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Queerfeindliche Situationen – Überstehen (1/3)

G*ttesdienst MCC Köln, 19. Juni 2022
S.

1. Mose 37-50 & Römer 8,38-39

Begrüßung

Dieses Jahr setzen wir uns zum CSD damit auseinander, wie wir mit queerfeindlichen Erfahrungen umgehen können, und mit der Frage, ob Glaube für uns darin eine unterstützende Ressource oder ein Hindernis ist. Die Idee ist inspiriert von einem Zine, das Radikale Solidarität ist unsere Waffe heißt. In dem Zine sind eine Reihe an Umgangsmöglichkeiten festgehalten, wenn Menschen queerfeindliche Situationen oder Angriffe erleben, und es ist in drei Punkte aufgeteilt: Überstehen in der Situation selbst, Ausruhen nach der Situation, und Widerstand gegen Queerfeindlichkeit als langfristige Umgangsmöglichkeit. Heute schauen wir uns den Punkt Überstehen an.

Damit beschäftigen wir uns natürlich mit einem Thema, das belastend oder sogar triggernd sein kann: mit queerfeindlichen Situationen oder Angriffen von gemeinen Kommentaren bis hin zu Gewalt. Wenn du merkst, dass dieses Thema dir heute nicht gut tut, dann sorg bitte für dich. Du kannst dich jederzeit rausziehen, in dem du z.B. kurz vor die Tür gehst, eine Runde spazieren gehst, im Gemeindezentrum bleibst und dich im Vorraum mit der Leseecke ablenkst, oder indem du hierbleibst und einfach nicht mehr hinhörst. Das gilt natürlich auch für euch online – ihr könnt z.B. den Ton abschalten, den Bildschirm ausmachen, oder die Konferenz kurz oder ganz verlassen und euch jederzeit wieder reinwählen, wenn ihr das möchtet. Es gibt viele Möglichkeiten, heute Gottesdienst zu feiern und Teil unserer Gottesdienstgemeinschaft zu sein. Ihr müsst dafür weder körperlich noch mental anwesend sein.

Kerzen anzünden.

Wir sind heute versammelt im Namen G*ttes, die uns Queer & in Vielfalt geschaffen hat. [Kerze]

Wir sind heute versammelt im Namen Jesu, der dafür, wer er war und wofür er sich eingesetzt hat, Anfeindungen, Verfolgung und Gewalt erfahren hat. Sein Handeln und Sein haben ihm aber auch Freund*innen und Gefährt*innen geschenkt, die ihn genau dafür gesehen, geliebt und begleitet haben. [Kerze]

Wir sind heute versammelt im Namen der Ruach, der heiligen Geistkraft, die uns sieht, liebt und durch unsere Erfahrungen begleitet. [Kerze]

Wir entzünden die Gemeindekerze, die uns als Gemeinschaft miteinander verbindet – mit denen, die heute hier sind, und mit denen die heute nicht dabei sein können. G*ttes bedingungslose Liebe vereint uns – in Solidarität mit allen Menschen und Religionen. [Kerze]

Lesungen

Römer 8,38-39:

38Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Römer 8,38-39

Josephine (Gedicht von J Mase III, angelehnt an die Josefgeschichte, 1. Mose 37-50):

Sie fragt mich, ob sie mit mir über Gott sprechen kann, um 3 Uhr morgens im C-Zug. Etwas an meinem queeren Aussehen muss ihr gesagt haben, dass ich offensichtlich auf dem besten Weg zur Hölle bin. Ich habe mich an diese Form von Reaktion von Fremden gewohnt, mindestens einmal die Woche passiert das, seit ich mit 16 das erste Mal exorziert wurde. Aber heute, heute bin ich es leid. Und ich beschließe, dass heute ich an der Reihe bin mit dem Bekehren. Also, bevor Sie mit Ihrer Leier anfangen, sagen Sie mir: haben Sie schon die gute Nachricht gehört, über Josef aus dem 1. Buch Mose?

Weißt du, Josef, Josefine, Jo aus dem 1. Buch Mose, das Lieblingskind von Jakob (bzw. Isreal), als du gefragt wurdest, was du dir wünschst, hast du dich nach einer einzigen Sache gesehnt: einem kethoneth passim (כְּתֹנֶת פַּסִּים). Der Pastor hat das als königlichen Umhang bezeichnet, und Jo, ich hatte die Bibel noch nie gelesen, dich gefunden und weitergelesen, Josefine, bis ich rausgefunden habe, dass dein bunter Rock ein Prinzessinnenkleid war.

