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„Ich bin nicht ausgegrenzt. Wozu brauche ich einen Glauben, der aus realistischer Sicht zum Scheitern verurteilt ist?“

Predigt MCC Köln, 15. Sept. 2013
Ines-Paul Baumann

Lk 14,25-33 „Von Nachfolge und Selbstverleugnung“: Wie das eine das Gegenteil vom anderen ist.

Es gibt Bibelstellen, die jede schön-seicht-lockere Gottesdienststimmung sofort in den Keller ziehen. Diese hier ist so eine.

„Jesus will mir alles wegnehmen, was mir wichtig ist oder Spaß macht!“

„Wenn hier jetzt nur noch Platz ist für die ganz Entschlossenen, die nie zweifeln und nie wankelmütig sind, dann bin ich falsch hier.“

„Soldaten zählen und in eine Feldzug ziehen? Ich lebe lieber in Frieden.“

„Da habe ich gerade mit meiner Mutter wieder ein gutes Verhältnis aufgebaut / da habe ich gerade wieder zu meinen Vater gefunden, und jetzt soll das plötzlich ein Problem sein?“

„Ich gehöre sicher nicht zu denen, die genug besitzen, um etwas Großes aufzubauen. Was soll ich hier?“

„Wäre ich doch heute besser zuhause geblieben!“

Was erzählt Jesus hier für seltsame Sachen? Heißt es sonst nicht immer, wir sollen Vater und Mutter ehren? Ich soll meinem Nächsten lieben wie mich selbst, sogar meine Feinde soll ich lieben, aber meine Eltern darf ich jetzt plötzlich nicht mehr lieben?

Sollte sich Jesus vielleicht mal nicht so weit aus dem Fenster lehnen, wenn es um abgebrochene Bauvorhaben geht, über die der Rest der Welt spottet? Sein Tod am Kreuz wirkt auch nicht gerade wie ein Vorhaben, das von vorne bis hinten geglückt ist: Wie viele Menschen spotten genau deswegen über das Christentum. Heißt es sonst nicht immer, wir sollen mit diesem Spott rechnen und ihn ertragen um Jesu willen? Warum soll es jetzt plötzlich darum gehen, Spott zu vermeiden?

Was ist denn bitte schön mit all den Herren Jünger, wo waren die denn alle bei seiner Kreuzigung? Standen da 12 wackere Menschen um das Kreuz herum und riefen, „Jesus macht nix, wir stehen zu dir und glauben an dich“?

Warum sollen wir uns plötzlich am Anfang unseres Vorhabens überhaupt überlegen, ob wir genug haben, um es zu vollenden? Heißt es woanders nicht, dass Jesus selbst der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist?

Warum soll es plötzlich darum gehen, was ich einzubringen habe? Lädt Jesus sonst nicht immer die ein, die wenig oder gar nichts haben? Seit wann soll irgendweine Form von Reichtum nötig oder hilfreich sein, um Jesus nachzufolgen?

Seit wann sollen wir als Gemeinde auftreten wie eine Heeresmacht, die ihre Soldaten zählt? Im Alten Testament hat Gott selbst noch Leute wegschicken lassen, bis es lächerlich wenige waren, die in den Kampf zogen – das passt ja wohl gar nicht zu dem, was Jesus hier von uns will. Jesus war doch sonst immer gegen Gewalt!

Jesus selbst hat ja auch nie auf Gewalt gebaut, als er sich anlegte sich mit der politischen und religiösen Führung seiner Tage. Als er deswegen am Kreuz landete, hatte Gott sich beim Turmbauen da auch verrechnet und die Soldaten falsch gezählt? Hatte Jesus nicht von Anfang an zu wenig „Mitstreiter“? Und die wenigen standen auch noch ständig in der Gefahr, verfolgt und getötet zu werden! Nach einem durchkalkulierten Vorhaben, das menschlichen Maßstäben standhält, klingt das nun nicht gerade.

