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Mit gewaltlosen Mitteln? Auch angesichts von zunehmender Gewalt???

Predigt MCC Köln, 28. Jan. 2018
Madeleine Eisfeld

Matthäus 5,1-12 (Seligpreisungen)

Holocaustgedenktag und 70. Todestag von Mahatma Gandhi

„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen!“ So lautet ein berühmtes Zitat des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Blicken wir in die Welt von heute, so scheint sich dessen Aussage zu bestätigen. Dunkle Wolken am Horizont, die Welt versinkt immer tiefer in Konflikte. Der Krieg als Mittel der Politik ist zurück auf der Bühne (von der er eigentlich nie verschwunden war). Terror, gigantische Fluchtbewegungen, die das Gefüge der Welt aus den Angel heben, produzieren Auseinandersetzungen am laufenden Band.
In der Tat. Alles Beispiele dafür, dass die Bergpredigt keine Grundlage der Weltpolitik ist, auf welchem Teil der Erde auch immer.

Ich möchte euch heute mit einem Mann bekannt machen, für den die Bergpredigt Grundlage allen Denkens und Handelns war – und das, obwohl er gar kein Christ war. Eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten des 20 Jahrhunderts. Am 30. Januar jährt sich der 70. Jahrestag seiner Ermordung.Vielleicht seid ihr schon selber darauf gekommen, um wen es sich dabei handelt.

Blicken wir zurück.

Am 14. August 1947 werden im mittleren Osten zwei neue Staaten gegründet. In Neu Delhi wird die Indische Union ins Leben gerufen. Wenige Stunden zuvor wurde im weit entfernten Karachi bereits ein anderer Staat zum Leben erweckt, Pakistan. Das war ursprünglich nicht geplant. Aber die Moslems fürchten, als Minderheit von der Hindu-Mehrheit an die Wand gedrückt zu werden. Deshalb fordern sie ihren eigenen Staat, und mit Pakistan bekommen sie diesen.
Was nun einsetzt, ist eine der größten Tragödien der modernen Menschheitsgeschichte. Millionen von Hindus flüchten aus dem neuen Staat Pakistan in Richtung Indien, während umgedreht Millionen Moslems von Indien nach Pakistan ziehen.
Schätzungsweise 70 Millionen sind damals auf der Flucht. Dabei ereignen sich grausame Exzesse. Gewalt in einem beispiellosen Ausmaß. Mord, Vergewaltigung, Brandschatzung, Pogrome. Hindus morden Moslems, Moslems morden Hindus. Die Opfer gehen in die Hunderttausende. Sowohl Indien als auch Pakistan drohen schon unmittelbar nach ihrer Entstehung im Chaos zu versinken.

