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Fundis mit zu viel Testosteron

Predigt MCC Köln, 14. Mai 2017
Manfred Koschnick

Matthäus 21,14-17 „Die Tempelreinigung“

Habt Ihr’s gehört? Ich glaube, im September war’s, da hat ein junger Mann den Kiosk am Dom zerdeppert, hat die kleinen Marienstatuen aus Rumänien, die Kruzifixe aus fair gehandeltem Tropenholz, die Betenden Hände von Albrecht Dürer in Olivenholz aus Israel und die Miniaturnachbildungen des Schreins der Heiligen 3 Könige, *Made in China*, brachial mit der Faust von den Tischen und aus den Vitrinen gefegt. In Ekstase hatte er das Geld aus der Kasse auf den Boden geworfen und darauf herum getrampelt. Mit einem Wort: Er ist total ausgeflippt. Es sind Idealisten, Fundis mit zu viel Testosteron, die meinen, man solle mit dem Heiligen keine Geschäfte machen. Ich war zufällig dabei, als es passierte. Der Kerl ließ sich auch bald durch eine Ablenkung beruhigen, leider nicht durch meine vernünftigen Argumente, mit denen ich versuchte, professionell zu deeskalieren. Nein, was diesen zornigen Mann ablenkte, waren die Obdachlosen, die Bettler, die durch den Lärm angelockt wurden. Unter ihnen gab es welche, die professionell einen auf blind oder lahm machten, um dadurch mehr Geld erbetteln zu können. Teilweise habe ich es mit meinem Handy gefilmt. Einem schwulen Bahnhofsstricher, der sich zu seinen Füßen gesetzt hatte, legte der junge Rebell die Hände sanft, angstfrei und entspannt auf dessen (durch Stress) von Schuppenflechte verunstaltetes Gesicht. Bald war das Gesicht fast rein und alle staunten. „Die Sünden sind Vergangenheit. Die Zukunft ist entspannter liebevoller Sex!“ Der Wunderheiler kraulte liebevoll das krause schwarze Haar des Jungen. Einer der Obdachlosen rief stark angetrunken: „Eh, Jesus, wie hast Du das gemacht? (Ja, der Besoffene nannte ihn tatsächlich Jesus, den Messias!) Ich habe 2 dicke Eier. Lange keine Frau mehr gehabt. Kannst’e da mal was machen?“ Einige lachten. Als aber der Besoffene dem rebellischen Mann mit glasigem Blick in die Augen schaute, wurde das Gesicht des Obdachlosen rot vor Scham. Er rückte ernüchtert und respektvoll etwas nach außen. Auch das war ein Wunder! Die „Blinden“ legten ihre Sonnenbrillen ab. Die „Lahmen“ legten die Krücken beiseite. Der Moment war wichtiger als das Geschäft. Sie fühlten sich plötzlich nicht mehr nur als stigmatisierte Bettler, sondern in ihrem ganz normalen Menschsein gesehen. Die Potentiale aus besseren Zeiten durften wieder auferstehen. Dadurch blühten sie in ihrem individuellen Menschsein auf. Das hatte eine Gruppe von ca. 12-jährigen Hauptschülern gesehen. Sie fanden den Heiler cool! Zwei türkischstämmige Kinder riefen: „Jesus! Jesus! Jesus!“ Moment mal! Das war ja so, als wäre der echte Jesus heute lebendig und wirklich unter diesen Obdachlosen, Kranken und Kindern. Diesen spöttischen Klamauk kann man denen doch nicht durchgehen lassen. Dann klatschten alle, auch die Bettler, in die Hände und riefen begeistert: „Jesus lebt, Jesus lebt, Jesus lebt!“ Es war laut und ekstatisch wie in einem Fußballclub. Jetzt wurde die Situation echt peinlich, ja geradezu gotteslästerlich! Christus ist für Deine und meine Sünden qualvoll gestorben. Das verdient meinen und deinen Dank, ehrfürchtigen Respekt und Gehorsam und eine sittsame Kontrolle unserer Triebe und Gefühle, aber nicht das, was hier Kinder, Kranke und Bettler veranstalten. Ich musste einschreiten. Ich sagte diesem Jesus eher leise kollegial im Vertrauen, ich sei zwar nicht katholisch, eher ein Westfale des Glaubens, aber das gehe hier eindeutig zu weit. Er wecke Heilserwartungen, die er als Mensch nicht erfüllen kann. Das Ganze sei auch der Würde des katholischen Doms nicht angemessen. Wenn der junge zornige Mann es mit dem Glauben ernst nehme (und das unterstellte ich ihm), solle er jetzt gewisse Dinge klar und richtig stellen. Er entgegnete mit Hinweis auf das am Boden liegende Geld, er sei gerade bemüht, etwas klarzustellen. Ein Obdachloser, der unser Gespräch gehört hatte, meinte: “Lasset die Kinder zu mir kommen! Das steht doch schon in der Bibel“…. „Amen!“, sagte ein anderer und rülpste. – „Amen“, sagte auch dieser Jesus, „ich sage Euch aber, heute seid ihr meinem Vater zum Segen und Lobpreis geworden, schon allein dadurch, dass ihr trotz Eures gescheiterten Lebensentwurfs immer noch lebt. Lobpreis ist wie Taufe von Babys. Er beginnt VOR allem Erkennen, Begreifen und Verstehen. Brabbeln, Schreien, Lachen ist Ausdruck des Lebens gegen den Tod, ein Lobpreis Gottes bis zum letzten Atemzug.