Josef, dein Vater muss dich sehr geliebt haben, denn er hat es dir geschenkt, und du hast es mit Stolz getragen.

Jo, als deine Brüder dich gesehen haben, in deinem wallenden Kleid, in deiner Herrlichkeit, wurden sie rasend. Es tut mir leid, dass sie dich geschlagen haben. Es tut mir leid, dass sie dein Kleid zerstört haben, und es mit deinem Blut verschmiert haben.

[…]

Liebe*r Josef aus dem 1. Buch Mose, Josefine, Jo, ich nehme deine Geschichte für mich an. Für jedes queeres Kind, dem gesagt wird, es sei unheilig; für jeden queeren Erwachsenen, dem gesagt wird, dass unsere Liebe nur sein darf, wenn wir unseren Glauben sterben lassen. Ich trage dich mit dir, in meinem Herzen, gleich neben Rut & Noami, David & Jonathan, Hegai & Deborah, und setze uns ans letzte Abendmahl, mit Jesus und Lazarus, ja, Jesus nehme ich auch mit.

Lieber Pastor, du behauptest, deine Worte stammen von Gott ab, wo doch deine Bücher einem irdischen König die Treue schwören. Sei dir bewusst, auf wessen Seite du stehst – du hast zu lange über Menschen wie mich gelogen.

Englische Originalversion:
https://www.friends-ucc.org/post/josephine-a-poem-by-j-mace-iii-in-honor-of-transgender-day-of-remembrance-november-20-2020
und
https://www.youtube.com/watch?v=1QgLjR7UTVE

Predigtimpuls: Glauben als Ressource oder Hindernis?

Der Text, den wir gerade gehört haben, ist ein gekürztes Gedicht von J Mase III, einem Schwarzen trans* Dichter aus Seattle. J hat unter anderem das Black Trans Prayer Book (https://theblacktransprayerbook.org/) mit herausgegeben, und wenn ihr ihn und seine Arbeit unterstützen wollt, kann ich euch das Buch auf jeden Fall empfehlen. Ich habe seinen Text gewählt, weil er für mich viel von der Ambivalenz aufgreift, die ich in Bezug auf Glauben als Ressource/Hindernis im Überstehen von queerfeindlichen Erfahrungen spüre.

Das Zine Radikale Solidarität ist unsere Waffe schlägt folgendes vor, wenn Menschen eine queerfeindliche Situation erleben:

  • Pöbeln, also sich gegenüber der Person mit Schimpfwörtern wehren
  • Öffentlich machen, also zum Beispiel nach Hilfe rufen, andere Menschen ansprechen oder laut aussprechen, was dir gerade passiert
  • Ignorieren oder Weggehen
  • Grimassen schneiden, schreien, springen, oder die Täter*innen anderweitig schockieren oder verwirren
  • Support holen, indem mensch zum Beispiel Freund*innen anruft
  • Selbstbewusst entgegen, also sich z.B. körperlich aufbauen
  • Selbstverteidigung, also sich auch körperlich gegen Angriffe wehren

Die Verfasser*innen des Zines schreiben noch dazu, dass es ganz wichtig ist, dass jede Situation anders ist – dass es z.B. einen Unterschied machst, ob du die Täter*innen kennst oder ob sie Fremde sind, ob du mit anderen oder alleine unterwegs bist, wo ihr seid, usw. – es kann also gar keine „eine richtige“ Umgangsform geben. Alles, was du in dem Moment tust, um dich oder andere zu schützen, ist erstmal okay. Manchmal schaffen wir es nicht zu reagieren, sondern frieren ein. Ich kenne das, und das fühlt sich manchmal irgendwie schwach an. Aber auch das ist okay. Nichts davon ist schwach.

