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Überall ist Sterben, nirgends ein guter Gott. („Bete, Herr. Wir sind nah.“ – Paul Celan)

Predigt MCC Köln, 2. April 2017
Daniel Großer

Hesekiel 37,1-14: „Israel, das Totenfeld, wird durch Gottes Odem lebendig“

Dieses Text kann verstanden werden aus der Tiefe der Verzweiflung, in der sich das Volk Israel zu jener Zeit im Exil in Babylon befindet. Leider nimmt er sich nur sehr kurz Zeit, die Lage seiner damaligen Hörer zu schildern:
“Unsere Knochen sind vertrocknet, für uns gibt es keine Hoffnung mehr, es ist zu Ende mit uns.” (Hesekiel 37, 11)

Das Volk Israel fühlte sich in Babylon nicht einfach nur fremd. Babylon, das war kein Urlaub unter Palmen. Nein, Israel fühlte sich verstoßen von Gott, beraubt um sein Leben, tödlich verwundet, ausgeliefert, schutzlos.
Zweitausendfünfhundert Jahre später wird ein Mensch aus dem Volk Israel ein Gedicht schreiben, in dem sich dieses bittere Gefühl des innerlich Tot-Seins, der zynischen Gottesferne, der traurigen Verlorenheit neu ausdrückt:

TENEBRAE

Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.

Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.

Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.

Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde
und Maar.

Zur Tränke gingen wir, Herr.

Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.

Es glänzte.

Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr
.
Bete, Herr.
Wir sind nah.

Paul Celan

Von Paul Celan stammt dieses Gedicht, aber ich will es auch den Israeliten zur Zeit Hesekiels in den Mund legen, die als Deportierte in der Fremde leben. So verzweifelt sind sie.
Celans Worte entstanden vor dem Hintergrund der unvorstellbaren Finsternis des millionenfachen und blutigen Mordes im Holocaust, dem auch seine geliebten Eltern zum Opfer fielen. Er muss getröstet werden.
So muss auch das Volk Israel getröstet werden, genau so wie der Sprecher in Celans Gedicht. Sie fühlen ja den gleichen Schmerz: Überall ist Sterben, nirgends ein guter Gott.

Paul Celan schreibt von den Menschen, die dabei sind, in den Tod geschickt zu werden.
So mag sich auch das Volk Israel bei seiner Deportation nach Babylon gefühlt haben. Hinaus geschickt in den Tod.
Hesekiel aber erzählt davon, wie Gott die Toten zurückholt ins Leben.

Paul Celan bedichtet die Menschen, deren Blut und Leben vergossen wird, er denkt an die unzähligen, deren Knochen von den Knochen getrennt und vom Fleisch gelöst wurden.
Das Volk Israel ist geteilt und getrennt in der Fremde, ihr Blut, ihr Leben von Gott genommen.
Hesekiel aber prophezeit, wie auf Gottes Wort hin Knochen wieder zu Knochen finden und Fleisch annehmen, wie rosige Haut von frischem Blut durchflossen wird.

Bei Paul Celan kauern sie leblos da, mit leeren Augen, leeren Mündern, regungslos, leblos, atemlos den Tod erwartend, wenn nicht schon tot.
Das Volk Israel fühlt sich in Schockstarre, auf nichts kann es mehr blicken, nichts gibt es mehr zu sagen, auch sie am Boden, tödlich erschöpft.
Hesekiel aber beschreibt, wie leblose Leiber wieder Atem holen und aufstehen.

Bei Paul Celan warten sie auf das endlich-Sterben, das heimatlose Kommen zu Gott – es ist kein lieblicher Gott, dem sie sich nahen, kein guter Ort, an den sie gehen – er muss zittern vor ihnen, die zittern vor ihm.
So hat auch das Volk Israel keinen lieblichen, nahen Gott mehr, es hat keinen Ort, an dem es Gott finden kann, an dem es auf eine ewig-Liebende trifft.
Hesekiel aber spricht davon, wie Gott die Kinder Israels nach Hause in ihr Land holt, und wie sie ihren Retter endlich schauen mit frohen, offenen Augen.