“… „Sag ich doch – Amen!“, wiederholte der Mann, …aber der Rülpser kam nicht. Mit diesen Leuten konnte man nicht vernünftig reden. Ich sagte: „Schämt Ihr Euch nicht Gott gegenüber und seinem Sohn Jesus Christus (?). Dort hängt er am Kreuz (ich zeigte auf die am Boden liegenden Kruzifixe aus fair gehandeltem Tropenholz), und Ihr verspottet ihn. Jesus wird wiederkommen, ja – aber glaubt mir, so auf die Art bestimmt nicht!“ Der rebellische Mann entgegnete mir: „Woher willst Du das wissen?! Hast Du nie gelesen: Aus dem Munde von Unmündigen und Säuglingen hast du dir Lob bereitet? Wer immer betet „Vater im Himmel, Dein Reich komme“, sollte sich nicht wundern, wenn es dann auch wirklich kommt! Es kommt ohne Vorwarnung …wie ein Dieb in der Nacht. Es ist nun gerade hier angebrochen unter den Unmündigen, die es verkündigen – ohne Theologiestudium.“ Die Obdachlosen grölten, die Kinder jubelten. Ich schrie diesen Jesus mit den Kindern an: „Das ist eine unverschämte Anmaßung!“ Mir drehte sich der Magen um bei dieser Trivialisierung des Geheimnisses der Erlösung. „Jesus hilft! Jesus hilft! Jesus hilft!“ schrien die Kinder anfeuernd. Hosianna, Kindermund tut Wahrheit kund! Anscheinend war ich in die Rolle eines reaktionären Amtskirchenchristen gedrängt, ein Feind des lebendigen Glaubens und noch schlimmer – ein Feind der guten Laune. Die Situation drohte emotional außer Kontrolle zu geraten, und es kamen jetzt schaulustige Touristen dazu. In diesem selbsternannten oder von Unmündigen erkorenen frechen „Erlöser Jesus“ sahen die Kinder und Obdachlosen anscheinend ihre Art Robin Hood – einen, der ihren der ihnen hilft. Ich bin kein rachsüchtiger Pharisäer, aber jetzt rief ich doch die Polizei. Diese war gleich zur Stelle und befragte ihn. Als er ihnen (zu mir hingewandt) antwortete: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge / hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen. ….HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!“, brachten sie ihn vorsichtshalber ins Landeskrankenhaus. Ich fuhr als Seelsorger mit. Eine inhaltliche Einengung im Denken dieses „Jesus von Köln“ wurde diagnostiziert. Die Untersuchung erbrachte aber keinen Hinweis auf formale Denkstörungen. Selbst- oder Fremdgefährdung wurde ausgeschlossen. Anklage wurde auch nicht erhoben. Die Polizei fuhr ihn freundlicherweise nach Hause. Ich fuhr auch nach Hause und dachte im Linienbus nach: Wie geht das zusammen, einerseits liebevoll zärtlich den Hautkranken zu heilen, zu integrieren – ihn, der sich bei dem Wunsch nach Berührung vielleicht nur noch in schwule Darkrooms hatte flüchten können (?) oder wie bei Matthäus beschrieben, den wie tot gelähmten Menschen ihre natürliche Bewegung zurückzugeben, dass sie jetzt gemeinsam ermutigt etwas bewegen können… und dann liebevoll blinden Menschen die Augen zu öffnen, weil sie die Blindheit gar nicht brauchen und die Sichtung, die Erkenntnis der schlichten Wahrheit sie endlich befreit, – andererseits die böse zerstörerische Wut auf die Vermarktung dessen, was Menschen eigentlich heilig ist. Was haben die Kinder, dieser zärtlich liebende Jesus, die Geheilten und der aggressive Jesus denn gemeinsam? Es ist die einfach spontane Leidenschaft. Es ist das, was mir als evangelischem Prediger fehlt, allzumal Sünder und in Ermangelung des Ruhms, den ich bei Gott habe. Leidenschaft ist auch der Mut, öffentlich wirklich und wirksam zu sich selbst, der eigenen unverkäuflichen Würde, den eigenen Rechten, Fähigkeiten, unbeugsamen Identität oder Berufung zu stehen, mag sie anderen Christen, der Polizei, den Psychiatern, in Kirchen und Tempeln dieser Welt auch noch so unpassend erscheinen. Wie viel Leidenschaft und Lebenskraft braucht Dein Glaube – und wie viel Leidenschaft und heilende Kraft verträgt er?

Mein Mut, mich selbst als Prediger aus Gottes Perspektive für „großartig“ zu halten (wie Nelson Mandela es formulierte) kann andern helfen, es mir gleich zu tun. Manchmal reicht schon z.B. das „Jesus hilft!“ der türkischen Kinder um Gottes Wort zu verkünden. Wir wünschen uns noch etwas mehr Verstärkung in unserm Predigtteam der MCC. Habt Mut!

Ich habe mir die Geschichte von dem jungen Mann am Dom ausgedacht. Kein Wort davon ist wahr, …aber ich hoffe, dass sie in uns ermutigend wahr wird so wie das Wort Gottes in einem tieferen Sinn wahrhaftig sein kann. (Hosianna!)

Amen.

 

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