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“Marionette auf Abwegen” – Paulus, der Römerbrief und die Widersprüche

Predigt MCC Köln, 16. Feb. 2014
Daniel Großer

Röm. 9, 14-24 „Gottes freie Gnadenwahl“: Vorherbestimmung oder freier Wille?

Vorwort

“Die Bibel ist ein Buch voller Widersprüche!”
Immer, wenn jemand sowas sagt, frage ich ihn oder sie: “Welche meinst du zum Beispiel?”
Meistens wird es dann still, weil die Klage über die Widersprüche der Bibel viel mehr Ausdruck von Verärgerung über die Kirche war, als Anstoß an den ihren logischen Problemen.
Dabei müsste man mir einfach antworten: “Der Römerbrief ist ein gutes Beispiel!”
Treffer – versenkt. Unser Predigttext umfasst eine für mich schwierige Stelle aus dem Römerbrief. Freiwillig hätte ich mir diesen Text ganz bestimmt nicht ausgesucht, doch es ist der Predigttext der Evangelischen Kirche im Rheinland für diesen Sonntag. Und da ich den Predigttext nicht mag, sind wir heute gleich in vielfältiger Weise auf Gottes Segen angewiesen.

Predigt

Der große Theologe Karl Barth kannte sich mit dem Römerbrief um Längen besser aus, als ich. Dennoch heißt es von ihm:
„Im Römerbrief knorze ich … […] Was steckt da alles dahinter! … Paulus – was muß das für ein Mensch gewesen sein und was für Menschen auch die, denen er diese lapidaren Dinge so in ein paar verworrenen Brocken hinwerfen, andeuten konnte! … Hätten wir doch früher uns zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füßen hätten!“

Der Römerbrief wurde mutmaßlich von Paulaus während seiner dritten Missionsreise verfasst, als er sich für einige Monate in Korinth aufhielt. Korinth ist eine griechische Stadt und liegt nur 80 km westlich von Athen, dem Zentrum der Wissenschaft in der Antike. Wer zur Zeit des römischen Reiches als klug und gebildet gelten möchte, kommt an einem Studium in Griechenland nicht vorbei. Griechenland, Heimat von Diogenes, Sokrates, Pythagoras und zahllosen anderen großen Geistern ihrer Zeit. Paulus ist ein gebildeter römischer Staatsbürger, Griechenland stattet er bei seiner zweiten und dritten Missionsreise umfangreiche Besuche ab. Die Apostelgeschichte berichtet uns von Paulus als einem begnadeten Redner, der sich in der Diskussion mit seinen Zeitgenossen messen konnte.
Im Römerbrief breitet er der Gemeinde in Rom das ganze Grundgebilde seiner Theologie aus. Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig – er kennt die schon recht große Gemeinde in Rom nämlich gar nicht persönlich, will sich ihr mit dem Brief aber bekannt machen. Er stellt im Römerbrief Glaubensaussagen und Grundannahmen über Gott auf, und schlussfolgert davon ausgehend klassisch logisch auf die Eigenschaften und Absichten Gottes.
In den Versen vor unserem Predigttext und an dessen Anfang bezieht sich Paulus auf das Alte Testament. Er erzählt von Menschen, die Gott zu gutem oder bösem bestimmt hat – und davon, wie Gott seine Meinung durchaus auch mal revidierte. Hören wir noch einmal auf den Predigttext:

  • Was sollen wir dazu sagen? War Gott ungerecht? Natürlich nicht! Denn Gott sagte zu Mose: »Ich erweise meine Gnade dem, den ich erwähle, und ich schenke mein Erbarmen dem, den ich erwähle.« Gottes Zusagen erhalten wir also nicht, indem wir sie uns wünschen oder uns darum bemühen, sondern Gott erbarmt sich über den, den er erwählt. Denn in der Schrift heißt es, dass Gott zu Pharao sagte: »Ich habe dich in der Absicht berufen, dass ich an dir meine Macht zeige und sich dadurch der Ruhm meines Namens über die ganze Erde ausbreite.« Ihr seht also, dass Gott sich über den erbarmt, über den er will, und dass er das Herz eines anderen verschließt, sodass er nicht auf ihn hört. Nun wendet jemand vielleicht ein: »Warum wirft Gott den Menschen dann noch vor, dass sie nicht auf ihn hören? Kann sich den jemand seinem Willen widersetzen?« Was denkst du, wer du bist? Du bist doch nur ein Mensch und willst dich mit Gott streiten? Sagt das Geschaffene etwa zu seinem Schöpfer: »Warum hast du mich so gemacht?« Wenn ein Töpfer Gefäße aus Ton formt, hat er da nicht das Recht, aus demselben Klumpen Ton ein Gefäß für besondere Anlässe und ein anderes für den gewöhnlichen Gebrauch herzustellen? Wenn Gott seinen Zorn zeigen und seine Macht ausüben will, kann er viel Geduld mit den Gefäßen seines Zorns haben, die zum Verderben bestimmt sind, und dadurch den Reichtum seiner Herrlichkeit denen erweisen, die er als Gefäße seines Erbarmens dafür vorbereitet hat. Das gilt auch für uns, die er aus dem jüdischen Volk und aus den anderen Völkern erwählt hat.

