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Diese Aufopferung ist nicht vorbildlich, sondern ein Skandal

Predigt MCC Köln, 19. März 2017
Ines-Paul Baumann

Markus 12,38-44: „Das Scherflein der Witwe““

„Gehet hin und tut desgleichen!“ Genau DAS sagt Jesus hier NICHT. Jesus macht die Jünger hier nicht auf ein christliches Vorbild aufmerksam. Er macht sie auf religiösen Missbrauch aufmerksam – auf Ausbeutung und Manipulation.

Die Witwe wirft ihren letzten Cent in den Opferkasten des Tempels – alles, was sie noch zum Leben hatte. Was Jesus da sieht, steht in krassem Widerspruch zu dem, was er gerade eben verkündet hatte. Ein gottgewollter Umgang mit Opfergaben und mit dem Besitz von Witwen sieht anders aus:

  1. [Mk 12,28-34] Die Liebe zu Gott, zu sich selbst und zu den Mitmenschen ist wichtiger als ALLE (Formen von) Opfergaben. Unser Handeln soll von Aufmerksamkeit und Engagement geprägt sein, es soll sich an unserem Wohl orientieren (das schließt mein eigenes Wohl genau so ein wie das meiner Mitmenschen).Wem kommt das Geld der Witwe aber zugute, nachdem es im Opferkasten gelandet war? Es endet als Habe der römischen Besatzer.

    Wenn die Witwe in 12,42 ihr berühmtes Scherflein in den Tempelschatz einlegt, so ist das nur auf den ersten Blick eine fromme Tat. Denn ihre Gabe wird Gott nicht erreichen, sie landet in der „Räuberhöhle“ (11,17) des Jerusalemer Tempels und seiner verkommenen Ökonomie. Indem der Text die Spende nun gleich an Ort und Stelle in römische Währung umrechnet (wobei sich dann eben ein Quadrans ergibt) macht er deutlich: Letztlich kommt der Betrag dem römischen Markt zugute, entweder nach kurzer Zeit, weil der Jerusalemer Tempel ohnehin integraler Bestandteil der Wirtschaft des Imperiums war, oder spätestens mit der Plünderung des Jahres 70, als die gehorteten Reichtümer des Heiligtums auf den Markt geworfen wurden. Was hat die Selbstaufopferung der Frau (12,44: „ihr ganzes Leben“) dann bewirkt? Daß die Beute noch einen Quadrans höher ausfiel.
    Andreas Bedenbender: „Frohe Botschaft am Abgrund“, Leipzig 2013, S. 283f

  2. [Mk 12,37b-40] Zweitens prangert Jesus an, dass die religiösen Vertreter damals alles tun, um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen – und zwar, ohne an das Wohl auch der anderen zu denken. Ganz konkret prangert Jesus an: Sie „verschlingen den Besitz der Witwen“ (NGÜ), „fressen die Häuser der Witwen“ (Luther) bzw. „bringen die Witwen um ihre Häuser“ (Einheitsübersetzung).

Statt nun aber von der religiösen Institution Schutz zu erfahren, erfährt diese Witwe Ausbeutung. Es sollte umgekehrt sein: Die Witwe sollte von den religiösen Vertretern etwas BEKOMMEN für ihren Lebensunterhalt. Stattdessen wird ihr dieser GENOMMEN.

Und offenbar gibt sie auch noch ganz freiwillig. Was muss da passiert sein? Welcher Manipulation war sie ausgesetzt, dass sie so handelte?

Das Opfer der Witwe ist vor den Augen aller DAS Beispiel für religiösen/geistlichen Missbrauch.

Jesus ruft seine Jünger also tatsächlich zu sich, weil sich in der Opfergabe der Witwe etwas besonders Wichtiges zeigt. Allerdings nicht etwas besonders Tolles, sondern etwas besonders Schlimmes.
Hier passiert etwas, was Jesu Vorstellungen von einem gottgewolltem Miteinander nicht ENTSPRICHT, sondern extrem WIDERSPRICHT.
Was hier geschieht, soll in Zukunft nicht nachgeahmt werden, sondern es soll vermieden werden.

Ein paar grundlegende Gedanken dazu aus heutiger Sicht:

  • Jesus sieht und versteht, in welchem Umständen wir handeln. Das meine ich jetzt nicht drohend, nach dem Motto „Gott sieht, wie wenig du gibst!“ Jesus kennt unsere jeweilige Situation und versteht, WAS wir tun und WARUM wir es tun. Anstatt nur Ergebnisse zu sehen und zu bewerten, wertschätzt Jesus mich und wie ich versuche, mit meinem Leben umzugehen.
  • Warum kehren Menschen auch nach Jahren oder Jahrzehnten wieder in den Schoß einer Gemeinde oder Kirche zurück, die ihnen nicht gut getan hat – so wie Menschen zurückkehren zu Partnern oder Partnerinnen, die ihnen nicht gut getan haben? Nicht nur in Beziehungen, auch in Kirchen scheint es dieses Muster zu geben, dass Missbrauchte und Gedemütigte sich nicht lossagen können: „Ich weiß, es ist nicht gut und vieles läuft schief, aber es ist nun mal meine Heimatkirche…“Oft habe ich die MCC Köln dafür gelobt, eine Durchgangsstation zu sein für Menschen mit schlechten Glaubenserfahrungen. Hier können sie ihren Bezug zu Gott, zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen heilen; und wenn sie wieder aufrecht gehen können, gehen sie halt in ihre alten Gemeinden zurück. Gut so! – Wirklich?
  • Oft benötigen wir heute gar keine religiösen Einflüsse mehr, sondern praktizieren unsere Selbst-Aufopferung aufgrund eigener verinnerlichter Prinzipien („ach-so-freiwillig“ wie die Witwe…): „Ich habe nur deswegen noch keine Anstellung / keine Beziehung / keine Ruhe / keinen Selbstwert, weil ich noch nicht genug gegeben habe. Ich muss einfach noch mehr opfern, dann wird alles gut.“
  • Würden wir heute vielleicht sogar die Witwe nicht als Ausgebeutete, sondern als Ausbeuterin empfinden (bzw. minderjährige Geflüchtete und überhaupt alle, die nicht ihren eigenen Lebensunterhalt aufbringen können)? „Jetzt muss die auch noch mit versorgt werden. Sie nimmt denen, die was haben, das wohl verdiente Geld weg!“
    (<Polemik an>Das Geld, das diejenigen haben, die es haben, stammt natürlich NIE aus ausbeuterischen Umständen, sondern immer nur aus hart erarbeiteten Boni-Zahlungen, Erbschaften, Aktiengeschäften, Steuervermeidungen, … alles total leistungsgerecht! … <Polemik aus>)

