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Weil das Leben MIT dir schöner ist als ohne dich (und dem keine_r aus „religiösen“ Gründen im Wege stehen soll).

Predigt MCC Köln, 2. Juli 2017
Ines-Paul Baumann

Lukas 15,1-10: Das verlorene und wiedergefundene Schaf / die verlorene und wiedergefundene Münze

Kinder fühlen sich schon mal für das Glück ihrer Eltern verantwortlich. Aber das darf keine Rechtfertigung dafür sein, in einer Predigt solche Karten zu ziehen.

Jesus war ständig umgeben von Zolleinnehmern und anderen Leuten, die als Sünder galten; sie wollten ihn alle hören.
Die Pharisäer und die Schriftgelehrten waren darüber empört. »Dieser Mensch gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen!«, sagten sie.
Das verlorene und wiedergefundene Schaf
Da erzählte ihnen Jesus folgendes Gleichnis:
»Angenommen, einer von euch hat hundert Schafe, und eins davon geht ihm verloren. Lässt er da nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?
Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voller Freude auf seine Schultern
und trägt es nach Hause. Dann ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ›Freut euch mit mir! Ich habe das Schaf wiedergefunden, das mir verloren gegangen war.‹
Ich sage euch: Genauso wird im Himmel mehr Freude sein über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren.«
Die verlorene und wiedergefundene Münze
»Oder wie ist es, wenn eine Frau zehn Silbermünzen hat und eine davon verliert? Zündet sie da nicht eine Lampe an, kehrt das ganze Haus und sucht in allen Ecken, bis sie die Münze gefunden hat?
Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: ›Freut euch mit mir! Ich habe die Münze wiedergefunden, die ich verloren hatte.‹
Ich sage euch: Genauso freuen sich die Engel Gottes über einen einzigen Sünder, der umkehrt.«

Lukas 15,1-10 (NGÜ)

Ich bin zwar nicht christlich erzogen worden, aber auch mir war früher schnell klar, wie dieser Predigttext zu verstehen sein soll: „Ich muss anerkennen, dass ich ohne Gott verloren bin. Ich muss mich bekehren, ich muss Buße tun. Dann freut sich Gott. Wenn ich das nicht tue, bin ich verantwortlich dafür, dass Gott traurig ist.“ (oder dafür, dass Gott wütend / zornig ist – auch nicht besser.)

Diese Geschichte wäre schnell erzählt, und meine Predigt hätte uns nun aufzuzeigen, dass wir alle zu den Verlorenen gehören und Gott glücklich machen müssen, indem wir unsere Sünden bekennen. Meine Predigt hätte dafür zu sorgen, uns alle in geknickte Stimmung zu versetzen, unser Selbstbild in den Keller zu schicken, uns als gänzlich wertlos zu erachten – und uns dann die Hand Gottes anzubieten als die Hand eines barmherzigen und gütigen Gottes, der uns trotz allem gnädig ansieht und erlöst. Dann wäre das Verlorene gefunden und wir dürften erleichtert nach Hause gehen. – Bis zum nächsten Gottesdienst, wo wir das Woche für Woche wiederholen und und stets daran erinnern, wie verloren und schlecht wir sind und dass wir Gott glücklich machen müssen, indem wir das anerkennen und unser Leben (erneut oder erstmals) ganz Jesus übergeben.

Heute lese ich den Predigttext anders.

Angenommen, das verlorene Schaf und die verlorene Münze stehen wirklich für die Zolleinnehmer und „anderen Leute, die als Sünder gelten“. Also für Leute, die in den Kreisen der Pharisäer und Schriftgelehrten keinen guten Ruf hatten. Die nicht viel galten. Die falsch lebten. Die nicht dazugehörten zum Kreis der Rechtschaffenen.

Dieses „Sündenpack“ ist an dieser Stelle zumindest nicht Jesu‘ Adressat für diese Gleichnisse. Mit diesem „Sündenpack“ redet Jesus hier gar nicht. Er wendet sich hier gar nicht an sie. Er spricht hier gerade NICHT zu denen, die angeblich zur Umkehr eingeladen gehören.

Stattdessen spricht Jesus hier mit denen, die so abfällig ÜBER das „Sündenpack“ denken. Mit denen, die schlecht über das „Sündenpack“ reden. Diejenigen, die sich von dem „Sündenpack“ fernhalten.