Paulus fasst an ein heißes Eisen. Haben wir einen freien Willen, oder ist alles vorherbestimmt? Entscheiden wir selbst, an was oder wen wir glauben, oder sind wir nur Marionetten eines Spiels? Und wenn wir einen freien Willen haben: Sind dann nicht wir zwangsläufig verantwortlich für alles gute und schlechte? Wenn aber hingegen Gott alles vorher geplant hat – Ist Sie dann nicht verantwortlich für alles gute und schlechte?
Paulus segelt im Römerbrief zu den gefährlichen Klippen namens “Prädestination” und “Freier Wille”, oder anders ausgedrückt: “Vorherbestimmung” gegen “Zufall”. Was lenkt mich? Wer ist der Steuermann auf meinem Lebensboot? Bin ich es – oder ist es Gott?

Paulus leidet wie viele andere Autoren der Bibel daran, dass seine Aussagen gerne in Bruchstücken zitiert werden, um damit eine eigene Theorie zu untermauern. Die Calvinisten stürzten sich auf das Leitmotiv der Vorherbestimmung. Wenn es dir im Leben gut geht, dann bist du erwählt. Wenn es dir im Leben schlecht geht, dann eben nicht. Der Calvinismus hat Menschen dazu motiviert, möglichst viel aus ihren Möglichkeiten zu machen – schließlich will man ja erwählt sein, oder? Und der Calvinismus hat Menschen damit in den Wahnsinn getrieben – die einen schafften es nicht in den Kreis der Erwählten, die anderen lebten in Furcht vor einer Lebenslüge. Die Theorie der Prädestination hat vielen Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben geraubt, vielen Menschen hat sie Zweifel an Gottes Güte eingeflößt. Wenn alles vorherbestimmt ist, dann kann ich kleiner Wurm ja eh nichts bewirken, und Gott ist ein ferner, fremder Gott.

Umgekehrt gab und gibt es aber auch Gemeinden, die sich ganz auf das Leitmotiv des freien Willens konzentrieren. Auch diese Gemeinden haben Menschen dazu motiviert, moralisch “richtig” zu handeln, denn freier Wille verpflichtet ja schließlich, oder? Und auch diese Gemeinden haben Menschen in den Wahnsinn getrieben und tun es bis heute – die einen können der “Moral” nicht entsprechen und quälen sich mit Schuldgefühlen, die anderen überhöhen sich selbst zu Moralaposteln. Wenn ich nicht selbst gut genug bin, dann kann Gott mir auch nicht gut sein.

Freier Wille ohne Vorherbestimmung? Eine gefährliche Sache!
Vorherbestimmung ohne freien Willen? Eine gefährliche Sache!

Ich denke, Paulus wusste das. Deswegen widerspricht er weder dem Gedanken vom freien Willen, noch dem Gedanken der Vorherbestimmung. Paulus widerspricht sich selbst! Paulus, der talentierte Logiker, kann dem Paradox nicht entfliehen. Zur Zeit, als der den Römerbrief geschrieben haben muss, hatte er bereits drei Missionsreisen hinter sich. Er muss also schon viel mit den logischen und intelligenten Griechen diskutiert haben. Und er hatte jahrelang Zeit gehabt, die Früchte seiner Lehre zu betrachten um zu sehen, ob seine Worte Bestand haben.

Ich glaube, dass Paulus das Spannungsfeld zwischen Vorherbestimmung und freiem Willen absichtlich stehen lässt. Er will dem Paradox gar nicht entfliehen. Für mich als Informatiker, der Logik über alles liebt, ist das unerträglich. Ich halte es nur schwer aus, wenn Paulus an der einen Stelle logisch schlussfolgert, und sich drei Absätze später widerspricht. Ich will Butter bei die Fische! Ich hätte mir den Römerbrief als eine saubere, schlüssige Konstruktion nach festen Regeln gewünscht!
Doch genau das ist der Römerbrief nicht. Mir sind die Versuche von Menschen peinlich, diese Widersprüche begründen zu wollen.
Jetzt wisst ihr, warum ich den Predigttext nicht leiden kann.

Ja: Gott widerspricht sich! Ja: Paulus widerspricht sich! Ja: Auch ich werde mir jetzt widersprechen, denn ich möchte euch verraten, warum ich den Römerbrief liebe.

Zur MCC in Köln und weltweit zählen sich viele Menschen, die ein paradoxes Leben sehr gut kennen und dauerhaft das Gefühlt haben, zwischen den Stühlen zu sitzen. Manche haben Blut unterschiedlicher Kulturen in ihren Adern. Manche leben zwischen oder jenseits der Idealbilder von Mann und Frau. Manche erfahren den Spagat zwischen Sucht und erfolgreicher Karriere. Manche entdecken ihren Glauben zwischen alter Tradition und unbekanntem Neuland. Manche wagen das Eintauchen in die Gemeinschaft aus Freunden und Feinden. Manche verlassen den geglaubten sicheren Hafen ihrer Lebens- und Glaubensgewohnheiten.

