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Fernhalten, Aushalten oder Dagegenhalten?

Predigt MCC Köln, 29. Dez. 2013
Ines-Paul Baumann

Mt 2,13-23: „Die Tötung der Unschuldigen“

Wer sich die Stimmung von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ nicht vermiesen lassen möchte, dürfte an Weihnachten darauf verzichten haben, Nachrichten zu hören. Russland. Syrien. Berlin. Türkei. Berlin. Irak. Berlin. Eine schlimme Nachricht folgt der anderen.

Wer sich die Stimmung von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ nicht vermiesen lassen möchte, sollte an Weihnachten vielleicht ebenfalls darauf verzichten, Bibel zu lesen.

Bethlehem, kurz nach Jesu Geburt: Im Traum empfängt Josef die Anweisung Gottes, mit Maria und dem neugeborenen Jesus nach Ägypten zu fliehen. Gottes Eingreifen verhindert die Tötung Jesu. Alle anderen männlichen Kinder in der Gegend finden in einem unbegreiflichen Massaker den Tod. (Ist das die Konsequenz des Erscheinens des Erlösers in der Welt?)
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Jerusalem, 33 Jahre später: Jesus wird hingerichtet. (Dieses Mal unternimmt Gott nichts, um Jesus vor der Tötung zu schützen. Warum weist Gott das eine Mal die Flucht an, ein anderes Mal nicht?)

Paulus flieht über die Mauern und entkommt.
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Stephanus flieht nicht und wird gesteinigt.

Mose führt das Volk Israel zur Flucht aus Ägypten – Ziel unbekannt, Hauptsache raus aus der Unterdrückung. Gott unterstützt die Flucht.
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Jona flieht vor den Anweisungen Gottes, nach Ninive zu reisen und den Leuten dort zu sagen, was Sache ist. Gott lässt die Flucht nicht zu.

„Wohin sollte ich fliehen… vor DEINEM Angesicht?“, betet der Psalm 139.

Wann sollen wir fliehen? Wann sollen wir standhalten? Wann sollen wir dagegenhalten?

Vor wem sollen wir fliehen? Wen sollen wir aushalten? Wem sollen wir uns entgegenstellen?

Welche schwierigen Umstände sind aus Gottes Sicht hilfreich? Welche OK? Welche von Gott bereits in Angriff genommen?

Was gilt es zu tun, wenn Homosexuelle in Russland neu unterdrückt werden: Sich schützen, unauffällig verhalten, Selbstverteidigung lernen? Politisch Flagge zeigen, sich auf unerlaubten Demos der Gefahr aussetzen? Dem Land fernbleiben und von außen auf Besserung setzen?

Was gilt es zu tun, wenn Transgender auf dem Heimweg angegriffen werden? Unauffällig bleiben und sich verstecken? Banden bilden? Die Gesetzgebung anrufen?

Was gilt es zu tun, wenn der Druck auf der Arbeit oder dem Amt zu groß wird? Sich krank machen lassen oder daran irre werden? Politisch aktiv werden? Gegenhalten?

Was gilt es zu tun, wenn in der Gemeinde Schwierigkeiten auftauchen, zum Beispiel Meinungen oder Menschen, die dir Angst oder Ärger machen? Zuhause bleiben? In eine andere Gemeinde gehen? Weiter hingehen und jede Gelegenheit zum Ablästern nutzen? Das Problem ignorieren und es in der Gemeinde mit einem Paralleluniversum versuchen?

Was gilt es zu tun, wenn der Weltbund (oder Rom, oder die Bischofskonferenz, oder das Ältestengremium) Mist baut und Gemeinden und Aktiven nicht angemessen unterstützt? Sich abwenden und in eine andere Denomination eintreten? Die Leitungsebene ignorieren und sich auf die Arbeit vor Ort konzentrieren? Sich selber auf der Leitungsebene engagieren?

Was gilt es zu tun, wenn ich erfahre, dass ich Krebs habe, oder Depressionen? Aufgeben und so weit wie möglich noch weitermachen? Den Kampf aufnehmen? So tun als wär nichts und es niemandem erzählen?

Was gilt es zu tun, wenn ich inmitten von aggressiven und gewaltbereiten Christenhassern provoziert werde? Schweigen und tun, was sie wollen? Meinen Glauben demonstrativ bekennen? Versuchen, deeskalierend mit ihnen ins Gespräch zu kommen?

Was gilt es zu tun, wenn ich den Eindruck habe, Gott ruft mich auf, wahrhaftiger nach ihrem Willen zu fragen,
mich mutiger in seinen Dienst zu stellen,
oder auch mal mich vertrauensvoll etwas mehr herauszuziehen aus einer Aufgabe?

