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Distanz & Diskurs (nicht gerade typische Erfahrungen mit Kirche)

Predigt MCC Köln 22. Mai 2016
Ines-Paul Baumann

Johannes 3,1-8: „Jesus und Nikodemus“

Irgendwie wissen Menschen um mich herum dauernd ganz genau, ob ich Mann oder Frau bin (früher: „Frau, ganz klar!“, heute: „Mann, ganz klar!“). Sie wissen das, ohne mich zu fragen, und ihre Zuordnung ist immer eindeutig. Entweder so, oder so. Als gäbe es nichts dazwischen oder darüberhinaus. Sie wissen auch immer ganz genau, was das bedeutet: „Mannsein“ oder „Frausein“. Ich würde gerne meinen eigenen Weg darin finden, aber die Definitionsmacht dieser Allwissenden ist so übermächtig, dass mir über reine Abgrenzung hinaus oft nur wenig „Spiel-Raum“ bleibt.

Ähnliches habe ich in Bezug auf Glaubensfragen erlebt. Manche Menschen in Kirchen und Gemeinden wissen immer ganz genau, ob jemand anders „Christ ist“ oder „nicht“. (Entweder so, oder so!) Und sie wissen auch immer ganz genau, was das bedeutet: Christsein. Auch damit erlebe ich aber viele Menschen, die gerne ihren eigenen Weg finden würden in Bezug auf Glaubensthemen – aber angesichts der klaren Urteile derjenigen, die im Glauben bereits Allwissende sind, bleibt ihnen auch hier oft nur Abgrenzung übrig.

Es gibt da einen Menschen im Johannes-Evangelium, dem bis heute ähnliches widerfährt. Predigten über ihn können ihn meistens ganz genau einordnen. (Überhaupt gehört es ja irgendwie zum Anspruch an Predigten, dass sie Bibeltexte genau einordnen können und immer etwas Klares und Eindeutiges zu behaupten haben. Auch hier wünsche ich mir viel mehr Zwischen-Räume!)

Ich sage es also direkt: Ich werde aus Nikodemus nicht schlau – „und das ist gut so“!

Ich denke nämlich, dass „glaubens-uneindeutige“ Menschen auch heute verdient hätten, von Christen so behandelt zu werden wie Nikodemus damals von Jesus: mit Raum für die Distanz und die Diskussionen, wie Nikodemus sie wollte.

Aber von vorne: Hier ein paar Punkte, bei denen ich nicht zu eindeutigen Schlussfolgerungen komme.

1) Nacht.

Nikodemus kommt bei Nacht zu Jesus.

Auf rein menschlicher Ebene ist das verständlich: Nikodemus gehört eigentlich zu den Kreisen derjenigen, die in allen Evangelien als Kritiker und Gegner Jesu beschrieben werden. Was würden seine Leute denken, wenn sie mitbekommen, dass er sich ausgerechnet mit diesem Jesus treffen möchte?! Nikodemus hat einen Ruf zu verlieren und einen gesellschaftlichen Status.

Aber im Johannesevangelium steht „Nacht“ und „Dunkelheit“ nicht nur als Schutz für heimliche Treffen. „Licht“ und „Dunkelheit“ haben hier auch eine geistliche Bedeutung. Wer „im Licht“ ist, ist „bei/mit Gott“. Dass Nikodemus im Dunkel der Nacht unterwegs ist, könnte also so interpretiert werden, dass er in einer Art „geistlichen Umnachtung“ lebt. Nikodemus, der Gottesferne.

Andererseits gilt die Nacht bei den jüdischen Rabbinern als eine besondere Zeit für die Auslegung der Tora. So gesehen wäre die Nacht sehr wohl ein angemessener Rahmen zum Austausch über spirituelle Themen.

2) Glaubensbekenntnis?

Nikodemus eröffnet das Gespräch so: „Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, den Gott gesandt hat. Denn niemand kann solche Wunder tun wie du, wenn Gott nicht mit ihm ist.“

Nikodemus bekundet hier also seine Anerkennung von Jesus als Lehrer („Gott ist mit dir“) und dass Gott mit ihm ist. Manche sehen hierin durchaus eine Art Glaubensbekenntnis an Jesus.

Andererseits spricht er von Jesus nicht als „dem einzigen und wahren Erlöser“, wie es manche Christen von einem Menschen erwarten, bevor der als wahrer Christ gelten darf.

3) Wiedergeboren?

