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Damit die (Ohn-)Macht ihre Macht verliert – und der „Raum der °Freundlichkeit Gottes“ Raum bekommt

Impuls zur Erbauung, 5. März 2023
Ines-Paul Baumann

Brief an die Gemeinde in Rom 5,1-5

In der Bibel ändert sich fast alles irgendwann mal (G*ttesbilder, Glaubensfragen, Riten, …), aber eines bleibt konstant: Der Widerstand gegen Mächte und Mächtige, die Gerechtigkeit und Menschlichkeit mit den Füßen treten.

Allerdings wurden auch Texte, die diesen Widerstand stärken könnten, seitens dieser Mächtigen vereinnahmt. Aus Texten, die mich aufrichten sollten, wurden Texte, die mich hinhalten sollten. Anstatt mich darin zu stärken, meine Hoffnung auf ganz reale Veränderungen nicht zu verlieren, sollte meine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod umgelenkt werden. Anstatt mich darin zu stärken, mich den Mächtigen entziehen, sollte gestärkt werden, die Mächtigen hinzunehmen. Durchhalten bezog sich dann nicht mehr darauf, im Widerstand durchzuhalten, sondern in der bestehenden Situation durchzuhalten, sie auszuhalten, stille zu sein.

In diesem Text geht es um Widerstehen und Widerstand. Es wird auch angedeutet, wogegen sich das richtet (du wirst deine eigenen Bezüge davon haben, was dich anfasst und traurig und wütend macht, und welche Strategien du dann hast). Und kurz vor dem Ende werde ich nicht den Mantel des Schweigens über das decken, was Menschen passieren kann, die sich widersetzen. Achte bitte darauf, was davon du heute (nicht) an dich heranlassen möchtest bzw. kannst.

Zur Zeit geht es mir nicht gut. Ich leide unter dem, was Menschen mit Macht, Geld und Einfluss in unserer Welt anrichten. Zwei noch harmlosere Beispiele:
– Der Ölkonzern Exxon weiß seit den 80er Jahren ganz genau, was sein Öl für das Klima bedeutet – und schaltet gleichzeitig Anzeigen, in denen das Gegenteil behauptet wird. (Das ist mir weder wirklich neu noch überrascht es mich wirklich. Trotzdem kann ich nicht sagen: „Ist doch egal. Machen alle so. Wenn wir es nicht machen, machen es andere. Außerdem würde das womöglich unseren Profit schmälern. Oder wir müssten gar insgesamt umdenken. Das kann doch kein Mensch von uns verlangen.“ DOCH, KÖNNEN WIR!!!) (https://taz.de/Klimaforscher-ueber-Lobbymacht/!5916444;moby/)
– Ein CSU-Gemeinderat erklärt, dass Tempo 30 in einem Wohngebiet nicht eingeführt werden kann. Das Problem: Die Autos, die dort fahren, seien so groß, dass die gar nicht so langsam fahren können. Nur 4 von 21 Gemeinderäten stimmen dann gegen das Tempolimit. (https://blog.fefe.de/?ts=9afe5ac7; der Link zum Artikel in der Süddeutschen verlangt Zustimmung zu Werbung oder zu einem Abo)

Mich fasst das an. Wenn mich diese beiden Sachen schon so angreifen, könnt ihr euch vorstellen, wie es mir mit den anderen Sachen geht.

Es ist so absurd. Klima, Geschlechtervielfalt, Postkolonialismus, Rassismus, überall gibt es so viele so hoffnungsmachende Stimmen, Ideen und Aktive. Und dann kommen diejenigen daher, die lieber an Ungerechtigkeiten, Verantwortungslosigkeit, arroganten Bequemlichkeiten und ihren Vorteilen festhalten wollen, und die blockieren, verhindern, zerstören, ausweichen, ignorieren, lügen, sticheln und bedrohen.