Was ist naiv, was ist realistisch, was ist töricht, was ist mutig – und vor allem: Was ist Gottes Willen gemäß?

In ein paar Tagen ist Neujahr und ich lade euch ein, in der Stille kurz darüber nachzudenken, wie eure eigene Situation gerade aussieht. Wo steht für dich ein Entscheidung an, wie du mit einer Situation umgehst?
Wo möchtest du fliehen, wo solltest du fliehen, wo ist Fliehen nutzlos, wo führt es dich nur weg von dem Leben und du solltest deinen Fluchtwinkel verlassen?
Vielleicht hängt deine Situation zusammen mit Erlebnissen aus dem vergangenen Jahr, vielleicht mit der Aussicht auf das neue Jahr.
Was ist dran? Schützen zum Überleben? Aushalten und damit leben lernen? Rausgehen und Neues aufbauen? Was möchte Gott dir wohl heute mitgeben?

(Stille und Gebet)

Die Bibel gibt in Bezug auf Fluchtmechanismen genau so wenig ein einheitliches Bild wie das Leben Jesu.

Flucht in der Bibel kann verschiedenes sein:

1. Manchmal geht es einfach erst mal darum, das eigene Leben zu schützen. Raus mit Jesus aus den Händen von Herodes, das Kind soll überleben! Es kann absolut richtig sein, den eigenen Schutz über alles andere zu stellen. Begib dich raus aus der Situation! Wende dich ab von den Menschen! Meide alle Trigger! Rette dich!

Vielleicht kommt dann irgendwann aber auch der Punkt, an dem du wie die Heilige Familie merkst: „Der Platz, an dem ich Schutz gefunden habe, ist nicht der Platz, wo ich in diesem Leben hingehöre. Mein Überleben ist gesichert, aber mein Leben ist mir abhanden gekommen.“

Dann schau neu hin. Vielleicht hat sich was geändert in den äußeren Umständen. Vielleicht hat sich was geändert bei und in dir. Vielleicht kannst du jetzt aufbrechen – nicht einfach zurück dahin, wo du herkommst, aber vielleicht wartet dort in der Nähe dein Leben auf dich.

Lied: Du bist mein Zufluchtsort

2. Manchmal ist Flucht auch ein Weg ohne Rückkehr. Als Israel aus Ägypten flieht, wünscht es sich durchaus manchmal dorthin zurück (insbesondere dann, wenn es ihnen schlecht geht) – aber Gott hält ein neues Leben für sie bereit, an einem anderen Ort, mit anderen Menschen, in anderen Strukturen.

Lass zurück, was dich krank macht, ausbeutet und unterdrückt. Dass du dort genug zu essen hattest, reicht nicht. Gott will dir mehr schenken als nur das Notwendige zum äußerlichen Überleben. Raus mit Paulus über die Mauern, auf zu neuen Ufern!

Die Situation, die dich bedroht hat, gehört vielleicht NICHT zu deinen Aufgaben. Ob die Sklaverei in Ägypten oder in deiner Beziehung oder oder in deiner Familie oder in deiner Gemeinde oder auf deiner Arbeit – es ist nicht immer deine Aufgabe, dort alles auf den Kopf zu stellen und neu zu machen. Auf Israel hat eine ganz andere Aufgabe gewartet, eine neue Aufgabe.

Was wartet auf dich, wenn du das Alte einfach mal hinter dir lässt? Wenn du deine Kräfte nicht den alten Situationen, nicht den alten Menschen, nicht den alten Zusammenhängen widmest? Wenn du stattdessen ins Land deiner Freiheit ziehst?

Lied: Du mein Gott, meine Freundin

3. In Bezug auf den Blick nach vorne kennt die Bibel auch die Flucht, die NICHT sein soll. Jona kann sich noch so sehr vergraben und winden und ärgern und stur stellen – den Ruf Gottes wird er damit nicht los. Gott bleibt solange dran an Jona, bis der sich endlich seiner Aufgabe stellt.

Spürst du deine Aufgabe? Weißt du längst, worauf es hinauslaufen wird? Versuchst du noch, drum herumzukommen?

Über kurz oder lang wird deine Flucht vorbei sein. Und Gott weiß: Dann wird es dir besser gehen – und denen um dich herum auch.

Lied: Nähme ich Flügel der Morgenröte (oder: Jesus, zu dir kann ich so kommen wie ich bin)

4. Zuletzt gibt es noch eine andere Flucht, die Gott nicht zulässt – die einen Menschen aber nicht ins Leben führt, sondern in Gefahr bis in den Tod. Jesus stirbt am Kreuz. Stephanus wird gesteinigt, viele nach ihm ebenfalls.