Ein paar Fragen an Institutionen (auch an uns als Gemeinde, inkl. Trödelcafé):

  • Was bewegt uns, in etwas (oder in wen) zu investieren?
    Beispiel Gebäude: Investieren wir in die Zugänglichkeit unserer Gebäude – oder darin, dass sie beeindruckend aussehen und was hergeben?
    Beispiel Menschen: Investieren wir in ein paar wenige, denen die Gemeinde zu (finanziellem, emotionalem oder geistlichem) Wohlstand verhilft, oder in die Unterstützung derjenigen, die in (finanzieller, emotionaler oder geistlicher) Not sind?
    Gibt es bei uns ein „Not-Ungleichgewicht“ in dem Sinne, dass manche Bedürfnisse geradezu „belohnt“ werden im Vergleich zu anderen Bedürfnissen, die weniger zählen?
  • Großspenden sind nicht immer befreiende Spenden.
    Ich denke dabei z.B. an Spenden der Industrie für Bildungseinrichtungen (auch an die, deren Absolvent_innen und Forschung nicht „nützlich genug“ ist?), an Spenden von Firmenchefs für Jugend- und Familieneinrichtungen (ist doch egal, wenn öffentliche Parkplätze dann Firmennamen tragen…?), oder an die Finanzierung von Zeitschriften für die schwule Szene durch Anzeigen der Pharma-Industrie („HIV ist dank unserer Medikamente doch kein Problem mehr!“), …
    Möchten wir uns als Kirche abhängig machen von Sponsoren?
    (Ich persönlich laufe lieber über einen abgewetzten Teppich als über einen mit Firmenlogos.)
  • Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung kann auch bei denen vorkommen, die „ihr Letztes“ geben („Und wieder hat gar keiner mitbekommen, wie sehr ich mich aufopfere!“). Wie gehen wir damit um?
    Ich habe keine einfache Lösung dafür. Anerkennung tut gut und ist wichtig. Abhängigkeit von Anerkennung kann zerstörerisch sein.
    (s.a. Predigttext neulich: „Ich habe doch nur getan, was ich tun musste!“)

Fragen zum Prüfen für mich als Einzelne_r:

  • Gebe ich, WEIL (ich etwas lieben kann, ich wahrgenommen werde, …) – oder gebe ich, DAMIT (ich etwas lieben kann, ich wahrgenommen werde, …)?
  • Frisst meine Gemeinde mich auf? Nimmt sie mir mein Leben? Saugt sie meine Finanzen, Gedanken, Zeit und Gefühle so sehr auf, dass nichts mehr übrig bleibt, um mir selbst Gutes zu tun?
  • Wenn es meiner Gemeinde so geht wie die dem Tempel in Jerusalem und es gäbe sie plötzlich nicht mehr: Wäre das ein Befreiungsschlag für mich?
  • Gibt es grundlegende Werte, die ich ablegen muss im Zusammenhang meines Glaubenslebens?
    Bezogen auf den Inhalt dieser Predigt, kann die Frage z.B. auch lauten: Dürfen nur manche alles geben? Oder dürfen ALLE zu den wenigen gehören, die sich voll und ganz in den Dienst der Gemeinschaft stellen dürfen?
    (Zum Beispiel: Wie kann es sein, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung einer Institution angehört und sie mitträgt, in der Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer und immer noch nicht Priester werden dürfen?)

Ich finde es immer ein gutes Zeichen, wenn manche Menschen in der MCC auch mal ihre Distanz wahren. Wenn sie NICHT jeden Sonntag hier sind. Wenn sie KEINE Aufgaben übernehmen. Wenn sie NICHT Mitglied werden.
Und dass wir aber versuchen, ALLEN die Möglichkeit zu geben, diese Gemeinde mit zu gestalten und mit zu tragen, wenn sie das wollen – unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer Lebensweise, ihrer sexuellen Orientierung, ihren Gottesbildern, ihrer psychischen und körperlichen Gesundheit oder ihren finanziellen Mitteln.

Damit ist nicht gesagt, dass in der MCC Köln alles richtig läuft. Im Gegenteil, auch hier gibt es immer wieder Problematisches und Probleme. Auch hier gilt es aufzupassen, wem und warum wir dienen.

Die Frage, die für (MCC- und andere) Gemeinden gilt, gilt natürlich auch für Firmen, Karriere, Coaching-Angebote, Heilungs-Wochenenden, (spirituelle/geistliche) Meister / Lehrer…: Worauf lasse ich mich da ein und was macht das (der/die) mit mir? Werden Gott, ich selbst oder meine Mitmenschen darin zu Gestalten des Schreckens? Oder hilft es mir, Liebe zu Gott, zu mir und zu meinen Mitmenschen aufzubauen und einzuüben?

Weitere Infos:

 

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