„Jesus entgegnete: Ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Nun HAT Nikodemus ja eben gesagt, dass er sieht, dass Gott mit Jesus ist. Damit GEHÖRT Nikodemus doch zu denjenigen, die das Reich Gottes sehen können im Wirken Jesu.

Könnten wir die Antwort Jesu also vielleicht auch so verstehen: »Weißt du was, Nikodemus: Wärest du nicht schon von neuem geboren, so würdest du das Reich Gottes in meinen Zeichen gar nicht sehen können.«

So gesehen würde Nikodemus sehr wohl dazugehören zu den Wiedergeborenen.

Meistens wird die Antwort Jesu aber genau andersherum verstanden: Jesus muss diese Erklärung anbringen, weil Nikodemus eben NICHT dazugehört.

(Würden wir das auch so werten, wenn Jesus diese Aussage im Zwölferkrei seiner Jünger getroffen hätte? Die gelten unter Christen ja sehr wohl als „wahre Christen“. Die Jünger gelten als Inbegriff derjenigen, die „dazugehören“. Aber wie oft sind gerade sie es, denen Jesus etwas erklären muss und die nichts begreifen!

Ich bezweifle stark, dass die Jünger sich zu diesem Zeitpunkt als Wiedergeborene bezeichnet haben. Hätte Jesus ihnen gegenüber gesagt, was er hier zu Nikodemus sagt, wäre das aber garantiert nicht so gelesen worden, dass Jesus sie damit abqualifiziert und als Verlorene betrachtet. Im Gegenteil, bei den Gesprächen Jesu mit den Jüngern ist Widerspruch oft Teil eines Dialogs, mit dem Jesus seine Lehre entfaltet – und zwar immer als Dialog MIT Leuten, DIE DAZUGEHÖREN, und nicht GEGEN sie als Zeichen dafür, dass sie NICHT DAZUGEHÖREN.)

Auch die Antwort Jesu hilft mir überhaupt nicht dabei, den Nikodemus einzuordnen.

4) Wörtlich nehmen?

Nikodemus nimmt die Aussage Jesu zur Wiedergeburt wörtlich – woraufhin Jesus ihm umgehend deutlich macht, wie sehr er damit daneben liegt. Jesus wörtlich zu nehmen ist nicht immer ein Hinweis auf geistliche Tiefe im Glaubensverständnis.

Im Lauf des Gesprächs entwickelt sich Nikodemus aber immer mehr zu einem guten Zuhörer.

Wo wollen wir „wahres Christsein“ hierdrin anordnen?

5) Anhänger Jesu?

Nikodemus kommt im Verlauf des Johannesevangeliums noch zwei weitere Male vor:

Das eine Mal, als Jesus verurteilt werden soll (hier setzt sich Nikodemus dafür ein, dass Jesus zumindest das Recht hat, angehört zu werden), und dann nochmal, als Jesus nach sinem Tod vom Kreuz genommen wird:

Nun ging Josef, ein Mann aus Arimatäa, zu Pilatus und bat ihn, den Leichnam Jesu vom Kreuz abnehmen zu dürfen. Josef war ein Jünger Jesu – allerdings nur heimlich, weil er sich vor den ´führenden` Juden fürchtete. Als er von Pilatus die Erlaubnis erhalten hatte, ging er ´zum Hinrichtungsplatz` und nahm den Leichnam Jesu ab. Auch Nikodemus, der Jesus am Anfang einmal bei Nacht aufgesucht hatte, war gekommen. Er brachte etwa hundert Pfund einer Mischung von Myrrhe und Aloe mit. Die beiden Männer nahmen den Leichnam Jesu und wickelten ihn unter Beigabe der wohlriechenden Öle in Leinenbinden, wie es der jüdischen Begräbnissitte entspricht.

Joh. 19,38-40

Nikodemus ist also vor Ort, als Jesus nach seinem Tod vom Kreuz genommen wird, und kümmert sich mit um ihn (im Gegensatz zu den Jüngern, von denen weit und breit keiner zu sehen ist).

Ist er also auch ein heimlicher Anhänger Jesu, wie der Josef, mit dem er das macht? (Wobei „heimlich“ und „Jünger“ auch nicht gerade eine Kombination ist, die unter „wahren Christen“ Existenzrecht besitzt.)

Oder ist es Absicht, dass nur Josef so beschrieben wird – und bei Nikodemus ist die Salbung nicht ein Hinweis auf dessen geistliche Erkenntnis, sondern nur auf seine fortwährende materielle Fixierung, wie ich irgendwo mal gelesen habe?

Würde Nikodemus also heute als „Christ“ gelten oder nicht?