Jesus spricht hier zu denen, die sich NICHTS vorzuwerfen haben. Mit Leuten, die sich vor sich selbst und vor Gott nichts vorzuwerfen haben. Leute, die jeden Abend mit reinem Gewissen in den Spiegel gucken können. Und ich glaube nicht, dass Jesus von ihnen verlangt, damit aufzuhören. Er sagt nicht: „Seht doch selbst, wie verloren ihr seid. Wie durchdrungen von Selbstgefälligkeit ihr seid. IHR seid diejenigen, die es wahrhaft nötig haben, Buße zu tun.“

Das wäre wieder eine Predigt, die unseren Selbstwert (oder den anderer) in den Keller schicken soll, damit wir uns bekehren, weil wir sonst verantwortlich dafür sind, dass Gott nicht glücklich ist.

Nein, die Stimmung in den Gleichnissen ist eine ganz andere.

Das Schaf und die Münze, die verloren gehen, sind beide super. Sie sind wertvoll. Dem Hirten ist an seinem Schaf gelegen. Die Münze der Frau ist wichtig für ihren Lebensunterhalt. (Es ist von der Summe her gar nicht VIEL Geld was, sie sucht – es ist das Geld, was sie zum täglichen Überleben braucht.)

Das Schaf ist kein böser Wolf, der von Gott erst mal zu einem braven Lamm erlöst werden muss.
Die Münze ist kein Klumpen Dreck, dessen Anblick erst durch mehrere Schichten göttlicher Gnade erträglich wird.
Das Schaf und die Münze sind wertvoll, genau so, wie sie sind. Ihr Verlust wiegt so schwer, weil sie fehlen – genau so, wie sie sind. Davon, dass das Schaf oder die Münze unnütz, wertlos, dreckig, lästig, falsch oder nervig seien, ist hier nichts angedeutet. Beide sind nicht angewiesen auf zehn Schichten göttlicher Gnade und Geduld, die ihren Anblick erst erträglich machen. Beide Gleichnisse erzählen von etwas, das fehlt, weil das Leben MIT ihnen besser ist als ohne sie. Und zwar genau so, wie sie sind.

Hier geht es nicht um Leute, die aktuell noch ganz schlimm sind, aber nach ihrer Bekehrung zu den Guten gehören werden. Hier geht es um Leute, die fehlen, JETZT, SO WIE SIND, weil das Leben MIT IHNEN besser ist als das Leben ohne sie. Jede und jeder, die wir hier sind: Das Leben mit uns ist besser als das Leben ohne uns. So, wie wir hier sitzen. Genau so.

Wenn ihr hier zur Tür reinkommt und wir uns freuen, dass ihr da seid, freuen wir uns tatsächlich. Einfach so. Einfach deswegen, weil ihr da seid. Wir freuen uns nicht auf der Grundlage von zehn Schichten göttlicher Gnade und Geduld, die euren Anblick irgendwie erträglich machen. Wir freuen uns, weil ihr da seid – so, wie ihr seid.

Der Hirte freut sich über das Schaf, genau so, wie es ist. Das Einzige, was mit dem Schaf nicht gestimmt hat, war, dass es nicht bei den anderen dabei war. Ansonsten war das Schaf tip-top-super und in Ordnung. Das Schaf muss sich nicht erst ändern, damit der Hirte sich darüber freuen kann. Der Hirte freut sich, WEIL das Schaf so (wieder da) ist, wie es ist.

Die Frau freut sich über die Münze genau so, wie die Münze ist. Das Einzige, was mit der Münze nicht gestimmt hat, war, dass sie weg war. Ansonsten war das eine tolle, wertvolle, unersetzbare Münze. Die Münze muss sich nicht erst ändern, damit die Frau sich darüber freuen kann. Die Frau freut sich, WEIL die Münze so (wieder da) ist, wie sie ist.

Das Problem mit dem Schaf war nur, dass es nicht da war.
Das Problem mit der Münze war nur, dass sie nicht da war.
Beide sind nicht von sich aus „in die Irre gegangen“, sind „vom rechten Weg abgekommen“ oder haben „sich für das Falsche entschieden“.
Das Schaf hat nicht irgendwann gesagt: „Ach, ich glaube nicht mehr an das Gute in der Herde, ich kehre mich lieber ab und gehe meine eigenen egoistischen Wege.“
Oder die Münze hat auch nicht irgendwann gesagt: „Ach, ich glaube nicht mehr daran, dass es mit dieser Frau ein gutes Leben für mich geben soll. Ich kehre mich lieber von ihr ab und suche mein eigenes Glück.“

Im Gegenteil, eigentlich ist es doch eher die Schuld des Hirten und der Frau, dass das Schaf und die Münze verloren waren.
Hätte der Hirte besser auf sein Schaf aufgepasst, wäre es vielleicht nicht verloren gegangen.
Hätte die Frau ein bisschen besser auf ihre Münze aufgepasst, wäre die Münze nicht verloren gegangen. (Wenn meine Kinder ihr Taschengeld verlegen, komme ich jedenfalls nicht auf die Idee, die Münzen dafür verantwortlich zu machen. Ich sage meinen Kindern, dass sie besser auf ihr Geld aufpassen müssen.)

