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Einfach mal die Klappe halten (in Gottes Namen!)

Predigt MCC Köln, CSD 2014
Ines-Paul Baumann

Sex, Lust, Freizügigkeit, unhinterfragte Schönheitsideale, Rausch an Äußerlichkeiten … Das CSD-Wochenende ist durchaus auch ein Fest, das manchmal umstritten ist. In den Vorbereitungen zu unserem CSD-Gottesdienst heute begegnete mir ein Text, der dazu passt. Was kommt in diesem Text nicht alles vor:

  • Sex im Freien,
  • Liebespaar ohne Trauschein,
  • die Lust steht im Mittelpunkt (es geht hier offenkundig nicht um einen Akt, der „verantwortungsvoll und pflichtgemäß nur der Fortpflanzung zuliebe“ miteinander vollzogen wird),
  • Szenen und Fantasien à la Selbstbefriedigung,
  • und Schönheit wird in höchsten Tönen gepriesen.

Ich habe den Text auch in Buchform gefunden, als Teil einer Sammlung von mehreren Texten, und ob ihr’s glaubt oder nicht: In dem Exemplar, das ich habe, fängt dieser Text tatsächlich auf der Seite 666 an (für diejenigen, die daran glauben, dass drei gedruckte Ziffern Macht haben, noch ein Grund mehr, erschrocken davon abzurücken).

Nun ja, manche lesen solche Texte nur heimlich und im stillen Kämmerlein – aber als Pastor einer MCC darf ich es ruhig zugeben: Ja, ich lese oft in der Bibel und tue es immer wieder. Der Text, von dem ich rede, ist das Hohelied der Liebe, das Lied der Lieder, ein Text aus der „Heiligen Schrift“. Gönnen wir uns einen Ausschnitt davon:

Hohelied der Liebe 7,7-13

„Dort will ich dir meine Liebe schenken“. Ich sehe sie vor mir, die Berge im Hintergrund und den Reiterhof mittendrin, auf dem sich Tim und Julia das erste Mal begegnen, Julia mit ihrem makellosem Körper und ihren langen blonden Haaren, und wie sie zu Tim herüberhaucht: „Brechen wir auf zu den Weinbergen! Dort will ich dir meine Liebe schenken!“ ALLE wissen, was gemeint ist, wirklich alle – aber der Text von eben steht ja in der Bibel, also weiß plötzlich kein Mensch mehr, was gemeint ist.

Stattdessen haben Theologen (yepp: männliche Theologen) früh damit begonnen, diese Texte so zu deuten, dass alles darin Geschilderte allegorisch für Gottes Liebe zu uns zu lesen ist:

  1. Der Mann in dem Text sei Gott.
    (Diese Wahl ist insofern bemerkenswert, als dass „der Mann“ hier mal ziemlich im Hintergrund agiert; es ist die weibliche Stimme und Sichtweise und Handlung, die den Großteil der Texte ausmacht. Das Hohelied ist ebenso wenig ein Zeugnis für Geschlechtergerechtigkeit wie viele anderen biblischen Texte – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Warum geht es so vielen zu weit, auch Gott mal unter umgekehrten geschlechtlichen Vorzeichen zu lesen?
  2. Alles, was hier geschildert wird, sei ein Bild dafür, wie dieser männliche Gott seiner Liebe zu uns Ausdruck gibt: Voller Sehnsucht und Hingabe verzehrt sich Gott nach uns, und unser Glaube ist die einzig gemäße Antwort des Menschen auf dieses Rufen Gottes.

Von mir aus können wir das Hohelied gerne auch als Liebesgeschichte mit Gott lesen, warum nicht? Aber dann bitte mit allem, was da steht :)
Und dann stellen sich zwei Fragen:

  • Wenn das alles Ausdrucksweisen sind, die Gott selbst praktiziert, warum sollten dieselben Ausdrucksweisen für Menschen dann plötzlich gottlos sein? Wenn es Gott wohlgefällig ist, ihre Liebe SO zu äußern (so lustvoll, so voller Genuss, so berauscht von Schönheit, so leidenschaftlich, ohne Trauschein und mit Freude in der freien Natur): Warum sollten wir es dann Menschen absprechen, wenn sie es ebenso tun? Warum sollte das, was Gott selbst als angemessene Ausdrucksweise von Liebe betrachtet, für Menschen plötzlich unangemessene Ausdrucksweisen sein?
  • Und umgekehrt, dieses Mal nicht als Rückschluss von Gottes Tun auf unser Tun, sondern umgekehrt (also dass Theologen in all dem menschlichen Treiben des Hohelieds eine Offenbarung sehen über Gottes Liebe): Wenn wir in dem Hohelied der Liebe etwas über die Liebe Gottes zu uns erkennen können, warum dann nicht auch in der Liebe von Janine & Marianne, Angelika & Jan, Ansgar & Bodo, …?