  • Nikodemus erkennt an einem gewissen Punkt in seinem Leben an, dass Jesus ein wichtiger geistlicher Lehrer ist.

  • Er hat Interesse an einer Begegnung mit Jesus; dabei bleibt es dann aber auch erst mal. Nach dem intensivem Gespräch mit Jesus geht er vondannen, ohne sich erkennbar Jesus anzuschließen oder sein Leben zu ändern.

  • Sein Versuch, die Aussagen Jesu wörtlich zu nehmen, ist nicht gerade hilfreich, um Jesus zu verstehen. Im Laufe seines Austauschs mit Jesus wird er aber ein guter Zuhörer.

  • Später, als Jesus in Nikodemus‘ eigenen Kreisen angeklagt und verurteilt wird, unternimmt er einen zaghaften Versuch, Jesus zu verteidigen. Und als Jesus tot ist, versucht Nikodemus auf seine Art, ihm Gutes zu erweisen.

Verlaufen manche Begegnungen mit dem Glauben bis heute nicht ähnlich?

In Nikodemus erkenne ich Erfahrungen wieder, die Menschen auch heute noch mit dem Glauben machen:

  • Wie viele haben sich schon zu Jesus bekannt, ihn wörtlich genommen, und sind dann ihrem normalen weiteren Leben nachgegangen.

  • Auch heute sind es manchmal diejenigen, die sich am wenigsten als „wahre Christen“ bezeichnen würden, die plötzlich da sind, wenn Kirche angegriffen wird oder gar am Ende ist. Ich habe es immer wieder erlebt, dass ganz „kirchenferne“ Menschen sich als Anwälte der Sache Jesu entpuppten, wo „wahre Christen“ fern davon waren, überhaupt anwesend zu sein.

  • Auch heute hat für viele der Glaube unterschiedliche Bedeutungen in unterschiedichen Lebensphasen.

  • Auch heute muss nicht jede Begegnung mit Jesus dazu führen, dass Leute ihr Leben ändern.
    Auch heute muss nicht jeder Besuch eines Gottesdienstes dazu führen, dass jemand sich einer Gemeinde anschließt.
    Auch heute muss nicht jedes spirituelle Interesse zu einer religiösen Einordung führen.

Die Unentschiedenheit des Nikodemus steht in einem auffälligen Gegensatz zu der Entschiedenheit mancher „wiedergeborenen Christen“.

Nikodemus hat Interesse – aber nur ein bisschen.
Nikodemus will Jesus begegnen – aber nur ein bisschen.
Nikodemus will Jesus lauschen – aber nur ein bisschen.
Verurteilt Jesus ihn dafür?

Nikodemus bleibt auf Distanz – entfernt sich aber nie ganz.
Nikodemus diskutiert – entscheidet sich aber nie ganz.
Verurteilt Jesus ihn dafür??

Nikodemus steht immer auf der „falschen“ Seite:
Aus Sicht der Jüngerkreise ist er Jesus viel zu fern.
Aus Sicht seiner eigenen Kreise ist er Jesus viel zu nah.
Zwingt Jesus ihn, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen??

Jesus hat Nikodemus die Zeit und Aufmerksamkeit gegeben, die der sich gewünscht hat. Zu weiteren Schritten hat er Nikodemus nie aufgefordert.

Nikodemus ist gewissermaßen ein biblisches Vorbild für die vielen Unentschiedenenen, Distanzierten, Diskutierenden auch unserer Zeit.

Wo können diese Menschen HEUTE hingehen, um Jesus „einfach mal so“ und „unbemerkt“ zu treffen?
Wo hält sich Jesus HEUTE „nachts“ auf, um für Leute wie Nikodemus ansprechbar zu sein?
Wo finden Menschen HEUTE in Kirchen den Raum, zu Jesus einen Bezug auch mit Distanz und Diskussionen gestalten zu können?

Es gibt auch heute viele, die sich nicht einer Kirche/Gemeinde anschließen können oder wollen, aber trotzdem eine gewisse Verbundenheit mit Jesus spüren!

Von der MCC erhoffen sich Menschen immer wieder, dass wir genau solche Begegnungen ermöglichen. Gerade bei uns halten sich immer wieder Menschen auf, die nicht schlau werden aus sich, was ihre Glaubenserfahrungen und ihre Spiritualität angeht.

Die Zeit und Aufmerksamkeit, die Jesus dem unentschiedenen Nikodemus damals entgegengebracht hat, bringt er auch heute all denen entgegen, die nicht so recht wissen, was sie von Jesus halten sollen. Gott segne euch!

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