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„Warum sollten wir seinen Glaubenslehren Glauben schenken?“: Was kann (und darf) Theologie ohne Beziehungsarbeit?

Predigt MCC Köln, 19. Okt. 2014
Ines-Paul Baumann

1. Thess 1,1-10: „Der vorbildliche Glaube der Gemeinde“

Dankbar? Ich persönlich bin ich ja bei Weitem nicht immer nur dankbar. Mir ist das durchaus bewusst, und manchmal vergesse ich trotzdem fast, wie eifersüchtig und neidisch ich sein kann. Mit dieser Vergesslichkeit hat es manchmal sehr schnell ein Ende, sobald ich mal wieder ein Buch lese, in dem ein (meist US-amerikanischer, männlicher, weißer, Ü40-) Autor seine Erkenntnisse in Bezug auf Gemeindeleben kundtut.

Die Ergebnisse sind stets beeindruckend: Lebendige, wachsende Gemeinden voller engagierter Mitarbeiter/innen, mit tollen Programmen, einem stets professionell vorbereiteten Gottesdienst, emotional bewegend, alles voller leidenschaftlicher Hingabe, mit lauter spendablen und großzügigen Gemeindemitgliedern, die alle die Gemeinde voranbringen und dafür sorgen, dass sie in der ganzen Gegend (ach, weltweit!) bekannt ist und einen tollen Ruf genießt.

In den letzten Tagen habe ich wieder so ein Buch gelesen (und meine Stimmung ist gerade dementsprechend). Dabei fing es wirklich gut an: „Sind Besucherzahlen, Programm-Angebote und der Spenden-Haushalt wirklich die entscheidenden Kriterien einer gesunden Gemeinde?“ lautete die Frage auf dem Klappentext *. „Natürlich NICHT!“, schrie alles in mir, und voller Dankbarkeit, mich endlich mal verstanden zu fühlen, hoffte ich auf eine anregende Lektüre. Was folgte, war um so schlimmer: Auch hier ging es im Ergebnis doch wieder um ganz tolle, lebendige, wachsende Gemeinden, die quasi automatisch entstehen, wenn wir nur die richtigen Ressourcen einsetzen (die es übrigens ganz kostengünstig zu kaufen gibt bei…).

Ich habe nichts gegen lebendige wachsende Gemeinden. Aber ich habe was dagegen, wenn Gemeinde und Gemeindewachstum zum Selbstzweck werden.
Wenn wir deswegen „neue Leute“ brauchen, damit „unsere Programme weiter laufen“ können.
Wenn nur diejenigen in einer Gemeinde Platz finden, die sich regelmäßig und oft genug ins Gemeindeleben einbringen können (wenn also ihre „Leistung“ stimmt). Und diejenigen die „Gläubigsten“ sind, die am meisten Engagement zeigen.
Wenn ich zu einem bestimmten Typ Mensch gehören muss, um in einer Gemeinde Platz zu haben, oder eine bestimmte Meinung teilen muss oder einen bestimmten Glaubensstil.
Wenn Gemeindemitglieder nicht auch mal anders handeln dürfen, als es die Leitung erwartet.
Wenn das „eigene Leben“ außerhalb der Gemeinde höchstens eine Notwendigkeit ist, aber nichts begrüßenswertes (oder die Gemeinde-externen Freundschaften und Nachbarn vereinnahmt werden sollen zu Missionszwecken).
Wenn es keinen Spielraum gibt für Rückgezogenheit und Distanz (** S. 68).

Einen „unmenschlichen Binnendruck der Engagementforderung, des Bindungszwangs und der Gesinnungsdiktatur“ nennt das ein Skeptiker solcher Gemeindemodelle. (** S. 173f)

Wenn ich also von so tollen, erfolgreichen Gemeinden lese, in denen alles so richtig gut läuft und die nur so brummen vor Engagement und Wachstum, setzt sich mittlerweile eine innere Skeptikerin auf meine Schulter und liest mit.

Als ich den Predigttext für heute las, hätte das eigentlich auch passieren müssen. Auch hier wird eine Gemeinde beschrieben und gelobt, die anscheinend das Non-plus-Ultra aller Ideale von Gemeinde darstellt. Seltsamerweise blieb die Skeptikerin auf meiner Schulter aber ganz gelassen und ruhig. Irgendwas war in diesem Text wohl anders als in den anderen Büchern.