Trotzdem sind solche Situationen selten. Nicht alle, die sich aufopfern für den Glauben, erfüllen damit einen Ruf Gottes. Nicht alle, die sich in ihrem Einsatz für Glaubensangelegenheiten zugrunde richten, sind Beispiele einer vorbildhaften Nachfolge Jesu. Christen, die heroisch und zeugnishaft und provokativ in den Tod gehen, sind nicht automatisch „besser“ als diejenigen, die im Kleinen und manchmal Verborgenen die Liebe in die Welt tragen.

Es gibt nur ein einziges Merkmal, das aus meiner Sicht eine Flucht vor Bedrohlichem wirklich nicht mehr zulässt: Wenn die Existenz, die du danach weiterführen könntest, noch weniger Platz für dein Leben bieten würde als das Ergebnis dessen, was dein Leben wenigstens noch mit sich genommen hat.

Vielleicht bin ich hinterher ärmer als vorher, aber ich bin da. Wenn ich danach zwar nicht arm bin, aber auch nicht mehr da, war es das dann wert?
Vielleicht bin ich hinterher unbeliebter als vorher, aber ich bin da. Wenn ich danach zwar nicht unbeliebt bin, aber auch nicht mehr da, war es das dann wert?
Nelson Mandela wusste, wofür er ins Gefängnis geht. Was er hätte tun müssen, um dem Gefängnis zu entgehen, wäre weiter weg von seinem Leben gewesen als die Haft.
Stephanus wusste, wofür er in den Tod geht. Was er hätte tun müssen, um dem Tod zu entgehen, wäre weiter weg von seinem Leben gewesen als die Steinigung.
Auch so etwas kann vorkommen. Aber es ist nicht die Regel und schon gar nicht die einzige Regel, die uns Gott in der Bibel mitgibt.

Die Bibel kennt also unterschiedliche Gründe und Erfolge davon, wann wir fliehen können, sollen oder müssen.

Aber eines haben all diese Fluchtgeschichten doch gemeinsam – und das wird an der grausamen Tötung der Kleinkinder nach der Geburt Jesu besonders deutlich:

Auch nach dem Erscheinen Jesu in der Welt ist das, was in dieser Welt passiert, manchmal grausam. Brutal. Abgrundtief böse. Unfassbar und unbegreiflich schrecklich. Durch nichts zu rechtfertigen. Trostlos.

Wer erwartet hat, die Weihnachtsgeschichte macht alles schön und lieblich und nett, wird umgehend „ent-täuscht“ – von der Wirklichkeit in der Bibel genau so wie von der Wirklichkeit in unserer Welt heute.

Das Erscheinen Gottes macht die Welt nicht automatisch gut und schön.
Das Erscheinen Gottes in meinem persönlichem Glaubensleben macht mein Leben ebenso wenig automatisch gut und schön.

Es passieren weiterhin schreckliche Dinge. Auch nach dem Tod von Herodes gibt Josef nur unter Angst den Schutz auf, den er in Ägypten gefunden hat. Es gibt neue Herrscher, das System hat sich nicht geändert, die Mächtigen und die Mächte sind genau so verteilt wie vorher.

Aber Josef wartet nicht länger, ob und wann sich daran vielleicht irgendwann mal etwas ändert. Die Zeit zum Leben statt zum Überleben ist da, auch inmitten all dieser Umstände und gegen sie.

Auch Mose wartet nicht darauf, ob und wann sich Ägypten vielleicht irgendwann mal ändert. Mose wird aktiv. Die Zeit zum Leben statt zum Überleben ist da, auch inmitten all dieser Umstände und gegen sie.

Auch Jona lässt Gott nicht warten, ob und wann sich Ninive vielleicht irgendwann mal von sich aus ändert. Auch Paulus und Stephanus können und sollen darauf nicht warten.

Der Ruf und die Gegenwart Gottes treffen damals wie heute auf ungünstige und schlimme Umstände – aber sie verändern Leben und stiften Gemeinschaft.
Heute geht es um dein Leben – und um die Gemeinschaft, in der du dich wiederfindest und die du mitgestaltest.

Warte nicht, bis das alles von außen passiert.
Warte nicht auf die, die es dir bisher verwehrt haben.
Warte nicht darauf, dass du plötzlich angstfrei dem Ganzen gegenüberstehst.

Nimm dir heute den Schutz, den du brauchst zum Überleben.
Und begib dich heute in die Situationen, in die dein Leben hingehört.
Gott ruft dich.
Und Gott geht mit dir.

(Abendmahl)

 

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