Ein kleiner, vom Alter gebeugter Mann sitzt in seinem Ashram und versteht die Welt nicht mehr. Mohandas Karamchad Gandhi. Die Menschen kennen ihn unter dem Namen Mahatma, das heißt „die große Seele“.
Zeit seines Lebens hat er für den Frieden zwischen den verschiedenen Kulturen, Völkern und Religionen gekämpft. Nun, am Ende seines Weges, muss er zusehen, wie sein Werk droht, wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu stürzen.
Indiens Premierminister Jawaharlal Nehru steht wie ein Sohn zu ihm, und auch der Staatsgründer und erste Präsident Pakistans, Ali Jinnah, ist sein Freund.
Was kann er tun? Guter Rat ist teuer. Er reist durch die Unruheprovinzen, doch die Menschen hören nicht auf ihn. Zu groß ist die Angst und das Misstrauen dem Anderen gegenüber.
Gandhi entschließt sich zu einer Wahnsinnstat. Er beginnt zu fasten. Fasten für den Frieden.
Jeden Tag zwei Schluck Wasser, das ist das einzige, was er zu sich nimmt. Tage vergehen, bald sind zwei Wochen um, Gandhi wird immer schwächer und ist dem Tode nahe, er ist kein junger Mann mehr, zählt fast 80 Jahre. Viele Friedensaktivisten folgen seinem Beispiel und fasten mit.
Plötzlich kommen die Menschen wieder zur Vernunft. Demonstrationen setzen ein unter dem Motto „Gandhi darf nicht sterben!“ Studenten, Hindus wie Moslems, gehen gemeinsam auf die Straße, Hand in Hand, um für den Frieden zu demonstrieren.
Dann geschieht das Wunder. Die Auseinandersetzungen kommen vollständig zum erliegen, in Indien und Pakistan scheinen die Krisen überwunden.
In einem symbolischen Akt ziehen viele Menschen zu dem Haus, in dem sich Gandhis Krankenlager befindet, um ihren Dank zu bekunden.
Plötzlich durchbricht ein Mann die Reihen, stürmt die Treppe hinauf und steht am Bett des noch immer völlig Geschwächten.
Aus seinem zerschlissenen Hemd holt er ein Fladenbrot hervor und schmeißt es Gandhi auf die Bettdecke.
„Iss!“, ruft er. „Iss! Ich komme aus der Hölle, und das Blut tropft noch von meinen Händen. Ich habe gemordet, ich habe geplündert. Ich habe schlimme Dinge getan. Ich werde nie mehr zur Ruhe kommen. Aber für deinen Tod will ich nicht die Verantwortung übernehmen.“
„Was hast du genau getan, das du glaubst, die Hölle zu verdienen?“, will Gandhi wissen.
„Ich tötete ein Kind. Ich nahm es an den Füßen und schleuderte es mit dem Kopf gegen eine Mauer. Die Moslems haben mein Kind getötet, meinen Jungen. Deshalb handelte ich ebenso und tötete einen Moslemjungen.“
„Dann bist du wirklich in der Hölle!“, erwidert Gandhi.
Betrübt will sich der Mann zum Gehen wenden.
„Halt! Warte!“, ruft ihn Gandhi zurück. „Ich wüsste einen Weg, wie du aus der Hölle zurück ins Leben findest. Es gibt hunderttausende verwaiste Kinder dieser Tage in Indien und ebenso viele verwaiste Eltern. Suche dir ein Kind, einen kleinen Jungen, etwa im Alter deines eigenen verlorenen. Schenke ihm deine Liebe. Zieh ihn auf so, als sei es dein eigenes. Aber, du musst darauf achten, dass es ein Moslemjunge ist, ein Kind, dessen beide Eltern bei den Ausschreitungen ums Leben gekommen sind. Erziehe ihn als Moslem, obwohl du selbst ein Hindu bist. Dann wirst du Frieden finden in dir und mit Gott.“

Wir wissen nicht, ob der Mann Gandhis Ratschlag befolgt hat. Was wir aber wissen ist, dass mit Gandhi einer spricht, der ein unglaubliches Charisma verkörpert. Viele Bezeichnungen gibt es für solche Personen. Heilige, Avatare, Propheten. Ich habe meine eigene. Ich nenne sie „Natürliche Autoritäten“. Einem Menschen wie Gandhi hört man gerne zu und man folgt ihm, weil seine Ausstrahlung alles andere im Nebel versinken lässt.
Gandhi war seiner Zeit weit voraus. Ach was rede ich, nicht nur seiner Zeit, auch unserer heutigen Zeit. Bedenkt, der Mann ist vor 70 Jahren gestorben.
Gandhi wurde nie in ein politisches Amt gewählt. Das hatte er gar nicht nötig. Er war einfach da. Seine Natürliche Autorität wurde von allen Seiten respektiert. Die Menschen erkannten die ungeheure Kraft, die von ihm ausging. Eine positive Energie, die aus vielen Quellen gespeist wurde. Eine ganz entscheidend wichtige Quelle war die Bergpredigt Jesu. Gandhi ist die Verkörperung der Seligpreisungen schlecht hin.
„Selig die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen. Selig die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“
Das ist Gandhis Leitmotiv. Das Programm für seinen gewaltlosen Widerstand. Er ist bereit, für diese Überzeugung zu sterben, aber er ist nicht bereit, dafür zu töten.
Ein Bekenntnis, das uns fast erschlägt. So kann nur einer reden, der von seiner Sache absolut überzeugt ist. So sehr, dass ihm jedwede Furcht abzugehen scheint.
Schon als junger Mann ist Gandhi ein Wanderer zwischen den Kulturen. Studiert hat er in London. Er lebt europäisch, kleidet sich auch so. Und er liest die Bibel. Dort wird er fündig. Akribisch genau studiert er die Worte Jesu, er meditiert über ihnen, stundenlang, tagelang. Dabei hilft ihm seine hinduistische Meditationserfahrung. Das ist es, was er will, das ist es, was fortan sein ganzes Leben bestimmt. Sie trifft ihn ins Herz und wird ihn nie mehr loslassen.
Die totale Selbstentäußerung, die Verinnerlichung, eins werden mit dem Transzendenten. Er wird zum Mystiker, obwohl er politisch eher anarchistisch denkt. Er weiß sehr genau, dass es nicht ausreicht, wenn eines Tages die britische Besatzungsmacht abzieht und den Weg frei macht für die einheimische Oberschicht – für die vielen Armen und Entrechteten aber alles beim alten bleibt.
Gandhi gründet Gemeinschaften, Ashrams. Dort will er beginnen, mit Gleichgesinnten seinen Traum zu leben. Die Bergpredigt wird, neben anderen Quellen, einer der wichtigsten Grundlagen des Handelns.
Hart ist er mit sich selbst, aber auch mit den anderen. Einfach ist es nie, in der Nähe einer starken charismatischen Persönlichkeit zu leben. Nur all zu oft droht die Totalvereinahmung und das Gefühl, sich ganz klein und nichtig zu fühlen mit einer solchen Überperson als Leitfigur.
Gandhis Frau Kasturba ist es, die ihn immer wieder auf den Boden der Realitäten zurückholen muss. „Du bist ein Mensch! Nur ein Mensch!“ Diese simple Weisheit muss sie ihm immer wieder unter die Nase reiben, immer dann, wenn er droht abzuheben.
„Wir, die wir nicht so stark im Glauben sind als du, haben es noch schwerer.“ Auch diese Feststellung sitzt.