Paulus, Silas und Timotheus finden hier einen Ton, der genau das Gegenteil mancher meiner „lehrreichen“ Bücher darstellt:
Sie erkennen an, was in dieser Gemeinde los ist.
Sie meinen nicht, aus der Ferne alles besser zu wissen.
Sie haben Vertrauen in diese Gemeinde.
Sie erkennen die Gegenwart und das Wirken Gottes in dieser Gemeinde an (nicht ihre eigene Gegenwart oder die Wirkung von Gemeinde-Entwicklungs-Programmen).
Sie scheinen den Leuten vor Ort wirklich was zuzutrauen.
(Und das von Paulus! „Selbst er“ sieht eben nicht in jedem Menschen nur einen sündhaften, unfähigen, belehrungsbedürfigen Untertan! Oder ist das Silas‘ ausgleichender Einfluss?…)

Warum stehen Paulus, Silas und Timotheus dieser Gemeinde so wohlwollend und anerkennend gegenüber? Vielleicht einfach deswegen, weil in dieser Gemeinde tatsächlich alles so gut läuft? (Wäre ja naheliegend. Zu unserem Jubiläum wurde uns auch zu vielem gratuliert, was wir halt auch tatsächlich gut hinbekommen haben.)

Es geht übrigens noch ganze drei Kapitel so weiter: Anerkennung, Dankbarkeit, Rückblicke auf die gemeinsame Geschichte. In meinen Theologie-Büchern der traditionelleren Sorte tauchen diese Kapitel nicht auf. In ihren theologischen Ausführungen erwähnt ist der 1. Thessalonischer-Brief nur mit Auszügen aus dem vierten und fünften Kapitel. Die ersten drei Kapitel geben theologisch nix her. Sie sind eine theologisch anscheinend „belanglose“ Aneinanderreihung von Dankeschöns und gemeinsamen Erinnerungen.

„Beziehungsarbeit“ nennt sich sowas. *** Schade, dass das theologisch nichts gilt. Und immer noch als „Frauensache“ abgetan wird. Als wären Frauensachen und Beziehungsarbeit kompatibler als Männersachen und Beziehungsarbeit (und Beziehungsarbeit weniger wert als „handfeste“ Debatten unter promovierten Männern). Da regt mich ja die Ignoranz schon auf.

Paulus & Co und Jesus haben sich an diesem Punkt zum Glück als Helden der Frauenarbeit äh Beziehungsarbeit erwiesen. Auch sie haben gelehrt und doziert und zurechtgewiesen und angewiesen, ja. Aber Jesus hat den Zwölfen, die das meiste davon abbekommen haben, nicht nur Standpauken oder Vorlesungen oder Predigten gehalten: Er hat Tag und Nacht mit ihnen zusammen gelebt und Zeit mit ihnen verbracht. Sie standen miteinander IN BEZIEHUNG.

Auch Paulus wird am Ende seines Briefs noch manches „inhaltiches und handfestes“ loswerden. Aber die ersten drei Kapitel nimmt er sich Zeit für die gemeinsame BEZIEHUNG von ihm und den Menschen, an die er schreibt.

Und das, was er an dieser Gemeinde so lobt, auch das hat alles mit BEZIEHUNG zu tun. Er lobt die Gemeinde nicht dafür, dass sie jeden Sonntag so einen tollen Gottesdienst auf die Beine stellt. Oder so ein tolles Programm-Angebot hat. Oder so toll wächst. Paulus lobt die Gemeinde für die BEZIEHUNGEN, in denen sie steht – zuallererst die BEZIEHUNG zu Jesus:

  • Es ist ihre Beziehung zu Jesus, die dem Glauben auch Taten folgen lässt (nicht eine Gemeindekontrolle, die an den Taten den rechten Glauben messen zu können meint).
  • Es ist ihre Beziehung zu Jesus, die sie zu einem unermüdlichen Einsatz aus Liebe bewegt (nicht die Unterschrift unter ein dogmatisch korrekt formuliertes Bekenntnis samt „Engagementzwang“).
  • Es ist ihre Beziehung zu Jesus, die sie wegen der Hoffnung so standhaft macht (auch wenn es zu Widerstand in ihrer Umgebung führt, wenn sie nicht mehr alles mitmachen, was man halt so macht…).

In der Beziehung zu Jesus sieht Paulus die Grundlage für alles andere, was in der Gemeinde geschieht und was er ihr mitgeben möchte.

