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Aller Anfang ist schwer. Aller Neuanfang ist schwerer.

Impuls MCC Köln, 6. November 2022
Ines-Paul Baumann

Nehemia 2,17+18 & Epheserbrief 2,19-22

Alte Muster und verinnerlichte Strukturen von Unterdrückung, Angst und Niederwerfen sollten nicht als Grundlage in den Neuanfang einfließen – auch im Glaubens- und Gemeindeleben nicht. Für diejenigen unter uns, die mit kontinuierlichem und dauerhaftem Dabeisein solches Loslösen begleiten dürfen, ist das Mitbekommen solcher Aufbrüche ein Segen. Danke für euer Vertrauen!

17 Jetzt sagte ich zu ihnen: »Ihr seht das Elend, in dem wir uns befinden: Jerusalem ist verwüstet und seine Tore sind niedergebrannt. Kommt, lasst uns die Stadtmauer Jerusalems wieder aufbauen, damit wir nicht länger ein Gespött sind!« 18 Und ich erzählte ihnen, wie Gott seine gütige Hand über mich gehalten hatte und auch, was der König zu mir gesagt hatte. Darauf antworteten sie mir: »Wir wollen anfangen und bauen!« Und sie machten sich an das gute Werk.

Nehemia 2,17+18 (Neues Leben. Die Bibel)

19 Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. 20 Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst. 21 In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. 22 Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist miterbaut.

Epheserbrief 2,19-22 (Einheitsübersetzung)

Wir befinden uns kurz vor dem Ende des Kirchenjahrs. Die Feiertage gedenken verschiedenster Abschiede. Mit dem Anfang des neuen Kirchenjahres kommt dann direkt Advent; gedacht als Zeit freudvoller Erwartung und der Vorbereitung darauf.

Mir geht das zu schnell. Von Abschied, Trennung, Loslassen direkt zu froher Erwartung? Da fehlt Zeit dazwischen!

Wenn das, was bisher war, nicht mehr Gegenwart und Zukunft sein kann…
Wenn das Bisherige nicht mehr trägt / weggebrochen ist / zusammengestürzt ist…
Dann ist nicht immer direkt was Neues da, das wir nur freudig in Empfang nehmen müssen.

Das betrifft auch Gemeindebeitritte. Nicht alle, die unseren Gottesdienst besuchen, möchten oder können die MCC direkt als ihr gemeindliches Zuhause verstehen und mitgestalten oder Verantwortung übernehmen. Ich frage mich oft, warum ich so oft höre: „Die MCC ist für mich wichtig und ein toller Ort! Ein wichtiger Teil davon ist, dass ich einfach sporadisch vorbeischauen kann. Danke, dass das geht!“

Ich glaube, solche Worte entspringen ganz unterschiedlichen Anliegen. Aber oft haben sie mit der Frage zu tun: „Wann ist die passende Zeit, mich auf Gemeinschaft im Namen Gottes einzulassen, in der ich eine Verbindung eingehe? Eine Gemeinschaft, in der ich anderen diene UND die mir dient; eine Gemeinschaft, in der ich andere sehe UND in der ich mich sehe, und zwar beides mit einem Blick, der von Glaube, Liebe und Hoffnung getragen ist?“

Wann sehen sich Menschen so? Wann sehen sie sich in der MCC? Und zwar so, dass dieses Sehen tatsächlich eingebettet und geborgen ist in Glaube, Liebe und Hoffnung?

(Das kann auch andere Gemeinden und Gemeinschaften betreffen! Ich rede jetzt von der MCC, weil das MEIN Erfahrungsraum ist. Weil ich über die Jahre und über die Nähe und Regelmäßigkeit HIER so viele Menschen mitbekommen durfte, die ihr Glaubensleben neu sortieren. Und weil ich meine Gedanken hier als Teil einer Gottesdienstgemeinschaft teile, die bei einem MCC-Gottesdienst versammelt ist.)

Für manche ist das ein Neuanfang, den sie sich in ihrem Glaubensleben erst neu erarbeiten müssen. Und deswegen sind die Abschiede so wichtig. Und die Übergangszeiten.