Ich finde das unbegreiflich. Und dann lese ich den vorgeschlagenen Episteltext für den heutigen Sonntag und denke: „Wieder so ein Text, der zum Schweigen und Aushalten aufruft“:

1Wir können in Gottes °Frieden leben, weil Gott uns auf Grund unseres °Vertrauens gerecht spricht und wir dem °Messias Jesus gehören. 2Durch ihn haben wir Zugang in den Raum der °Freundlichkeit Gottes. Das ist unser Ort. Wir können uns glücklich preisen, weil wir darauf hoffen, dass Gottes °Gegenwart alles durchdringt. 3Auch in Stunden großer Not können wir uns glücklich preisen, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass große Not die Kraft zum Widerstehen stärkt. 4Diese Kraft stärkt uns, dass wir standhalten können; die Erfahrung standzuhalten stärkt die Hoffnung. 5Die Hoffnung führt nicht ins Leere, denn die Liebe Gottes ist durch die heilige °Geistkraft in unsere °Herzen gegossen. Sie ist uns geschenkt.

Brief an die Gemeinde in Rom 5,1-5
Bibel in gerechter Sprache:
https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/bigs-online/?Roem/5/1/

Und dann habe ich den Text nochmal gelesen und dachte:

Halt. Warte. Ich könnte den Text auch genau andersherum verstehen. Alles davon könnte auch als Widerstand und Ermutigung verstanden werden!

Frieden finde ich nicht dadurch, dass ich resigniere. Oder gar anfange, mitzumachen. Ich kann in Frieden mit mir und meinen Werten und meinen Mitmenschen sein, auch wenn ihr mich jeden Tag angreift und ich mich jeden Tag aufreibe. Ich muss nicht mit euch und eurer Welt Frieden schließen. Ich bin für meinen Frieden gar nicht auf euch angewiesen. Diesen Frieden könnt ihr mir nicht geben, und ihr könnt ihn mir nicht nehmen. Meine Friede wurzelt in G*ttes Friede. Und das ist KEIN Friede, der mit Ungerechtigkeiten Frieden schließt.

Ich brauche euch nicht, um aufrecht gehen zu können. Ihr könnt mich anklagen, verunsichern, kleinmachen – aber ich muss euren Blick auf mich ja nicht teilen. Ich brauche euren Segen gar nicht! Ich brauche eure Zustimmung nicht, ich brauche nicht, dass ihr mich mögt, toleriert, absichert oder versteht. Weder Staat noch Kirche noch Soziale Medien müssen oder können mich gerecht sprechen. Ich bin nicht von euch und eurem Urteil über mich abhängig.

Ich gehöre euch nicht. Ich gehöre nicht euren Werten, nicht euren Anfeindungen, nicht eurer kaputten und kaputt machenden „Normalität“. Wenn ich schon irgendwo hin- bzw. dazugehören möchte, dann an die Seite von Jesus – dem, der dafür steht, es anders und besser und menschlicher und liebevoller und gerechter zu machen – und aller Menschen, die genau dazu beitragen. DA fühle ich mich zugehörig.

Mögt ihr noch so unfreundlich und ungnädig und unaufmerksam mit euch und der Welt umgehen, mein Ort ist der Raum der °Freundlichkeit Gottes, die umwerfend ist und die ihr mir nicht wegnehmen könnt. Ihr habt kein Recht und keine Macht, mir den Zugang dazu zu versperren.

Ihr mögt noch so laut und mächtig und einflussreich sein, euch gehört mein Leben nicht und auch nicht die Welt. G*ttes Gegenwart ist relevanter. Auf sie richte ich meinen Blick, an ihr richte ich mich aus. Ja, noch ist es eine Hoffnung, dass Gottes Gegenwart alles durchdringt. Durchdringen ist aber ein Prozess, kein entweder „komplett da“ oder „komplett weg“. Mögen auch andere Mächtige und Gewalten die Welt an vielen Stellen noch prägen: Mit G*ttes Verheißungen ist euch jedes Anrecht auf Selbstverständlichkeit genommen; eure vermeintliche Wirklichkeit ist nicht mehr alles und stets nur vorübergehend.