Lobt Paulus diese Gemeinde also doch dafür, dass sie alles so wunderbar hinbekommt?

Nein, denn diese Gemeinde bekommt nicht alles wo wunderbar hin. Auch wenn sie noch so sehr in Beziehung zu Jesus steht: In dieser Gemeinde läuft nicht alles gut.

Die Gemeinde im Thessalonicherbrief ist keine Mustergemeinde, in der alle immer alles richtig machen und voll ungetrübten Glaubens sind:

In dieser Gemeinde gibt es Menschen mit Zweifeln und Verzweiflung. (Einige aus der Gemeinde sind gestorben, und manche denken nun, dass das alles vielleicht gar nicht stimmt mit Jesus und den ganzen Verheißungen. Dazu kommt ihre Trauer. Das Schreiben an sie dient unter anderem dazu, sie zu trösten.)

In der Gemeinde gibt es Menschen, die von anderen Böses erfahren. (Das Schreibenan sie dient unter anderem dazu, sie daran zu erinnern, Böses nicht mit Bösem zu vergelten.)

In dieser Gemeinde gibt es Menschen, die ein „ungeordnetes Leben“ führen,
es gibt Ängstliche,
es gibt Schwache,
es gibt Undankbare,

… und genau das ist die Gemeinde, für die Paulus so dankbar ist.

Diese Gemeinde ist eine Mustergemeinde nicht deswegen, weil dort alle immer hoffnungsfroh und achtsam und freundlich und anerkennend miteinander umgehen.

Wenn diese Gemeinde schon als Mustergemeinde gelten soll, dann genau damit, dass in ihr auch diejenigen Platz haben, die ängstlich und undankbar und unfreundlich sind.

„Habt mit allen viel Geduld; sie brauchen euren Langmut“,schreibt Paulus am Ende seines Briefes.

Genau das lebt er vor. Er könnte mit der Gemeinde oder sicherlich mit Einzelnen schimpfen, sie zurechtweisen, sie belehren, ihnen drohen, ihnen subtil den Austritt aus der Gemeinde ans Herz legen, sie meiden oder ignorieren und sich stattdessen denen zuwenden, die ihre Arbeit gut und tüchtig erledigen und ganz tolle Gläubige sind (also diejenigen, die in der Gemeinde viel Arbeit und Verantwortung übernehmen und nicht all zu sehr ein eigenes Leben außerhalb der Gemeinde führen… Die gibt es übrigens auch in der Gemeinde. Aber sie haben NICHT NOCH MEHR Glauben als die anderen, sie haben nur NOCH MEHR Dank und Anerkennung verdient).

Paulus droht aber nicht und er wendet sich auch nicht nur denen zu, die alles leiten und tragen und erledigen und voranbringen. Sein Brief geht an ALLE, die in der Gemeinde sind. Die Zweifelnden, Ängstlichen, Undankbaren und Unfreundlichen gehören dazu. Sie alle zusammen gehören zu der Gemeinde, für die Paulus Gott so dankbar ist.

Ich würde mir wünschen, dass diese Dankbarkeit auch uns gegenüber zum Ausdruck kommen kann. Ohne zwei Jahrtausende zwischen dem Text und uns heute. Diese Anerkennung ist so wichtig.

  • Sie verändert die Einstellung, mit der wir Gott und uns selbst und einander sehen.
  • Sie erinnert uns daran, dass wir in Beziehung stehen – mit Jesus, mit den Menschen um uns herum und mit uns selbst.
  • Sie macht uns zugänglich für Gottes Gegenwart in unserer Mitte – und sie macht uns zugänglich für das, was das aus uns und unserem Leben noch machen kann.

Und genau dafür brauche ich die Zettel, die ihr gerade ausgefüllt habt. Lasst uns gemeinsam hören und annehmen, welche Dankbarkeit das, was wir alle zusammen als MCC gestalten, hervorruft und verdient. Dieser Dank gilt Gott und uns allen hier gleichermaßen.

Ich beginne und ende mit Worten des 1. Thessalonicherbriefs und fülle das dann auf mit dem, was ihr heute als Dankbarkeit wahrnehmbar macht:

(…) Gott, unser Vater, und unser Herr Jesus Christus schenken euch Gnade und Frieden.

