren Außenseiters wandelte sich in eine beispiellose Geschichte der Integration in bestehende Werte und Strukturen. Aus dem Aufrührer, der sich gegen die Gepflogenheiten des Status Quo stellte, wurde eine tragende Säule beständiger Machtverhältnisse.

An seinem Beispiel können wir lernen, wie sehr sich der Einsatz für männliche, auffällige Außenseiter lohnen kann. Auch wenn der Weg nicht ganz reibungslos verlief und die eigenen Selbstverständlichkeiten manchmal so angegriffen werden wie von so einem wortgewaltigen und geschickt auftretendem Überzeugungstäter. Ob im persönlichen Gespräch oder vor tausenden von Leuten, stets wusste er zu beeindrucken, Hoffnungen zu wecken und als Sympathieträger aufzutreten.

In manchen Kreisen wurde er gar als Heiliger verehrt. Seinen Anhänger*innen schien er mehr Gott als Mensch zu sein. Sogar innerhalb seiner Unterstützer*innen wurde deswegen alsbald intensiv diskutiert, wie dem mit wissenschaftlichen Argumenten zu begegnen sei. Seiner (gewünschten und bekämpften) Wahrnehmung als Gott war nichts mehr entgegenzusetzen. Manche seiner Unterstützer*innen sahen aber eine Gefahr darin, seine Darstellung nur auf diese Perspektive zu reduzieren – ein für sie wesentlicher Teil seiner Bedeutungsstärke drohte darüber verloren zu gehen: Wie hätte ein Gott wahrlich sterben können? Nur wenn ihr Idol wirklich und wahrhaftig gestorben war, würde er auch als Auferstandener wirklich angebetet werden können.

Es waren also vor allem innere Kreise, die sein Wesen als Mensch wieder in Erinnerung zu rufen suchten. Sichtbares Zeugnis dieser Ansätze sind Gemälde, die in ihre Darstellungen des jungen Mannes in aller Deutlichkeit einflochten, was in ihrer Kultur als sichtbares Zeichen eines lebendigen, potenten junges Mannes schlechthin galt: einen eregierten Penis (https://www.artnet.com/artists/maerten-jacobsz-van-heemskerck/christ-the-man-of-sorrows-ByDRdAELNeFWudTOkgcGTw2)

Das damalige Anliegen seiner Anhänger, ihn als wahrhaftigen Menschen darzustellen, war zu diesem Zeitpunkt längst verflochten mit einer Kulturgeschichte in Westeuropa, die von ihm als einem Menschen erzählte, der genau so war wie sich die Mehrheitsgesellschaft selbst sah: Als Figur für Menschen schlechthin galten damals Männer, und zwar weiße Männer.

Wie gelungen die Integration des jungen Mannes in die eigene Mehrheitsgesellschaft damals schon war, zeigt sich spätestens hier. Der weiße junge Mann war einer der ihren; alle durften Umgang mit ihm haben, auch Frauen und Kinder. Wäre er immer noch als junger Mann aus dem Nahen Osten wahrgenommen worden, gäbe es bis heute Tendenzen, ihn in einer Mischung aus Orientalismus, Rassismus und Sexismus zu einer Bedrohung zu erklären.

Hier sehen wir, was gelungene Integrationsarbeit bewirken kann: Statt als Aufrührer oder als Bedrohung ist der junge Mann mittlerweile auf vielen Ebenen als tragende Säule ins gesellschaftliche Leben integriert.“

Diese geschichtliche Entwicklung schlägt sich bis heute nieder. Jesus ist in vielen Darstellungen immer noch ein weißer Mann. Auch wenn er das so nie war, an sich. Ich finde hier zwei Aspekte wichtig:

1. Was ich daran nachvollziehenswert finde: Vorausgesetzt, Gott wollte sich in Jesus Menschen gegenüber bewusst als einer von ihnen zeigen. Da Menschen nicht alle gleich sind, kann bzw. muss dieses „einer von ihnen sein“ sich natürlich unterschiedlich darstellen. Ganz offensichtlich haben zumindest weiße Männer keine Bedenken davor gehabt, aus einem jungen Mann aus dem Nahen Osten eine Figur zu machen, die ihnen selbst ganz entspricht (nicht nur äußerlich, auch ihre Blickwinkel und Perspektiven legen sie in sein Leben und Wirken hinein). Wenn weiße westeuropäische Männer sich also einen Jesus entwerfen dürfen, der ihnen ganz entspricht, warum sollten das andere nicht auch tun dürfen – Frauen*, BiPocs, Latinx, nichtbinäre, asiatische Menschen etc?

Nur: Wenn weiße männliche Westeuropäer so wenig Probleme damit haben, die ihnen entsprechende Version von Jesus dem ganzen Rest der Menschheit als Ideal vorzulegen, wo kommt dann die Verwunderung her, wenn SIE zur Begegnung mit einem Jesus eingeladen werden, der anderen mehr entspricht als ihnen?

Womit ich nicht dazu einladen möchte, dass sich ALLE jeweils als repräsentativen Maßstab für die gesamte Menschheit sehen sollen. DAS ist die bereits ansgesprochene Ebene des Standardmodells – an das ich nicht glaube.

2. Und damit sind wir schon beim zweiten Aspekt. Hier geht es nicht mehr nur darum, dass sich G*tt mit mir verbindet und mir so begegnet, dass ich „daran anknüpfen“ kann. Sondern genau darum, dass gerade wegen unserer unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen keiner davon als Maßstab für alle anderen dienen kann.

Jesus selbst ist Menschen individuell unterschiedlich begegnet – und zwar nicht abhängig z.B. von geschlechtlichen oder rassifizierenden Zuordnungen. Sondern abhängig davon, was z.B. derlei geschlechtliche und rassifizierende Zuordnungen in ihrer Gesellschaft für Wirkungen entfalteten.

Jesus rief nicht ALLE Menschen dazu auf, ihr Leben zu ändern.
Jesus fragte auch nicht ALLE Menschen, was er ihnen tun sollte.
Jesus rief nicht ALLE Menschen dazu auf, ihm nachzufolgen.
Er schickte auch nicht ALLE zurück in das Leben, aus dem sie kamen.

Jesus MACHTE Unterschiede, aber nach einem anderen Maßstab: Er achtete darauf, ob Menschen im bestehenden System von gesellschaftlich relevanten Unterschieden ihre Privilegien behalten wollten – oder ob sie darunter litten.

Wir können den Jesus, den die Bibel zeichnet, bis heute gerne durchaus so zeichnen, dass er uns jeweils gleich wird, mit all unseren Unterschieden. Aber wir können nicht übersehen, dass Jesus unterschiedlich damit umgeht, was diese Unterschiede aus uns und unserem Umgang miteinander und mit uns selbst machen.

Es ist eben nicht das Ziel Jesu, dass alle Menschen sich erst den Äußerlichkeiten und Werten einer vermeintlichen „Normalität“ anpassen müssen, um Wertschätzung und Anerkennung zu erfahren.

Jesus erkennt unsere Unterschiede an. Und er kennt, was für Unterschiede diese Unterschiede machen. Aber sein Ziel beim Anerkennen dieser Unterschiede ist, dass sie in Bezug auf unseren Wert und unsere Bewertungen eben nicht mehr den entscheidenden Unterschied machen.

Literatur:

  • Wie ist Jesus weiß geworden?: Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus“
    von Sarah Vecera (Patmos Verlag; 2022)
  • „Jesus war kein Europäer: Die Kultur des Nahen Ostens und die Lebenswelt der Evangelien“
    von Kenneth E. Bailey (SCM R.Brockhaus; 2021)
  • „Against White Feminism: Wie ‚weißer‘ Feminismus Gleichberechtigung verhindert“
    von Rafia Zakaria (hanserblau; 2022)

Jede Menge Bilder findet ihr z.B. auf diesen Seiten:

 

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