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Glaube und Glaubende aus den Ketten befreien

Predigt MCC Köln, 19. Mai 2019
Madeleine Eisfeld

Apostelgeschichte 16,23-34

Paulus und sein Begleiter Silas befinden sich im Gefängnis. Paulus hat bei ihrem Besuch in der Stadt Philippi gepredigt und damit einen Aufruhr verursacht. Nun sind sie der Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt. Ganz bewusst haben sie mit diesem Akt ein Gesetz übertreten.
Gesetzesbruch im Namen Jesu. Dafür droht ihnen Strafe. Eine zunächst einmal ausweglose Situation. Werden sie nur ausgepeitscht? Droht eine lange Kerkerstrafe? Am Ende gar der Tod? Alles ist denkbar.
Paulus betet, er bittet die heilige Geistkraft, die Ruah, um Hilfe und Beistand, er bekommt sie.
Die Ketten, mit denen sie gefesselt sind, fallen, und die Gefängnistüren öffnen sich.
Doch nun geschieht das Ungewöhnliche.
Die Gefangenen lassen die Gelegenheit zur Flucht ungenutzt, sie verharren in ihrer Zelle.
Weshalb tun sie das?
Das hat verschiedene Gründe.
Zunächst einmal, um den Wärter nicht zu gefährden, denn der wäre von seinen Vorgesetzten dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Für Paulus steht fest: Es darf kein fremdes Menschenleben gefährdet werden.
Der Wärter ist von dem Ereignis so ergriffen, dass er zum Glauben findet. Ende gut alles gut!
Oder?
Bekehrungsgeschichten, wunderbar! Das ist doch ganz nach dem Geschmack der späteren Kirchen. Die überzeugenden Worte einer Predigt, ein frommer, tadelloser Lebenswandel und nicht zuletzt Mut und Entschlossenheit, echte Heldentaten. Furchtlose Streiter für den wahren Glauben, für den einzig rechten Glauben. Immer wieder begegnen uns diese Geschichten.
Solche Menschen beeindrucken uns sicher alle in irgendeiner Art und Weise.
Menschen, die treu zu ihrer Überzeugung stehen, ungeachtet der Konsequenzen, die daraus entstehen könnten. Treu, womöglich bis in den Tod.
Paulus ist sich bewusst, dass ihr Leben auf dem Spiel steht. Die Römer fackeln nicht lang; wer sich der bestehenden Ordnung widersetzt, bekommt die volle Härte zu spüren, meist wartet am Ende der Tod.

Gern werden diese als Musterbeispiel für die gefangene Kirche angeführt. Bis heute gibt es weltweit gefangene Kirchen. Die Menschen späterer Zeitepochen sollten sich in der Bedrängnis an Paulus erinnern und sich ein Beispiel an ihm nehmen.
Der Glaube stärkt und gibt Kraft. Er lässt sich nicht einsperren oder in Ketten legen. Paulus fühlt sich, gestärkt durch die Kraft, die ihm die heilige Ruah schenkt, frei.
Eine klassische Predigt würde hier ansetzen.