Gandhi begreift, dass er das, was er von sich selber fordert, nicht einfach auf andere übertragen kann. Jeder/Jede muss den eigenen Weg suchen und finden.
Auch Jesus verlangte nichts, was uns überfordert. Er befiehlt nicht, er beschränkt sich darauf, Ratschläge und Empfehlungen zu geben. Die Wahl überlässt er uns.
Er sagt nicht etwa „Ihr dürft nicht Gott und dem Mammon dienen“, nein er sagt „ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen“.
Das ist ein großer Unterschied.
Gandhi begreift, dass übertriebene Askese nicht der Weg ist, sicher zum Ziel zu gelangen, so wie es Buddha schon zwei Jahrtausende zuvor erkannte.

Der gewaltlose Widerstand ist nicht einfach. Seien wir ehrlich zueinander. Wer von uns ist schon bereit, die linke Wange hinzuhalten, wenn wir zuvor eines auf die rechte bekommen haben.
„Schlag zurück! Du musst dich wehren, wenn man dich angreift! Hammer oder Ambos, du hast die Wahl. Was möchtest du lieber sein!“ So oder ähnlich hörte ich es in meiner Kindheit und Jugendzeit.
Ich habe mich nie gewehrt. Unzählige Schläge musste ich einstecken, körperliche wie seelische. Ich schlug nie zurück. Stets war ich der Ambos. Genutzt hat es mir nicht. Im Gegenteil! Es wurde zur Einladung an die anderen, es immer wieder zu tun. Heute habe ich die Konsequenzen zu tragen.
Krank am Körper und an der Seele, vorzeitig gealtert und am Ende meiner Kräfte.
Die anderen haben sich durchgesetzt, behaupteten sich und konnten aus ihrem Leben etwas machen.
Doch hätte ich anders handeln können? Würde es mir heute besser ergehen, wenn ich damals im rechten Moment zurückgeschlagen hätte? Ich weiß es nicht! Ich kann es mir nicht vorstellen!
Meine ganze Natur ist auf Harmonie und Verständigung ausgerichtet und nicht auf Streit und Dominanz.
Gandhi hat durchgehalten, ist nicht zerbrochen. Konnte seine Ideen verwirklichen. Er war nicht allein. Viele Mitstreiter standen hinter ihm und hielten ihm den Rücken frei.