Und das wird für uns als MCC dann deswegen manchmal so verschwommen, weil wir immer wieder Menschen begleiten, die auf diesen Abschnitten gerade an den unterschiedlichsten Punkten unterwegs sind:
– Manche sind gerade dabei, sich – manchmal schmerzhaft – einzugestehen, dass das Bisherige nicht mehr weiterträgt.
– Andere haben den Abschied gerade hinter sich und müssen sich erstmal neu orientieren.
– Manche tun dies vielleicht, indem sie neue Sicherheiten suchen.
In allen Fällen gilt: Es kann dauern, bis es Zeit für einen Neuanfang ist.

Was ist in dieser Zeit unsere Aufgabe als Gemeinde? Drei Beispiele aus der Bibel mögen uns hierbei zur Seite stehen:

1) Exodus

Der Auszug Israels aus der Sklaverei in Ägypten war nur der erste Schritt. Auch wenn es manchmal lange dauert, bis es nicht mehr auszuhalten ist und der entscheidende Impuls kommt: Rausgehen ist manchmal schneller vollzogen als vorher gedacht. Entscheidend ist die Zeit danach. Im Falle Israels hat es eine ganze Generation gedauert, bis ein Neuanfang gemacht werden konnte. Bis dahin hat Gott sie kreuz und quer durch die Wüste geführt. Als ob sie gar nicht direkt eine neue Orientierung und Ausrichtung bekommen sollten. Die alten Strukturen, das vertraute Angst- und Sicherheitsdenken, die verinnerlichten Mechanismen können hartnäckig sein. Die alten Muster von Verehrung und Unterdrückung, von Anbetung und Niederwerfen, diese eingeübten Sichtweisen von Göttern, saßen tief. Gott wollte sicherstellen, dass ein Neuanfang nicht auf Basis der alten Mechanismen erfolgt.

Wenn Menschen in ihrer alten Gemeinde Muster erlebt haben, die auf ähnliche Weise mit Unterdrücken, Angst- und Sicherheitsdenken gearbeitet haben, wäre es fatal, diese Muster einfach nur in einer neuen Gemeinde weiterzuführen. Es kann lange dauern, sich hier für einen Neuanfang freizumachen.

Manche bleiben lieber direkt fern von allem, was mit dem Früheren zu tun hat. Gottes Verheißungen finden in ihren Ohren keinen Anklang mehr; ihre Ohren haben zu viel anderes zu hören bekommen. Diese Menschen werden selten in der MCC auftauchen; deswegen gehe ich auf ihre Situation hier gerade nicht weiter ein. Gott jedenfalls weiß: Die meisten von ihnen werden gute Gründe für ihre Distanzierung haben. (Nicht alle; aber das steht auf einem anderen Blatt.)

2) Nehemia

Zur Zeit Nehemias fanden die Juden und Jüdinnen, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, ihr geliebtes Jerusalem in Trümmern vor. Nehemia ließ sich von seiner Arbeit samt Gehalt freistellen und fing an, sich um den Aufbau der Stadtmauer zu kümmern. Zum Überleben dieser Gruppe mit ihrer eigenen Identität waren klare Grenzen nötig. Die Mauer war Teil dieser klaren Abgrenzung. Aber auch inhaltlich war Nehemia daran gelegen, klare Verhältnisse zu schaffen. Er arbeitete intensiv an der Einhaltung von Geboten und der Abschaffung von Mischehen.

Hier finden wir einen ganz anderen Umgang mit dem Bisherigen, das in Trümmern liegt. Beim Exodus ging es darum, das Alte ein für allemal hinter sich zu lassen. Hier geht es darum, an das Alte wieder anzuknüpfen.

Mir ging das ähnlich bei meiner Transition. Anfang/Mitte 20 war mir alles klar: Das und das will ich; das und das will ich nicht. Ich war mir sicher. Dann kamen gesellschaftliche Konzeptionen und feministische Fragen und transfeindliche „Bedenken“ und rissen meine Sicherheit ein. Mein Plan lag in Trümmern. Dass ich wieder zu mir fand, hatte auch mit einer Abgrenzung den Stimmen gegenüber zu tun, die mir Sachen einredeten, die für mich nicht dran waren. Ich konnte an mein vorheriges Wissen anknüpfen, hatte wieder Klarheit und konnte weiterleben.