Auch heute müssen sich Glaubende die Frage gefallen lassen, an was für einen Unsinn sie da eigentlich glauben. Soll das etwa realistisch sein, seine Hoffnungen auf einen Gekreuzigten zu setzen? Soll das etwa realistisch sein, an einen Gott des Friedens und der Liebe zu glauben in einer Welt voller Unfriede, Gewalt und Lieblosigkeit? Was sollen ein paar Glaubende und ein vor 2000 Jahren Gekreuzigter da ausrichten können? Ist es nicht naiv, mit Gebet und Appellen in dieser Welt etwas ausrichten zu wollen?

Und hat Religion nicht schon genug Schaden angerichtet, als dass sie behaupten könne, zum Frieden in der Welt beizutragen – ist das nicht komplett unrealistisch?

Ist nicht die ganze Bibel voll davon, wie Jesus und seine Anhänger und Anhängerinnen aus realistischer Sicht zum Scheitern verurteilt sind? Wie das Kreuz „den einen eine Torheit und den anderen ein Ärgernis“ ist? Wie der „Menschensohn nichts hat in dieser Welt, wo er sein Haupt hinlegen“ kann? Wo die Menschen Gottes und des Friedens und des Nicht-Mitmachens verspottet, verfolgt und getötet werden? Wo die Finsternis eben nicht „das Licht ergreift“, das in Jesus Christus in unsere Welt gekommen ist?

Was bitte soll an unserem Glauben realistisch sein in den Maßstäben rationaler Abwägungen und Kalkulierens und Durchrechnens? Ist nicht allein die Frage „Was habe ich davon?“ eigentlich verpönt unter Glaubenden?

Was ist mit denen, die solche Fragen trotzdem stellen? Was ist mit denen, die für sich feststellen: „Ich bin nicht arm. Ich bin nicht verstoßen. Ich bin nicht ausgegrenzt. Wozu brauche ich Gott? Jesus? Die MCC? In meinem Leben ist alles OK! Mit meinen Eltern habe ich Frieden gefunden, finanziell komme ich über die Runden, ich komme gut klar mit den meisten Menschen – was hätte ich davon, mich Jesus anzuschließen?“

Viele werden jetzt anfangen zu argumentieren. Für Gott zu werben: Wie egoistisch es doch ist, das Leben OK zu finden, nur weil es mir selbst gut geht, denn was ist mit all den anderen, deren Leben eben nicht OK ist. Vorzurechnen, wie all das irdische Glück doch nur ein Hauch ist, wir in Jesus aber den Schlüssel zum ewigen Glück haben. Dass wir in Jesus das wahre Glück finden, nicht nur das vergängliche. Dass Jesus die einzige Antwort ist auf all das, was wir im Innersten suchen und für was uns Geld und Familie und Freunde und Facebook kein Ersatz sein können.

Sie fangen also an, vorzurechnen, wie sehr es sich lohnt, sich auf Jesus einzulassen. Sie stellen all den Überlegungen etwas gegenüber, was NOCH wichtiger ist, was NOCH MEHR zählt. Manches davon mag der eine oder die andere mit Skepsis betrachten, anderes mag bei der einen oder dem anderen auf Zustimmung stoßen, egal: Es ist ein Versuch, auf ernst gemeinte Abwägungen ernst gemeinte Antworten zu geben. Es ist ein Versuch, die Rechnung, ob sich die Sache mit Jesus lohnt, zugunsten Jesu zu beeinflussen.

Jesus hat Menschen, die sich die Fragen stellen, ob es sich lohnt, nicht weggeschickt. Er hat eben nicht gesagt: „So ihr Lieben, wer von euch wägt noch ab, ob es sich lohnt, mir nachzufolgen? Wer von euch versucht realistisch einzuschätzen, was ihr davon habt? Hinfort mit euch!“

Jesus spricht hier mit hohem Respekt von denen, die das abwägen und abschätzen und durchkalkulieren. „Wer unter euch, der einen Turm baut, wägt das nicht ab? Wer unter euch begibt sich einen Kampf, ohne vorher die eigenen Kräfte einzuschätzen?“

Hier baut Jesus auch und gerade denen einen Weg, die sonst vielleicht nichts von seiner Botschaft halten.