„Na ja“, mögen manche nun einwenden, „aber es geht hier doch um ein Hetero-Paar!“ Und dann führen sie „Begründungen“ dafür an, warum hetero so „richtig“ ist, und warum alles, was nicht hetero ist, so „falsch“ ist. Das sei ja keine „Meinungssache“, sondern beruhe auf handfesten Fakten:

  • Fortpflanzung: „nur die Kombination von Mann und Frau kann Kinder zeugen!“
    (was freilich auch in LGBT-Zusammenhängen machbar ist)
  • Familie: „nur die Kombination von Mann und Frau ergibt den Kern für verantwortliche Familie!“
    (was freilich auch in LGBT-Zusammenhängen machbar ist)
  • Rollenerwartungen: „nur die Kombination von Mann und Frau ergänzt sich einander mit ihrem Gegensätzen!“
    (was freilich auch in LGBT-Zusammenhängen machbar ist *g*)

Alles, was an Hetero so wichtig ist, kommt im Hohelied nicht vor! Aber alles, was „nicht-hetero“ so falsch macht, macht das Paar im Hohelied auch:

  • Das Hetero-Paar in diesem Text hat kein Interesse an der Fortpflanzung,
  • es denkt an keinem Punkt über Familie nach,
  • und nach den Rollenerwartungen richtet es sich auch nicht: Die Frau gehört sich selbst, bestimmt selbst über ihren Körper, ist selbst aktiv.

Das steht ziemlich im Gegensatz zur Rechtfertigung von „gegensätzlichen“ Rollenerwartungen mit so Sachen wie: „Die Frau schweige in der Gemeinde“ und der Mann darf über sie verfügen.

Im Hohelied bestimmen die Beteiligten (nochmal: auch die Frau!) selbst, was sie mit ihrem Körper machen; es gibt keinerlei Anlass oder Rechtfertigung dafür, dass andere über sie und ihre Körper bestimmen dürfen.

Wenn wir also mal versuchen, das Hohelied der Liebe anzuerkennen als das, was es zunächst mal einfach ist (ein Text über zwei zueinander entbrannte Menschen): Beschreibt dies dann tatsächlich ein „gott-loses“ Geschehen?

Die einzige Stelle, an der Gott überhaupt mit erwähnt wird, steht im Zusammenhang mit dem flammenden Feuer der Leidenschaft (8,6).

Sonst ist im gesamten Hohelied tatsächlich keine Rede von Gott und keine Rede über Gott. Nichts!

Vielleicht ist das genau der Punkt. Gott kann dieses Geschehen „unkommentiert“ stehen lassen. Es bedarf weder der Kritik noch der Zustimmung noch der Reglementierung durch Gott. Es darf/kann/soll also vielleicht genau so sein.

Wenn Gott dieses Treiben unkommentiert lässt: Dann sollte sich eine Religion, die sich „im Namen“ dieses Gottes versteht, es vielleicht genau so halten.

Im Hohelied ist es nicht mal nötig, dass Religionsvertreter erst Gottes „Segen“ spenden müssen, bevor das Paar zusammen kommen darf.

Dieses Paar, das fern von Zeugungsabsichten und Familiengründung körperliche Schönheit und Genüsse zelebriert, muss weder „extra“ gesegnet noch reglementiert werden. Das Geschehen ist es als solches wert, erzählt und gelebt zu werden. Es hat ALS SOLCHES seinen Platz in der Heiligen Schrift. Es hat ALS SOLCHES seinen Platz im Heiligen Geschehen und Erzählen. Es hat ALS SOLCHES seinen Platz im Heiligen.

… Du hast keine/n Partner/in, bist nicht verliebt, warst nie verliebt, hast das nie vor? Oder du sehnst dich danach und überlegst schon, was du noch ändern musst, um eine/n Partner/in zu finden? Auch für euch ist dieses Buch:

  • Den Spaß, den andere dabei haben (samt aller lästigen Nebenerscheinungen *g*), kannst du einfach so geschehen lassen…, auch als Christen müssen wir nicht andere zurechtweisen, bewerten, „an Gottes Wort erinnern“, …
  • Was für die Personen (auch die Frau/en!) im Hohelied gilt, gilt auch für dich: DU hast das Recht zu bestimmen, ob/wer/wann sich dir nähern darf. Auch für dich gilt: Dein Körper gehört dir und DU bestimmst darüber. Die Erwartungen anderer haben kein Recht, über dich zu bestimmen und über das, was DU mit deinem Körper mit anderen teilen möchtest.

Was für die Beteiligten im Hohelied gilt, gilt für uns alle: Ob, wann, mit wem, wie und wo wir Liebe & Lust mit anderen teilen, ist DEINE Entscheidung. Keine Entscheidung wegen Erwartungen, keine Tauschgeschäfte (Sex gegen Sicherheit oder Anerkennung?? Körperliche Anpassungen gegen „Liebe“??) und keine Drogen. Das Berauschende und einzig Gültige als Grund für deine Entscheidung ist, dass DU und dein Mitmensch Lust dazu haben. Wenn das nicht der Fall ist: Lass es sein. Wenn es der Fall ist: Genießt es in den höchsten Tönen und kostet eure Freude und einander so aus, wie es das Hohelied der Liebe in der Bibel entfaltet.

Freilich ist das Paar im Hohelied kein neues Beziehungsmodell, das nun für alle gelten muss… Es gibt ja genug andere Beziehungsformen, die Gottes Segen finden… Aber wenn wir doch so eine Vielfalt in der Bibel finden, dann können wir heute nicht „das eine christliche Beziehungsmodell“ daraus machen. Das Hohelied ist eben auch Teil davon. Zwar nur EIN Teil, aber eben AUCH ein Teil.

Diese ganzen reglementierenden Stimmen um uns herum und in uns drin sind manchmal so viel lauter als das wohlwollende und schweigende Mitsein Gottes, wenn wir selbst (oder welche um uns herum) den Erwartungen anderer an Körperlichkeiten und Nähe nicht entsprechen. Mögen sie und wir dann doch einfach mal die Klappe halten – im Namen Gottes.

 

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