“Ich schließe einen Friedensbund mit ihnen, ein ewiger Bund mit ihnen wird es sein. Ich werde sie bewahren und vermehren und meinen Tempel für immer unter ihnen errichten. Ich selbst will bei ihnen wohnen. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.” (Hesekiel 37, 26-27)

Und es geschah so: diesen Trost durfte das Volk Israel erfahren, als die Zeit der Rückkehr kam und die verstreuten Teile des Volkes heimkehrten.

Wahr ist aber leider auch, dass Paul Celan diesen Trost nicht erfahren sollte zu Lebzeiten. Er sollte sein Leben lang Glauben wollen, es aber nicht können – immer wieder tasten seine Gedichte sehnsuchtsvoll nach einem guten Gott und der Geborgenheit, bis sie schließlich verstummen.

Ich habe beide Texte heute bewusst zusammengebracht, denn sie setzen einander ins rechte Licht.
So wunderbar schön und gewaltig die Worte in Hesekiel auch geschrieben sind – es sind Verheißungen, und als solche waren sie gedacht für ihre Zeit. Und auch wenn sie sich im späteren Verlauf der Geschichte noch vielfach neu erfüllten – sie wurden nicht für alle Menschen Wirklichkeit, so auch nicht für Paul Celan. So ist es mit vielen biblischen Texten: Manchmal fühlen wir uns von ihnen angesprochen und erkenne ihre Bedeutung konkret für uns – und manchmal dürfen sie uns leer hinterlassen. Ich sage “dürfen”, denn nicht jeder Text, nicht jedes Wort muss für uns gedacht sein, muss uns aus der Seele sprechen, muss uns meinen. Das gilt auch für Trostworte der Bibel: Wenn wir uns durch sie nicht getröstet fühlen, dann kann es durchaus sein, dass sie eben einfach zu anderen Menschen sprechen. Darüber brauchen wir uns nicht zu sorgen, wir brauchen es nicht uns und auch nicht Gott zum Vorwurf machen, wir dürfen den Trost anderen lassen. Der Kölsche sagt: “Mer muss och gönne könne.”

Umgekehrt brauchen wir uns nicht auf die Verzweiflung eines Paul Celan zurückziehen. Die Tenebrae, die Finsternis um uns und in uns, wird angesprochen und gesehen von Gott. Wenn wir uns müde fühlen und ferne von Gott, tot und leblos, kraftlos und leer, unbedeutend, ausgeschüttet, geteilt und getrennt, dann ist nicht das Ende des Glaubens und erst Recht nicht das Ende der Zuneigung Gottes.
Hesekiel malt ein Bild von Gott als dem Heimbringer, der Liebe-spendenden Lebenskraft, dem Nahbaren, der Warmherzigen, dem Erlöser. Deswegen ist das Bild im Blut, denn auch das feiern wir im Abendmahl, nicht wie bei Paul Celan ein furchtvolles, sondern ein mildes, ein liebliches, ein huldvolles.
Genau dann, wenn uns Gott sehr fern und unwirklich erscheint, darf uns Hesekiels Trost gelten: Gott fügt wieder zusammen, Gott führt in ein Zuhause, Gott wird sich zeigen. Mit Blick auf diese Zusagen darf jeder und jede zum Abendmahl kommen, sei es als verzweifeltes Kind Israels oder als kraftstrotzender Prophet.

Gott fügt wieder zusammen, Gott führt in ein Zuhause, Gott wird sich zeigen. So kommen wir an Gottes Tisch und trinken aus seinem Kelch, und trinken darin das Bild von der Ewigen, der Barmherzigen zur Freude allem, was lebt.

AMEN.

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