Wenn ich über den Tellerrand der Gemeinde hinaus sehe, stellt sich mir die ganze Welt wie eine riesige Ansammlung von Widersprüchen und Paradoxien dar:
Wir leben auf einer fruchtbaren Erde – doch Abermillionen von Menschen leiden bitteren Hunger.
Wir leben in einem reichen Land – doch viele sind nicht frei, ihr Leben zu gestalten.
Wir sind manchmal zu den Menschen am gemeinsten, die wir am meisten lieben.
Wir befinden uns manchmal in aussichtslosen Lebenslagen – und fassen doch Hoffnung.
Manche bilden sich viel auf ihre Bildung ein – und spüren dennoch tiefen Herzenshunger.
Religionen wollen Gott vermitteln, biedern sich aber den Mächtigen der Welt an.

Ich fühle mich umgeben von einer zutiefst paradoxen Welt! Und ich bin froh, dass Gott meinen Erfahrungen nicht mit der flachen Hand ins Gesicht schlägt, indem sie mir ihr Wort in einer Form gibt, die gar nicht zu dieser Welt passt.

Paulus wird es in der Antike nicht anders gegangen sein. Auch Paulus muss die Widersprüche seiner Zeit und die Widersprüche Gottes gekannt haben. Ich denke, dass er und die anderen Autoren der Bibel uns nicht etwa schrieben, damit wir ein schlüssiges, logisches Kochbuch für gelingendes Leben haben. Ich denke nicht, dass die Bibel uns ein historisch und wortwörtlich exaktes Sachbuch sein will. Ich denke nicht, dass sie die alles erschöpfende Erklärung von Gottes Absichten darstellt. Ich denke nicht, dass Gott darauf angewiesen ist, dass wir alle seine Widersprüche erklären.

Aber ich glaube fest daran, dass Paulus uns im Römerbrief eine Brücke schlägt, die uns hilft, zu leben und zu glauben. Deswegen bin ich dankbar, dass Paulus die Widersprüche anerkennt und stehen lässt. Ich bin dankbar, dass die Bibel den Schwebezustand unseres Lebens anerkennt, der zwischen Anbruch und Vollendung des neuen Himmels und der neuen Erde besteht. Ich bin dankbar, dass ich mich mit meinen Unsicherheiten und inneren Widersprüchen bei Gott wiederfinde. Deshalb sehe ich im Römerbrief Worte der Ermutigung und des Trostes.

Wenn du in deinem Leben erfahren hast, dass Gott mit dir nichts anfangen kann, dass du ein zutiefst sündhafter und verdorbener Mensch bist, dass du irgendwie kaputt bist, dann schreibt Paulus dir im Römerbrief: Gott hat dich erwählt! Du bist in Gottes Augen wunderbar! Es besteht kein Grund, dich verloren und ohne Hoffnung zu fühlen, wenn Gott dich so sieht.

Umgekehrt:
Wenn du in deinem Leben erfahren hast, dass du klein und unbedeutend bist, dass du nichts an dir und deinem Umfeld ändern kannst, dass Gott weit weg ist und dich gar nicht ernst nimmt, dann schreibt Paulus dir im Römerbrief: Dein Wille und dein Einsatz sind Gott wichtig! Gott mutet und traut dir zu, etwas zu bewegen! Der Wunsch danach, “gut” zu sein, ist schließlich auch eine Wirkung des Heiligen Geistes. Er muss nicht Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls sein. Du darfst und sollst “gut sein” wollen.

Wenn du das nächste Mal im Römerbrief oder einer anderen Stelle der Bibel liest, dann nimm dir diese Brücke mit, die Gott uns durch Paulus gezeigt hat.

Wo ist dein Platz auf dieser Brücke? Was kann dir heute ermöglichen, Gottes Erwählung wahrzunehmen, wie kann Gott dir Trost spenden und deiner Seele Frieden schaffen? Umgekehrt, wo oder wie möchtest du mit Gott vielleicht Veränderung gestalten und neue Farben an die Wände deines Lebenshauses bringen?
Befindest du dich eher auf der einen Seite, oder eher auf der anderen? Stärkt dich das Bewusstsein deiner Selbstentschlossenheit, oder findest du Kraft in der Besinnung auf Gottes liebevolle Gedanken dir gegenüber? Stehst du vielleicht gerade in der Mitte, oder gehst du in eine Richtung?
Wie möchtest du mit Menschen umgehen, die auf dieser Brücke an einer anderen Stelle stehen, als du?

[Einkehr:]

  • Wo ist dein Platz auf der Brücke?

  • Könnte es dir gut tun, dich erwählt zu fühlen?

  • Möchtest du “gut” sein? Wo möchtest du mit Gott Veränderung gestalten?

  • Was fordert dich heraus? Was tröstet dich?

  • Wie stehst du zu anderen auf der Brücke links und rechts von dir?

Gott stärke deine und meine Zuversicht für ein Leben, das oft in der Schwebe ist.
Gott gebe dir und mir Vertrauen für die Wege, die wir noch nicht kennen.
Gott tröste dich und mich, wenn uns die Widersprüche dieser Welt überkommen.

 

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