Wenn wir in unseren Gebeten zu Gott, unserem Vater, an euch denken, danken wir ihm unaufhörlich für euch. Wir wissen um euer Leben aus der Beziehung zu Jesus, um eure Hingabe, eure Liebe, eure Geduld. Eure Hoffnung auf das Kommen unseres Herrn Jesus Christus ist unerschütterlich. Meine Schwestern und Brüder, wir wissen, dass Gott euch als seine Kinder erwählt hat und euch sehr liebt.

  • ich bin dankbar, dass sich durch MCC die Gelegenheit bot überhaupt wieder mehr an Gott zu denken.
  • ich bin dankbar für die unkomplizierte und unprätentiöse Atmosphäre der Gottesdienste
  • ich bin dankbar für die Gemeinschaft ohne Konformitätszwang
  • Glaubensfreiheit
  • Auf diesen „hellen“ Ablenker bei grauen Gedanken!
  • Auf ein „freudiges“ Wiedersehen mit Menschen, wo Man/Frau sich willkommen vorkommt!
  • Auf einen verlässlichen Punkt in der Woche, den ich aufsuchen darf!
  • , das wenig bewertet wird, und jede(r) so sein darf, wie er/sie ist!
  • für die Vielfalt und Offenheit in problematischen Situationen!
  • für Deine liebe und besonnene Art, wie Du, Ines-Paul, mit „Deinen“ „Schäfchen“ umgehst.
  • gelebte Vielfalt im Glauben
  • bedingungslose Akzeptanz
  • stets offene Türen und Ohren sagen „Willkommen“
  • Abwechslung vom Alltag
  • Ich bin dankbar dafür, bei der MCC Köln Menschen zu finden, womit ich reden kann!
  • Auch für die Akzeptanz, das ich mich als Person nicht verstecken muß, weil ich eine krume Nase hab, bin dankbar!
  • Ich bin dankbar das ich bei der MCC gemeinsam den Gottesdienst Feiern darf!
  • Ich bin dankbar für die schöne Gestaltung des Raumes.
  • für unseren Pastor InesPaul
  • für persönliche Begegnungen
  • Ich bin dankbar für Toleranz und Offenheit, dass jeder so angenommen wird wie er ist
  • Danke für die Kultur des immer wieder neu anfangens ohne das alte unangenehme tot zu schweigen
  • dankbar, dass man ‚rumzicken darf.
  • Danke für vielfältige Menschen und Möglichkeiten aktiv zu sein.
  • sich ausprobieren können
  • Gemeinschaft erleben / Menschen erfahren / geben und nehmen
  • Ich bin dankbar, dass Raum für Zweifel ist.
  • Gemeinschaft / Gleichgesinnte / Gottesdienst
  • Ich bin der MCC Köln dankbar dafür, dass ich so sein kann wie ich bin und „trotzdem“ genau so wertvoll wie alle anderen
  • Ich bin dankbar, dass ich in der MCC Köln Ines-Paul’s Theologie erleben darf
  • vielfältiges ehrenamtliches Engagement
  • Nestwärme
  • Verkündigung von Gottes Liebe
  • … dass die MCC allen offen steht, auch solchen, die (bisher) nicht getauft sind (waren).
  • Ich bin dankbar für einen Ort des Gottesdienstes, an dem die kirchen- und christenkritischen Stimmen in mir Ruhe geben!
  • Ich bin dankbar für die lebendige Liturgie, die lockere Atmosphäre & die mich inspirierenden Impulse!
  • , dass in der MCC Raum ist für unterschiedliche Gottesvorstellungen und kein Einheitsglaube erzwungen wird

Prüft alles, und das Gute behaltet. ****
Was sich mit Jesus nicht vereinbaren lässt, das haltet von euch fern. (…)
Wie gut zu wissen, dass der, der euch berufen hat, treu ist. Er wird vollenden, was er in euch begonnen hat. (…)
Grüßt die übrigen Geschwister und umarmt sie herzlich. (…)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!

aus: „Willkommen Daheim“
bis auf ****: Luther-Bibel

 

* Neil Cole: „Organisch leiten. Wie natürliche Leitung uns selbst, Gemeinden und die Welt verändert“, Schwarzenfeld 2010

** aus: Matthias Sellmann (Hg.): „Gemeinde ohne Zukunft? Theologische Debatte und praktische Modelle“, Freiburg im Breisgau 2013

*** Danke an Jutta Bickmann: „Der erste Brief an die Gemeinde in Thessalonich. Gemeinschaft bilden im Widerstand gegen den Tod“, in: „Kompendium Feministische Bibelauslegung“, Gütersloh 2007

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