So weit, so gut. Doch 2000 Jahre Kirchengeschichte sind sehr vielgestaltig, zum Teil ausgesprochen kompliziert und nicht selten widersprüchlich. Schwarz-Weiß-Denken hilft uns in dieser Angelegenheit wenig.
Betrachten wir die Szene etwas genauer.
Paulus und Silas sind zunächst einmal nicht aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses in Haft, sondern aus rein politischen Gründen. Aufruhr, Rebellion, das Infragestellen der staatlichen Ordnung, das ist es, was man ihnen zur Last legt.
Die Antike, zur Zeit Jesu oder Paulus, kennt keine religiöse Intoleranz. Die Intoleranz in Glaubensfragen kam erst mit dem Christentum.
Das römische Imperium präsentiert sich multireligiös. So, wie wir das auch aus unserer heutigen Zeit kennen. Auch dort gab es eine Fülle von Religionen, Mysterienkulten und Philosophien aus allen Teilen der damals bekannten Welt, und alle strebten sie nach Rom. Die Hauptstadt des Imperium Romanum wurde zum Schmelztiegel der Kulturen, Nationen und Religionen. Alles wurde geduldet, solange es nicht der staatlichen Autorität zuwiderlief.
Nur zwei Ausnahmen wurden gemacht. Bei der einen handelt es sich um die altkeltische Druidenreligion in Gallien und Britannien, gegen die von Seiten der Römer mit äußerster Brutalität vorgegangen wurde. Die andere betrifft das junge Christentum.
Es sind ausschließlich politische Gründe, die den neuen christlichen Glauben in Misskredit bringen.
Vor allem die Ablehnung des staatlich verordneten Kaiserkultes wird als offene Rebellion empfunden. Die Christen lehnen es strikt ab, diese vom Staat geforderte Loyalitätsbekundung dem obersten Herrscher gegenüber zu leisten. Man fragt sich warum. Weshalb setzen sie ihr Leben wegen einer solchen Lappalie aufs Spiel?
Da haben wir es wieder. Leiden für Christus. Leiden um des Himmelreiches wegen?
Die Stunde der Märtyrer. Die werden in der frühen Kirchengeschichte eine ganz besondere Rolle spielen
Die Apostel sind ihnen darin Vorbild. Paulus, Petrus, Jakobus, Thomas und all die anderen aus dem Jüngerkreis haben gelitten. Sie wurden verfolgt, waren gefangen, misshandelt und wie es sich für Apostel gehört, ermordet. Es geht einfach nicht an, dass ein Apostel friedlich in seinem Bett stirbt, nach einem erfüllten Leben. Sie haben geradezu die Pflicht, Jesus im Leid nachzueifern. Auch Paulus tut dies hier in dieser Szene, er ist erfüllt von dem Wunsch, seinem Christus ähnlich zu werden.
Im zweiten Jahrhundert nach Christus befand sich die Märtyrerbewegung auf ihrem Höhepunkt.
Zeugnis ablegen, standhaft bleiben bis zum bitteren Ende, dafür winkte in der Ewigkeit die Märtyrerkrone.
Imitatio Christi, so wie Christus werden, in allen Einzelheiten, bis zum gewaltsamen Tod.
Christ sein heißt Märtyrer sein. Erst im Martyrium vollendet sich der Glaube.
Und für die Gesamtheit bedeutet es, dass das Blut der Märtyrer jene Saat ist, aus der die Kirche erwachsen kann.
Märtyrer wurden hoch verehrt und hatten, so sie denn die Qualen überlebten, in den Gemeinden gehörig etwas mitzureden.
Eine ganze Reihe forderten ihr Martyrium geradezu heraus, indem sie die staatliche Ordnung derart provozierten, dass die gar nicht anders konnte als sie zum Schweigen zu bringen.
Die Furcht, vor dem Endgericht im Himmel zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden, wog bedeutend schwerer als die irdischen Strafen, die zu erwarten waren.
Auf uns heutige Menschen wirkt diese Art zu Denken unheimlich, ja geradezu pervers.

Dieses Denken und Handeln steht auch im krassen Widerspruch zu Jesu Aussagen.
Jesus will uns verdeutlichen, dass er keineswegs ein Martyrium von uns verlangt. Er möchte, dass wir leben, in der Freiheit leben, jener Freiheit, die uns von der heiligen Ruah geschenkt wird. Bringt euch nicht unnötig in Gefahr, will er uns sagen. Wenn es um euer Leben geht, dann leistet notfalls das euch aufgezwungene Opfer, was ist das schon, ich werde es euch nicht vorhalten, die heilige Geistkraft ebenfalls nicht. Glaube hängt nicht an äußeren Ritualen oder Handlungsweisen. Glaube ist ein Geschenk, das von innen kommt. Glaube lässt sich nicht in Ketten legen, wie uns das Beispiel von Paulus zeigt, der sich auch noch in seiner Gefangenschaft frei fühlt.
Aber wir sind und bleiben Menschen. Authentisch lebende Menschen sind es, die Jesus vor Augen hat, wenn er an das Reich Gottes denkt, und keine Glaubenshelden, die durch ein rigoroses Verhalten sich und andere in Gefahr bringen.
Das dürfen wir nicht vergessen. Aus diesem Grund ist es auch so gefährlich, wenn Prediger, wenn Glaubenslehrer und Priester den Gläubigen solcherlei Glaubensmut, etwa eines Paulus als Beispiel, für ihr eigenes Leben nahe zu bringen suchen. Das ist unfair und unrealistisch.
Und es verkennt die wahren Tatsachen der Kirchengeschichte.