G*tt vertraue ich mehr als euch und euren Floskeln und euren Lügen und Versprechen. Mit Vertrauen meine ich sowas wie „anvertrauen“ – ich vertraue mich G*tt an. Es geht hier nicht um religiöse Korrektheiten; der Weg zu diesem Raum G*ttes ist hier nicht gepflastert mit Bekenntnissen, Erkenntnissen, Selbstanklagen, Lebensweisen oder was andere noch so alles heranziehen, um ihr Urteil zu fällen (über mich und andere und sich).

Was mir G*tt schenkt, ist auch keine Belohnung für etwas, das ich mir erst erarbeiten muss (oder überhaupt erarbeiten KÖNNTE), oder erlernen, oder verdienen, oder für sonst irgendein marktförmiges Tauschgeschäft à la: „Ich schenke dir mein Leben, dann schenkst du mir Errettung vor der Hölle.“ Genau von solchen Strategien, Drohungen und Erpressungen befreit mich G*ttes Raum der Freundlichkeit.

Und geschenkt heißt auch: es wird mir nicht aufgezwungen, nicht aufgedrängt, es geht hier nicht wieder um Erwartungen. (Auch nicht um die Erwartungen anderer Menschen aus dem christlichen Kontext, weder zu gesellschaftlichen Themen noch zu religiösen Fragen wie, ob ich das Abendmahl richtig feiere.)

Ja, manchmal geht es mir schlecht. Manchmal weiß ich nicht weiter, manchmal will ich nicht mehr. Und mir geht es ja noch gut dabei. Andere gehen für ihre Überzeugungen und Anliegen ins Gefängnis, werden weggetragen, weggesperrt, geschlagen, gefoltert, ermordet, gejagt, ausgeschlossen und mittellos. Aber damit kriegt ihr uns nicht klein. Inmitten dieser Nöte gestalten und erfahren wir auch Solidarität, Zusammenhalt, Unterstützung. Diese Erfahrungen machen uns nicht klein, sie stärken uns und unseren Widerstand. Daraus schöpfen wir Kraft, standzuhalten. Und jedes Standhalten wiederum nährt unsere Hoffnung. Keine leere Hoffnung, keine leeren Worte, keine leeren Versprechen. Denn, in den Worten des Briefes: Es sind eben nicht alle Menschen eh und immer und nur schlecht. Wenn die Liebe Gottes in unsere Herzen eingegossen IST, sind wir eben nicht „eh immer nur“ Sünder*innen und „können eh nicht anders“. Mögen uns eure Werbung und euer Wirtschaftssystem noch so sehr einreden, wir seien alle egoistisch und unersättlich und nicht in der Lage, mit weniger Profit klarzukommen oder umzudenken oder Tempo 30 zu fahren: Ich glaube euch kein Wort.

Und DESWEGEN nehme ich weiterhin nicht hin, dass alles so ist, wie es ist. Deswegen ziehe ich mich gerade nicht in meinen Glauben zurück. Sondern genau deswegen werde ich weiterhin nicht euch diese Welt überlassen, sondern mich auf die konzentrieren, mit denen der Freundlichkeitsraum G*ttes in unserer Welt Gestalt gewinnt. Ganz konkret. Heute. Und morgen. Und übermorgen. So wie gestern und vorgestern und vor langer Zeit zu Zeiten des Römerbriefs.

Ja, all das ist in der Stelle im Römerbrief eingefasst und formuliert in der Sprache und den Denkfiguren seiner Zeit. Aber genau das zeigt ja auch: egal, in welchen Umständen und mit welchen Bildern Macht ausgespielt, gerechtfertigt und unsichtbar gemacht wird – es ist IMMER möglich (und ist IMMER geschehen), in diesen Bildern auch zu transportieren, dass es Alternativen gibt zum Resignieren und Mitmachen.

 

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