Jesus nimmt sie ernst mit ihren Fragen: „Woran möchte ich festhalten? Was würde sich ändern, wenn ich mich Jesus anschließe? Wenn ich mein Vertrauen darauf setze, dass Gott mich liebt und annimmt? Wenn ich mich darauf einlasse, die Gemeinschaft mit Gott und mir und meine Mitmenschen aus Gottes Perspektive und in ihrem Geist zu gestalten?“

Vielen, die hier sitzen, sind solche Fragen auch aus einem anderen Zusammenhang bekannt – zum Beispiel vor dem eigenen Outing z.B. als Homosexuelle/r oder Transgender, oder als Mensch mit Depressionen oder Suchtproblemen oder oder oder. „Was wird sich ändern, wenn ich das erzähle? Was denken die anderen dann vor mir? Welche Konsequenzen hat das? Woran möchte ich festhalten von dem, wie es jetzt ist? Was ist, wenn sich meine Eltern von mir abwenden? Kommen nicht lauter Probleme auf mich zu? Was bedeutet das für mein Arbeitsleben? Für meine Beziehungsleben? Bin ich bereit, das alles in Kauf zu nehmen?

Und irgendwann kommt der Punkt, wo der eigene Weg wichtiger wird als alle Ängste, alle Versteckspiele, alle Lügen, alle Ersatzhandlungen (lieber mal noch heterosexuell heiraten?!), und alles Absichernde (Geld, Beliebtheit, …). Irgendwann kommt der Punkt, wo alle Sorgen in den Hintergrund treten, weil etwas wichtiger geworden ist: nämlich die Erkenntnis, nicht mehr gegen sich selbst leben zu wollen, ja nicht mehr gegen das eigene Selbst leben zu können. Dann ist die Zeit reif dafür, diese Risiken einzugehen: Dass sich vielleicht die Eltern abwenden. Dass es vielleicht Probleme gibt auf der Arbeit oder auf dem Amt. Dass ich vielleicht alles verliere, was ich habe.

Und dann, wo so viele andere den Kopf schütteln und sagen: „Ist es all das Risiko wert? Sei doch mal realistisch, ist das wirklich so wichtig?“, da klingen die Worte Jesu schon ganz anders. Da sagt einer: „Ja, es kann Situationen geben, wo dich kein Mensch mehr versteht, wo du die Beziehung mit deinen Eltern riskierst und alles aufs Spiel setzt, was du hast und was dir wichtig ist. Aber jetzt, wo du weißt, warum du das tust, kann dich nichts und niemand mehr aufhalten. Geh deinen Weg!“

Mit seinen Worten bereitet Jesus ja auch alle diejenigen vor, die die Konsequenzen einer ernst gemeinten Entscheidung mit erleben werden: „Wundert euch nicht, welche Kraft in denen steckt, die sich dann dazu entschieden haben!“

Jesus sagt hier eben nicht: „Komm, vergiss den Turm. Schau doch mal, was du alles brauchst, um den Turm zu bauen. Nichts von all dem, was du einbringst, wird im Anschluss sein wie es vorher war. Das ist es doch nicht wert, oder?“

Sondern Jesus sagt: „Ja, schau dir genau an, was du alles brauchst, um den Turm zu bauen. Wenn du daran festhalten möchtest, dass alles bleibt wie es ist, wird es der falsche Weg sein. Nichts von all dem, was du einbringst, wird im Anschluss sein wie es vorher war. Halte dir das vor Augen und überlege es dir. Stell dir in Ruhe vor, was daraus wird. Es ist danach nicht weg – aber es wird verwandelt sein.“