Darin liegt das Geheimnis des passiven Widerstandes. Es ist nur in Gemeinschaft erfahrbar und durchzuhalten. Das gemeinschaftliche Handeln trägt, es beschützt und schenkt Geborgenheit.
Einen Finger kann man brechen, doch fünf Finger sind eine Faust. Wir können diese Faust ballen und damit zurückschlagen, oder wir können sie öffnen und zur ausgestreckten Hand werden lassen. Eine Einladung an den Gegner, das Gespräch, die Verständigung zu suchen.
Gandhi hat es getan und gelangte zum Ziel. Doch am Ende hatte er doch noch einen hohen Preis zu zahlen.
Seine Aktionen beschränkten sich nicht auf Indien oder Südafrika, wo er viele Jahre lebte.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges schreibt er an Hitler und bittet ihn um Frieden.
Er nennt ihn Bruder Adolf. Solches Handeln erscheint aus heutiger Sicht naiv.
Als ich vorhin dort auf meinem Sofa saß und damit beschäftigt war, die gesamte Predigt noch einmal zu verändern, ist mir eine interessante These im Kopf herum gegangen. Holocaustgedenktag.
Stellen wir uns vor, es hätte in der Zeit des Dritten Reiches in Deutschland eine Persönlichkeit vom Formate eines Mahatma Gandhi gegeben, sozusagen als Antipode zu Hitler. Hätte diese Person etwas ausrichten können, einen gewaltlosen Massenprotest gegen Diktatur und ideologische Verblendung, gegen die gezielte repressive Gewalt, gegen den staatlich sanktionierten Terror, gegen die Massenvernichtung der Juden und schließlich gegen den Krieg?
Ich weiß es nicht. Möglicherweise können wir es nicht vergleichen. Gandhi ist sein ganzes Leben mit der repressiven staatlichen Gewalt in Konflikt geraten, aber das britische Empire war zumindest ein rechtsstaatlich verfasstes Gemeinwesen.
Es scheint in der Tat naiv zu glauben, dass wir dem NS-Regime mit gewaltlosen Mitteln hätten begegnen können. Die SA-Schlägertrupps brauchten keine Einladung, auch noch auf die andere Wange zu schlagen, sie hätten diese auch ohne den Hinweis darauf gefunden.
Die moralische Überlegenheit einer auf Frieden, Harmonie und Verständigung gegründeten Weltanschauung steht außer Zweifel, doch was nützt uns diese Erkenntnis just in dem Moment da wir misshandelt werden?
Wir, die wir heute leben, tun gut daran, uns mit Urteilen über die Vergangenheit zurückzuhalten. Vielmehr sollten wir Sorge dafür tragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

In einer Zeit, da die Gewalt in ihren vielseitigen Facetten zurückkehrt, ist die Bergpredigt Jesu aktueller denn je. In einer Zeit wie heute wäre auch ein neuer Mahatma Gandhi dringend erforderlich.
Alles, was dem friedlichen Zusammenleben der Menschen dient, ist zu fördern. Es kommt darauf an, Menschen zusammenzubringen, nur so lassen sich Konflikte lösen.
Ideologien, die spalten, die Zwietracht unter den Menschen säen, sind niemals göttlich inspiriert, sooft deren Vertreter das auch behaupten mögen. Sie können sich dabei weder auf die heilige Ruah berufen, noch auf Jesus, noch auf einen anderen Religionsstifter.
Eine Religion hat dem Frieden, einem harmonischen Zusammenleben und der Verständigung unter den Menschen zu dienen. Tut sie das nicht, ist sie keine Religion, sondern menschlich erdachte Ideologie zum Zwecke der Legitimierung von Macht und Herrschaftsinteressen, der Anhäufung von Reichtum, der Ausgrenzung anders Denkender, anders Lebender und anders Liebender.

Jesus hat der Gewalt eine klare Absage erteilt, allem Gewaltdenken und allen Bestrebungen, Gewalt als Mittel der Konfliktlösung einzusetzen.
Gandhi ist ihm auf diesem Weg gefolgt. Kompromisslos und ohne Rücksicht auf das eigene Leben.
Sehende Menschen sind in der Lage, die große Chance zu erkennen, die darin für die ganze Menschheit besteht. Sie sind fähig zur Umkehr und zum Neubeginn.
Der Attentäter, der am 30. Januar 1948 die tödlichen Schüsse auf Mahatma Gandhi feuerte, war kein Sehender, er war Fanatiker, einer aus Gandhis Hindhureligion. Fanatiker sind niemals Sehende, sie sind nicht in der Lage, in größeren Zusammenhängen zu denken. Sie sehen nur ihre eigene Weltanschauung und dulden nichts, was dem entgegensteht. Kritisches Denken ist ihnen völlig fremd.
Sie haben ihre infantile Rolle nie überwinden können und bleiben im Grunde große Kinder.
Auch die Verantwortlichen des Sanhedrin, die Jesus dem römischen Statthalter Pilatus und somit dem Tode auslieferten, waren keine Sehenden.
Sie erkannten nicht die Bedeutung der Wort Jesu, sie ließen sich nicht davon berühren und schon gar nicht inspirieren, zu sehr waren sie in ihrem rückwärts orientierten Denken gefangen.
Auch die Leute die heute im Namen „ihres Gottes“ morden , brandschatzen, vergewaltigen oder Menschen versklaven, sind keine Sehenden. Ihnen steht das Recht, sich bei ihrem Handeln auf welche Religion auch immer zu berufen, nicht zu. Gott selbst spricht ihnen diese Legitimation ab.
Vielleicht besteht ja einmal die Hoffnung, dass alle Sehenden dieser Welt sich zusammenschließen, um gegen Gewalt in welcher Form auch immer aufstehen und ein Reich der Friedfertigkeit und Barmherzigkeit Wirklichkeit werden zu lassen.

 

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