Auch manche, die sich in Gemeindezusammenhängen outen, möchten danach am liebsten an das anknüpfen, wie es vorher war. Klare Grenzen helfen manchen, sich sicher zu fühlen. Das, was früher getragen hat, soll beibehalten bzw. wieder hergestellt werden – z.B. das vertraute Gefühl beim Lobpreis, die vertraute Sicherheit beim Gebetsstil, etc… – „nur JETZT halt MIT meinen Schwulsein“ etc. Manche möchten genau deswegen in ihren bisherigen Strukturen verbleiben. Aber auch in der MCC tauchen Menschen mit diesen Sicherheitswünschen auf.

3) Jesus

Die Verfasser*innen der Evangelien übertragen all die Verheißungen, für die Jerusalem z.B. bei Nehemia noch stand, auf Jesus. Die Hoffnungen gehen über von einer Stadt auf ein Kind. Die Gegenwart Gottes geht über von einem Ort auf einen Menschen. *)

Damit passiert das Gegenteil von dem, was Nehemia tat: Jesus sagt den Jünger*innen die zerstörten Mauern des Tempels an. Und die Gemeinschaft, zu der er einlädt, überschreitet Grenzen: Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Weltanschauungen sind angesprochen; ebenso Menschen unterschiedlicher Geschlechter und unterschiedlicher Herkünfte.

Jesus arbeitet sogar aktiv daran mit, das Bisherige infrage zu stellen. Und als die Jünger nach seinem Tod Sicherheit suchen, indem sie sich in den Mauern ihres Hauses abgrenzen, taucht Jesus eben dort auf – und schickt sie raus. „Geht hinaus in alle Welt.“ Abgrenzung in örtlicher Form oder durch religiöse Gebote? Sogar die Beschneidung und das Verbot von Götzenopferfleisch hatten ihre bedingungslose Geltung verloren. An ihre Stelle trat Jesus selbst, bzw. nach seinem Tod der Heilige Geist: Die Ausrichtung auf Gottes Begleitung und Gegenwart wurde zum neuen Bezugspunkt.

Mit seiner Auferstehung steht Jesus für den Neuanfang schlechthin. Die Übergangszeiten wie beim Exodus sind damit nicht weggewischt; das Neue Testament ringt ständig um das Loslassen alter Mechanismen. Das Sicherheitsbedürfnis des Nehemia mit seinen klaren Absagen an das, was vom Eigentlichen ablenkt (und wo das kippt in neue Unfreiheiten!), ist ständig Thema im Neuen Testament. Und genau das passiert alles auch heute noch. Zum Beispiel in der MCC.

Was heißt das für uns als Gemeinde? Wir sind Teil genau der Geschichten, die Gott hier mit Menschen schreibt. Mitsamt der Übertreibungen, dem Ringen, dem Rückfall in alte Muster, den Sehnsüchten nach Sicherheit. Und manchmal werden wir damit nicht nur Zeugen, sondern aktiv Begleitende und Beschenkte von den Neuanfängen, die dabei entstehen. Manchmal auch der Neuanfänge, die darin münden, ein Gemeindeleben basierend auf Liebe, Glaube und Hoffnung mitzuerleben und mitzugestalten.

Manchmal dauert das seine Zeit; oft sind es viele kleine Sonntage mit vielen kleinen Schritten. Diese (Fort-)Schritte zeigen sich denen, die oft da sind, mitunter deutlich. Während wir uns selbst und einander immer besser kennenlernen, erleben wir, was mit Glaube, Liebe und Hoffnung aus uns und anderen alles werden kann. Was für ein Segen liegt darin, solche Abschiede, Übergänge und Neuanfänge mitzubegleiten und mitzuerleben!
Danke an euch, die ihr euch zeigt in der MCC mit eurem Suchen und Finden von Neuanfängen – danke für euer Vertrauen in so heiklen, zarten, geistlich-intimen, verletzlichen, angreifbaren und sensiblen Situationen!!

 

*) Kenneth E. Bailey: „Jesus war kein Europäer. Die Kultur des Nahen Ostens und die Lebenswelt der Evangelien.“, SCM 2021, S. 68ff

 

 

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