Gefangene Kirche, verfolgte Kirche? Wo beginnt sie? Wo hört sie auf? Wer sind die Verfolgten, wer die Verfolger?
Die ersten 300 Jahre waren einfach. Uns begegnet eine machtlose, oder anders ausgedrückt ohnmächtige Kirche. Doch gerade innerhalb dieser Ohnmacht reift sie zur wahren Stärke.
In dieser Zeitperiode ging es noch halbwegs gerecht zu. Kirche, das war ein Sammelbegriff für zum Teil sehr unterschiedliche Gruppen, die mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander lebten und sich in einer Art theologischem Wettstreit befanden.
Doch dann, nach der konstantinischen Wende, ändert sich das. Kaiser Konstantin benötigt die (früh)-katholische Kirche für sein Machtkonzept, deshalb beginnt er sie zu begünstigen.
Diese Kirche wähnt sich ab diesem Zeitpunkt allein als rechtgläubig und in der Tradition Jesu. Den anderen spricht sie jegliche Legitimation ab.
Ausgerechnet jene Glaubensgemeinschaft, die sich auf den friedfertigen, armen und politisch machtlosen Jesus berief, wurde nun selbst zum Teil jener staatlichen Autorität, unter der sie so lange zu leiden hatte. Und was tut sie? Sie dreht den Spieß um. Just in dem Moment, da die (kath.) Kirche, die so lange für das Recht auf freie Religionsausübung stritt, an die Schalthebel der Macht gelangt, verweigert sie anderen Religionen und Glaubensüberzeugen eben dieses Recht. Ist das nicht sonderbar?
Allen voran sind es die Abweichler aus den eigenen Reihen, die mit gnadenloser Härte verfolgt werden, die Ketzer, die Häretiker, die Abtrünnigen, jene, deren Glaubenslehre nicht selten nur geringfügig vom vorherrschenden Dogma abweicht.
Darin sind sich Christen und Kommunisten sehr ähnlich, denn auch letztgenannte sind ja dafür bekannt, dass sie Abweichler aus den eigenen Reihen mit besonders unbarmherziger Härte verfolgen, vielmehr als Andersdenkende.
Aus der verfolgten Kirche entwickelt sich schnell die verfolgende Kirche.
Doch auf wen will sie sich berufen, wenn sie nun ihrerseits Andersdenkende ausgrenzt?
Auf Jesus? Das kann unmöglich sein! Jesus befindet sich stets an der Seite derer, die um ihrer Überzeugung willen verfolgt, gedemütigt, gefoltert und ermordet werden.
Wenn es stimmt, dass nur die verfolgte Kirche die wahre Kirche Christi ist, wären alle ketzerischen Gruppen der Geschichte die eigentlichen Träger der Wahrheit.
Ich selbst bin von dieser These, die ich lange Zeit vertreten habe, inzwischen etwas abgerückt, immerhin fühlen sich auch ausgesprochen konservative, reaktionäre und fundamentalistische Gruppen verfolgt oder von der offiziellen Kirche ausgegrenzt.