In meinen Ohren können das sehr wohltuende Worte sein. Ich bin dankbar für einen Jesus, der das so offen beschreibt. Der mich ermutigt mir zu überlegen, ob und wann ich bereit bin. Der mir die Zeit lässt, die ich brauche. Der nicht einfach Druck macht. In unserer Mitgliedschaftsvereinbarung haben wir etwas ähnliches formuliert: Entscheide dich dann zur Mitgliedschaft, wenn es für dich richtig ist. Wenn die Heilige Geist dich dazu ermutigt – und nicht deswegen, weil andere dich darum bitten oder dazu drängen oder weil du befürchtest, sonst kein vollwertiger Teil der Gemeinschaft zu sein. Alles, was wir hier tun, soll nicht deswegen passieren, weil uns irgendwer oder irgendwas von außen dazu drängt. DU weißt, wann die Zeit reif ist, DU weißt, welche Schritte für dich anstehen, DU weißt, wie dein Weg aussieht, DU weißt, wer du bist.

Mir tun die Worte Jesu gut. Ich mag die Klarheit und Konsequenz, die darin steckt. Ich habe noch nie verstanden, warum wir in einer Welt leben, wo alle vom Frieden reden, aber die für das Wohlergehen der Wirtschaft leider leider leider Waffen exportieren „muss“. Dann möchte ich auch oft rufen:
Ach, solang es niemanden was kostet, ist es ganz nett, von Gerechtigkeit und Frieden zu reden, ja? Aber kaum geht es um Geld, ist alles ganz anders!
Solange es euch nichts kostet, ist es ganz nett, Flüchtlinge zu bedauern, ja?
Solange es euch eure Privilegien nicht kostet, ist es ganz nett, Frauen in der Kirche arbeiten zu lassen, ja?
Solange es euch nichts kostet, ist es ganz nett, von Geschlechtergerechtigkeit zu reden, ja?
Solange es euch nichts kostet, ist es ganz nett, gegen Rollenklischees zu reden, ja?
Wenn ihr davon redet, dass wir in Frieden leben wollen, was ist das denn bitte für ein Friede?“

Das ist genau der Schein-„Friede“, den Jesus hier beobachtet und beschreibt. Wenn wir „Frieden“ machen, weil die Übermacht so groß ist. Weil unsere „realistische Einschätzung“ angesichts der Übermacht von Strukturen und Prinzipien uns resignieren lässt. Wenn der drohende Verlust von Gütern, Status und Privilegien uns lähmt.
Wenn wir dann – wie Jesus es beschreibt – „Frieden“ anbieten, ein „friedliches“ Nebeneinander, eine „friedliche“ Koexistenz, dann klingt das so nett – ist aber nichts als ein Anbiedern und Einknicken vor der Übermacht.

Wenn ich zum Beispiel meinen Weg als homo- oder heterosexueller oder Transgender-Mensch nur deswegen nicht gehe, weil ich den „Frieden“ nicht aufs Spiel setzen möchte – was ist das für ein Frieden? Wenn ich dem Weg Jesu deswegen nicht folgen möchte, weil ich den „Frieden“ nicht aufs Spiel setzen möchte – was ist das für ein Frieden?

Ich bin dankbar für einen Jesus, der mir dann zuruft: „Wen und was versuchst du noch zufriedenzustellen? Sind das Leute und Systeme, die dich ausnutzen, oder welche, die dich achten? In wen investierst du? Was und wem glaubst du? Was verändert sich in deinem Leben, wenn du dich annimmst als ein geliebtes Kind Gottes?“

„OK,“, sagt Jesus, „wir beide wissen, es wird nicht immer alles einfach werden. Aber du weißt genau so gut wie ich, dass es keinen Weg daran vorbei gibt – keinen Weg mehr an DIR vorbei. Nimm dein Kreuz auf dich. Sei du selbst und geh deinen Weg! Sage dich los von allem, was du hast, und werde, was du bist: Von Gott geschaffen, von mir berufen, vom Heiligen Geist erfüllt.“

 

 

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