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Intersexualität ist kein Modethema linksliberaler Gruppen, sondern so alt wie Gott.

Predigt MCC Köln, 8. November 2020
Arne Siebert & Manfred Koschnick

1. Korintherbrief 15,40-44,48-49,52b-53 *)

Manfred: Sag mal, ist Intersexualität womöglich nur ein vorübergehendes Modethema linksliberaler Gruppen?

(Pendelschlag)

Arne: Nein, das ist es nicht. Schon im 19. Jhdt. beschrieb der Katholik Abel Barbin, wie er als Herculine aufwuchs. Am 8.11.1838, also vor genau 182 Jahren geboren und als Mädchen aus einfachen Verhältnissen erzogen, verliebte die Klosterschülerin sich schon mit 12 Jahren in eine Mitschülerin. Später wurde sie selbst Lehrerin an einer Mädchenschule und verliebte sich in eine andere Lehrerin. Erst mit 22 Jahren wurde sie aufgrund starker Schmerzen untersucht und erfuhr, dass sie auch männliche Geschlechtsmerkmale hatte. Damit war Abel Barbin, so sein neuer Name, 1860 wohl der erste Mensch in Frankreich, dessen neue Geschlechtszugehörigkeit gerichtlich anerkannt wurde. Mit noch nicht einmal 30 Jahren wurde Abel Barbin im Februar 1868 nach seinem Selbstmord tot aufgefunden. Die selbst verfassten Memoiren wurden erst 1976 vollständig und mit weiteren Quellen durch den Philosophen und Sexualhistoriker Michel Foucault veröffentlicht.

(Pendelschlag)

Arne: Doch kirchengeschichtlich gibt es noch ein früheres Beispiel der geschlechtlichen Uneindeutigkeiten. Vor einem Jahr machte mich die Theologin Irene Löffler beim Regenbogenforum auf die Heilige Kümmernis aufmerksam. Der Legende nach war die Heilige Kümmernis eine schöne Frau, die von ihrem Vater zur Heirat gezwungen wurde. Doch sie betete, sie wolle nur Gott allein dienen. Da wuchs ihr ein Bart. Man ließ sie kreuzigen, wie es diverse Kümmernis-Bilder seit dem 13. Jahrhundert in Europa zeigen. Hauptsächlich wurde die Kümmernis von Frauen angebetet. Vielleicht, weil sie sich durch eine gekreuzigte Frau und ihrer Legende eher in ihrer Unterdrückung wahrgenommen fühlten als durch Jesus am Kreuz. Ja, es ist eine frühe Erzählung über Emanzipation, doch sicher auch eine Form von Intersex, lange bevor Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest als Frau mit Bart auftrat. Die Geschichte lehrt uns, dass Diversität ein von Gott gegebenes Geschenk sein kann.

(Pendelschlag)

Arne: Spötter sagen, Gott sei eine Erfindung des Menschen. Gläubige sagen, Menschen seien eine Erfindung Gottes. In Michelangelos weltberühmten Bild von der Erschaffung Adams taucht ein weiterer Aspekt auf. Die Bibel sagt, Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbilde. Historiker wie Ross King, Roy Doliner und Benjamin Blech **) zeigen, dass unter Gottes auffällig wallendem Gewand in Michelangelos Werk weibliche Brüste verdeckt sein müssen. Sie symbolisieren Gottes Übergeschlechtlichkeit, so dass Begriffe wie Herr und Vater nie die Bandbreite seiner Möglichkeiten abbilden. Diese Vielfalt Gottes ist unser Ebenbild. Auch Eva ist im Bilde Michelangelos als Idee schon gleichzeitig mit Adam Teil des göttlichen Plans.

(Pendelschlag)

Manfred: Intersexualität ist also kein Modethema linksliberaler Gruppen, sondern so alt wie Gott. Das hin und her schwingende Pendel einer Uhr erinnert uns daran, dass es nie nur eine Richtung gibt, in der Mensch und Gott verstanden werden.

(Pendelschlag)

Manfred: Aber ist das bipolare Pendel schon alles oder gibt es noch eine 3. Dimension? Was sagt das Neue Testament dazu?

Arne: Im 1. Brief an die Korinther, Kap. 15, Vers 40-53 schrieb Paulus, dass es nach dem irdischen, natürlichen Körper, nach der Auferstehung einen geistlichen Leib gibt. Dabei kann aus einem irdischen Körper mit als niedrig und armselig empfundenen Dingen ein vollkommener geistlicher Körper werden.

Manfred: Vielen Menschen, die sich mit Esoterik und asiatischen Glaubensvorstellungen beschäftigt haben, wird diese Sicht bekannt vorkommen, vergleichbar mit der Trennung von Körper und Seele oder dem Bild vom sog. Ätherleib. Wie kann uns Christen diese erweiternde relativierende religiöse Dimension bei den Themen Intersexualität, Transsexualität, geschlechtliche Identität und im Streit rund um diese Vielfalt helfen?

Arne: Paulus zeigt uns auf, dass der geistliche Körper eine größere Rolle spielt als unsere äußere irdische Hülle. In der Bibel wird recht wenig Konkretes über Körper und Geschlechtsidentitäten nach heutigem Verständnis gesagt. Das spricht vielleicht dafür, intersexuelle Menschen mit den unterschiedlichen Merkmalen nach eigenem Willen aufwachsen zu lassen. Wichtiger bleibt die Frage: Was ist mein geistlicher Leib und wie wird wohl der eines Kindes sein, das beiderlei Geschlechtsmerkmale in die Welt bringt? Und ist das wirklich wichtig — für Gott? Ein weites Feld.

Manfred: Amen.

(Ton: Lärm von Kindern auf dem Schulhof)

*) Buchtipp von Ines-Paul: „Sex and Uncertainty in the Body of Christ: Intersex Conditions and Christian Theology“ (von Susannah Cornwall). Das Buch disktutiert Intersexualität aus unterschiedlichen theologischen Perspektiven (marginalisierte Leiblichkeiten & Leib Christi, Transgender, BeHinderte, Queer). Die o.g. Stelle aus dem Korintherbrief wird behandelt im Zusammenhang mit beHinderten Körpern. Gerade wenn die Auferstehung nicht nur irgendwie „geistliche“ Leiber meint und somit den körperlichen Leib nicht bloß als armselige irdische Hülle abstempelt: Was bedeutet das für unsere Körperbilder, Körpererfahrungen und Körperideale?…

**) Roy Doliner & Benjamin Blech: Die Geheimnisse der Sixtine. Ross King: Michelangelo und die Fresken des Papstes.

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