Wenn wir uns jetzt angucken, wie Glaube darin eine Rolle spielen kann, dann fühle ich mich ziemlich hin- und hergerissen, ich weiß nicht, wie es euch geht. Queerfeindliche Erfahrungen können ganz viel in uns auslösen: zum Beispiel Scham, Schuld, Wut, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst oder Resignation. Sie haben oft das Ziel, Menschen zu demütigen, sie kleinzumachen und dafür zu bestrafen, dass sie anders sind, als von einer Norm erwartet wird. Neben der konkreten Gefahr für unsere körperliche Unversehrtheit haben sie aber auch langfristige Konsequenzen. Wenn uns immer wieder gespiegelt wird, dass wir weniger liebenswert, wertvoll, sündig und weniger existenzberechtigt sind als z.B. heterosexuelle cis-Menschen, dann kann sich das mit der Zeit ganz schön in uns einfressen, auch darin, wie wir uns selbst sehen. Es ist gar nicht so leicht, sich z.B. gegen Beschimpfungen zu wehren, wenn ein Teil von uns diese selbst glaubt. Hier sehe ich einen Punkt, wo christlicher Glaube hemmend sein kann, wenn wir queerfeindliche Situationen erleben. Denn leider sind genau das auch die Worte, die viele queere Menschen von anderen Christ*innen zu hören bekommen: dass ihre Liebe, ihre Sexualität, ihre Art, Beziehungen zu führen und/oder ihre Geschlechtsidentität von G*tt als sündig und falsch erachtet werden. Wie kann also christlicher Glaube eine Ressource in queerfeindlichen Erfahrungen sein, wenn christlicher Glaube selbst für viele Menschen eine Quelle von Queerfeindlichkeit ist? Wie kann christlicher Glaube uns darin unterstützen, uns zu wehren, nicht zu verzweifeln oder uns etwas Angst nehmen, wenn christlicher Glaube für einige Täter*innen ihr „Grund“ und ihre Motivation hinter ihrem Angriff ist? (z.B. https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_violence_against_LGBT_people_in_the_United_States) Was können wir tun, wenn die Queerfeindlichkeit, die uns begegnet, christlich ist?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf habe ich das Gedicht von J Mase III für die Lesung ausgewählt. In dem Gedicht wird J im Zug von einer Frau belästigt, die ihn missionieren will. Diese christliche Form der Queerfeindlichkeit passiert ihm öfter. Auch in seiner Glaubensgeschichte hat er viel Queerfeindlichkeit gelernt, so berichtet er von einem Exorzismus und einem Pastor, der negativ über queere Menschen spricht und mögliche queere Figuren in der Bibel unsichtbar macht, z.B. durch die Übersetzung von kethoneth passim (כְּתֹנֶת פַּסִּים) als königlicher Umhang statt als Kleid in der Josefgeschichte. J reagiert, indem er sich in Josef mit einer Figur verbindet, die er als queer liest, er sucht und findet sich selbst in der Bibel und schafft sich so einen Weg, seinen Glauben als stärkende Ressource in einer Situation einzusetzen, in der ihm sonst seine Queerness & sein trans* Sein als etwas Negatives ausgelegt werden. Sein Gedicht nimmt sich den christlichen Glauben zurück. Das finde ich eine total schöne Idee, wie Glaube eine ergänzende Ressource sein kann, wenn die Queerfeindlichkeit, die uns begegnet, einen christlichen Hintergrund hat. Die Bibelstelle, die eingangs vorgelesen wurde, ist vielleicht eine gute Erinnerung daran, dass G*ttes Liebe für ALLE gilt – ohne Ausnahme.

Jede queerfeindliche Erfahrung ist anders. Ob eine Situation queerfeindlich ist oder nicht, kann auch je nach Person unterschiedlich wahrgenommen werden. Es kann keinen „einen richtigen“ Umgang für ALLE Situationen geben, die uns begegnen. Vielleicht empfindest du deinen Glauben gar nicht ambivalent, sondern er gibt dir einfach Kraft und Sicherheit in Situationen, in denen du dich unsicher fühlst. Vielleicht hast aber auch du in deiner Glaubensgeschichte Sachen gelernt, die dich hemmen, wenn du in einer unsicheren Situation bist, weil du z.B. gelernt hast, dass mensch sich nicht körperlich wehren darf. Vielleicht spielt Glaube hier auch einfach keine Rolle für dich. Ich habe Zettel und Stifte mitgebracht und möchte euch einladen, für euch aufzuschreiben:

  1. So kann Glaube mir helfen
  2. So hemmt Glaube mich
  3. Das bräuchte ich, damit Glaube eine stärkende Ressource für mich sein/werden kann

Was denkst du?

 

 

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