Für alle, die in dem Hirten oder in der Frau ein Bild für einen Gott sehen, der dem Verlorenen nachgeht, bis er es findet, muss der Gedanke erlaubt sein, ob Gott vielleicht vorher nicht gut genug Acht gegeben hat auf diejenigen, die verloren gegangen sind. (Und ganz nebenbei dass Gott hier nicht nur ein Hirte, sondern auch eine FRAU ist!)

Oder der Hirte und die Frau „SIND“ gar nicht Gott, sondern Gott wird in dem sichtbar, was sich hier insgesamt ereignet. Jesus erwähnt ja den Himmel und die Engel Gottes; er beschreibt ihre Freude über das, was sich hier ereignet. An diesem Punkt redet Jesus tatsächlich und explizit von „Sündern“, die „umkehren“.

  • WER ist mit den SÜNDERN gemeint?
    – Vom Zusammenhang her alle, auf die die Rechtschaffenen und Religiösen abfällig herabsehen.
    – Von den Gleichnissen her wertvolle und wunderbare Menschen, die fehlen, weil das Leben mit ihnen besser ist als ohne sie.
  • WAS ist mit UMKEHR gemeint?
    – Vom Zusammenhang her das Halten an Gesetze und Gebote, also an religiöse Vorgaben und Zugehörigkeits-Rituale.
    – Von den Gleichnissen her die Rückkehr Einzelner in die Gemeinschaft, in die sie gehören und wo sie ihren Wert entfalten können.

Es geht um Menschen, die bei denen, die eh alles richtig machen, nichts zählen. Es geht darum, dass gerade diese Ausgeschlossenen in die Gemeinschaft gehören und wertvoll sind – genau so, wie sie sind.

Jetzt wird auch verständlich, warum Jesus das Gleichnis nicht denen erzählt, die zu den Ausgeschlossen zählen. Er erzählt es denen, DIE andere ausschließen. Deren Regeln und deren Verhalten es anderen nicht ermöglichen, dazuzugehören. Und die vielleicht sogar einen Gott vertreten, der auf seine Schafe und Münzen NICHT immer gut Acht gibt.

Ausgerechnet SIE, die Rechtschaffenen und Guten und Religiösen stehen im Wege, wo Gemeinschaft im Namen Gottes geschehen soll.

Mit den Gleichnissen widerpricht Jesus ihnen. Im Himmel und bei den Engeln Gottes wird sich GEMEINSAM gefreut. Als der Hirte sein Schaf wiedergefunden hat, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen, damit sie sich GEMEINSAM mit ihm freuen. Als die Frau ihre Münze wiedergefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen, damit sie sich GEMEINSAM mit ihr freuen.

Jesus ist in der Welt unterwegs (vielleicht weil die Welt zu lange einen Gott vor Augen hatte, der nicht gut Acht gibt auf all die Menschen) – und anstatt sich gemeinsam zu freuen, verschränken die Rechtschaffenen die Arme und beäugen kritisch, mit wem dieser Jesus da alles Umgang hat.

An dem Punkt wünsche ich mir, dass es doch nicht nur die Rechtschaffenen sind, die diese Gleichnisse hören. Sondern dass gerade diejenigen, über die so herablassend geredet wird, hören, wie sich Jesus vor sie stellt. Wie Jesus sich an ihre Seite stellt. Wie Jesus sich zu ihnen bekennt.

Jesus stellt sich hier nicht vor BEKEHRTE Sünder. Jesus handelt sich nicht den Vorwurf ein, mit Zöllnern und Sündern und Fressern und Säufern zusammen zu sein, die UMGEKEHRT sind. Jesus ist (und isst) so viel mit ihnen genau so, WIE SIE SIND.

Weil Jesus sie genau so, wie sie sind, sieht, achtet, anerkennt und wertschätzt. Und sich zu ihnen gesellt, weil das Leben MIT ihnen besser ist als ohne sie.

 

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