Tatsache jedoch ist eines: In dem Moment, in dem sich die verfolgte Kirche in die verfolgende Machtkirche wandelt, hört sie auf, Kirche Jesu Christi zu sein.
All jene, die sich aufmachen, den Glauben mit Gewalt durchzusetzen, handeln nicht im Namen Jesu.
Diejenigen, die sich ihrer Macht bedienen, um anderen ihre Vorstellung von Glauben und Kirche aufzuzwingen, haben das Evangelium nicht verstanden.
Wirkliche Macht ist in der scheinbaren Ohnmacht verborgen.
Es ist schier unmöglich, dem Jesus der Bergpredigt zu folgen, gleichzeitig aber aufgrund einer höher gestellten Position in der Kirche oder auch der Gesellschaft Menschen zu demütigen, auszugrenzen oder gar verbal anzugreifen.
Auch Paulus und sein Begleiter sind sich dieser Tatsache voll bewusst. Es ist die dienende Gemeinde, die Heil bringende, die vergebende und die aufbauende, keineswegs aber die autoritäre Hierarchie der Machtkirche, die sie in diesem Beispiel repräsentieren.
Dafür sind sie bereit zu leiden, sind sie in der Lage, Gefangenschaft und Kerker auf sich zu nehmen.

Zurück zur Unschuld. Zurück zu den Anfängen. Auch wenn es schwerfällt und sich uns oft tausend Widerstände in den Weg stellen. Wer immer nur mit dem Strom schwimmt, wird die Quelle nie erreichen. Und dieser Urquell heißt Jesus, ist der Christus und vor allem die heilige Ruah, die Geistkraft, von Anbeginn des Weltalls präsent, lange bevor der erste Hassprediger sein lähmendes Gift in die Seelen der Menschen goss.
Diese Gedanken können dich auf deinen Wegen begleiten. Kehr um! Denk tiefer! Vertrau auf die Geistkraft. Blick auf Jesus, so wie er dir in der Bergpredigt begegnet. Bilde mit anderen Basisgemeinden, befreie die Frohe Botschaft von ihren Ketten.
Lass nicht zu, dass das Evangelium, die befreiende, die heilende und Leben spendende Lehre Jesu, von den Repräsentanten der Machtkirche fortwährend in ihr Gegenteil gekehrt wird.
Steh auf! Lass dir nicht einreden, dass du als Laie nichts von Theologie verstehst. Lass dich nicht von Ämtern und akademischen Graden beeindrucken. Die zählen im Himmelreich sehr wenig.
Mach dich auf den Weg zum Licht. Es beginnt langsam, aber sicher zu dämmern, auch wenn du es noch nicht bemerkt haben solltest, das neue Zeitalter steht schon bereit. Es wartet darauf, von dir erkundet zu werden. Die Tür ist offen, du musst sie nur noch durchschreiten. Doch um das zu bewerkstelligen, musst du zunächst dein Herz bereiten für Liebe und Mitgefühl, für Harmonie und Verständigung.
Wenn du hingegen Machtfülle erstrebst, bist du auf dem Holzweg. Dann wirst du das Licht niemals sehen, stattdessen in immerwährender Dunkelheit verharren.
Vergiss nie, worauf es ankommt.

Finde die Kraft in deiner Schwäche. Finde die Macht in deiner Ohnmacht.

AMEN

Ein kleiner Zusatz:

Letzten Sonntag war ich wieder einmal zu einer Demo im Hambacher Forst. Dort erfuhr ich von einem geplanten Sakrileg.
Die Kirchen der beiden Dörfer Manheim und Morschenich sollen demnächst von einem Bischof „entwidmet“ werden. Entwidmung, die verharmlosende Form von Entweihung.
Die Kirchen werden ihres heiligen Zweckes beraubt und sind de facto zur Plünderung freigegeben. Die neuen Besitzer, also in diesem Fall der RWE-Konzern, kann damit machen, was er will.
Statt an der Seite jener Menschen zu stehen, die um den Erhalt ihrer Heimat und somit auch ihrer Andachtsstätten kämpfen, macht sich die Kirche zum Büttel der Reichen und Mächtigen.
Hier erleben wir das entgegengesetzte Beispiel. Macht verwandelt sich in Ohnmacht. Kirche kapituliert vor dem Kapital.
Tiefer kann Kirche nicht mehr sinken.

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