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Wahrnehmen. Da sein. Leben.

Predigt MCC Köln 13. März 2016
Ines-Paul Baumann

Markus 10,35-45 „Vom Herrschen und vom Dienen“

Lenkt der „verheißungsvolle Blick aufs Jenseits“ Glaubende davon ab, sich mit dem Diesseits auseinanderzusetzen? Umgekehrt reicht ja oft ein Blick ins unsere ganz diesseitige Welt, um angesichts der Probleme überwältigt und gelähmt zu sein. Viele spirituelle Übungen zielen nicht umsonst darauf ab, all das Leid nicht „wahr-haben“ zu wollen.

Karentina und ich streiten uns manchmal, weil wir Probleme manchmal ganz unterschiedlich angehen. Karentina neigt (aus meiner Sicht) eher dazu, Probleme eher klein zu machen – während ich (aus ihrer Sicht) dazu neige, Probleme eher groß zu machen. Beides stimmt. Also bringen wir unsere jeweilige Sichtweise um so vehementer ein (ist ja gut gemeint, wir wollen die andere ja nur korrigieren!), wodurch unsere jeweilige Sichtweise aber auch noch weiter von der Realität abrückt. Dummerweise macht uns beides handlungsunfähig: Warum handeln, wenn die Probleme eh übermächtig sind? Und warum handeln, wenn die Probleme doch gar nicht wirklich existieren?

Die Diskussionen in Deutschland um Flüchtlinge und Integration waren (und sind) oft ähnlich gestrickt: Die einen sehen in Flüchtlingen und Migranten nur Menschen, die immer Probleme machen. Andere sehen in Flüchtlingen und Migranten nur Menschen, die NIE Probleme machen. Und wie in den Streitereien von Karentina und mir betonen beide Seiten („nur korrigierend…!“) die jeweils andere Seite – was auch hier dazu führt, dass beide Sichtweisen immer zugespitzter werden und sich immer weiter von der Realität entfernen. Beides führt am Ende dazu, dass Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten viel zu lange ignoriert werden.

Manchmal gilt das auch für unsere inneren Heilungen. Manche Therapie beschäftigt sich zu großen Teilen damit, wie schlimm vieles war und ist. Manchen hilft das wenig; sie haben Angst, in all den Problemen unterzugehen und gehen sie besser gar nicht erst an. Solange ich aber ignoriere, dass ich ein Problem haben könnte, gehe ich es natürlich auch nicht an.

Gestern war ich auf einer Info-Veranstaltung für Transmänner. Da war das schon besser. Die körperlichen Angleichungen, denen wir uns operativ unterziehen, sind ja nicht ohne. Und die vortragenden Ärzte haben immer beides dargelegt: Wie schön das Ergebnis sein kann – aber auch, wie unschön der Weg dahin sein kann. Wenn ich die Schwierigkeiten ignorieren würde, wäre ich kaum in der Lage, sie anzugehen. Wenn ich aber nur die Schwierigkeiten vor Augen habe, würde ich ebenfalls keinen einzigen dieser Schritte angehen.

Gläubige gehen mit ihrem Glauben an Gott leider manchmal nicht in so einem hilfreichen und aktivierendem Sinne um:
Für manche gibt es wegen des Glaubens KEINE weltlichen Probleme mehr, die anzugehen wären. Alles irdische Leid dient unserer „Erziehung“ durch Gott, und spätestens im Himmel wird ja eh alles gut. Bis dahin gilt es die Probleme der Welt höchstens zu ertragen, aber nicht anzugehen.
Manch andere sehen aus ihrem Glauben heraus die Welt NUR NOCH als einen Ort voller Probleme, von der Erbsünde bis zum sündhaften „weltlichen“ Treiben – und da lohnt es sich natürlich ebenso wenig, die Probleme anzugehen…

(Beide Sichtweise werden übrigens oft von solchen vermittelt, die etwas davon haben, wenn sich kein Widerstand regt.)

Freilich passt das auch hervorragend zusammen Dass so viele Bekehrungsveranstaltungen mit dem „Belohnungs-Ticket ewiges Leben“ vs. „verdorbene Welt“ arbeiten und erfolgreich sind, ist kein Zufall. Offenbar steckt etwas in uns drin, das darin etwas Tröstliches findet. (Zurecht!)

Als Jesus sich mit seinen Anhängern und Anhängerinnen auf den Weg nach Jerusalem machte, ging es ebenfalls darum, große Heilserwartungen inmitten von großem weltlichem Unheil einsortieren zu müssen. Das hatte Jesus durchaus auch sich selbst zu verdanken:

Kurz vorher hat Jesus noch vom „Lohn der Nachfolge“ gepredigt (Mk 10,28-31): „Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben“.

Das ist also die Stimme, die Jesu Jünger beim Aufbruch nach Jerusalem noch im Ohr haben.

Im Markus-Evangelium ist dieser Aufbruch begleitet von Entsetzen, Unruhe und Angst (Mk 10,32). Alle ahnen, dass es schwierig wird. Angesichts der kommenden Bedrohungen besinnen sich nun zwei der Jünger auf das, was Jesus ihnen eben noch versprochen hatte. Inmitten ihrer Angst malen sie sich aus, warum sie diesen Weg mitgehen: Ja klar, wegen der großen Belohnung, die sie am Ende erwartet!

Anstatt sich von der Angst auffressen zu lassen, schauen sie lieber auf das gute Ende, was sie erwartet. (Verständlicherweise, finde ich!)

Leider fallen sie nun aber auf der anderen Seite vom Pferd, und Jesus versucht nun, sie in die Realität zurückzuholen: „OK, wenn ihr da landen wollt, vergesst bitte nicht den Weg dahin. Seid ihr darauf eingestellt, was da auf euch zukommt? Wollt ihr diesen Weg gehen? Könnt ihr diesen Weg gehen?“

Hier wird deutlich, wie motivierend es sein kann, ein Ziel vor Augen zu haben. Kein Transmann würde sich unter’s Messer legen ohne Ziel vor Augen. Wenige Menschen würden sich in Therapien mit sich und ihrer Vergangenheit beschäftigen, wenn sie nicht das Ziel einer lohnenswerten Gegenwart und Zukunft vor Augen hätten. Und die wenigsten widmen sich der Plackerei von Integration und Inklusion, solange sie nicht irgendetwas sehen, warum sie das tun sollten. (Manchen öffnet freilich auch die schiere Not einen Weg zum Handeln.)

Für die beiden Jünger also ist die Aussicht auf einen Platz an Jesu Seite im ewigen Leben ein guter Grund, sich auf all die Auseinandersetzungen einzulassen, die zu erwarten sind, wenn sich Jesus unbeirrt mit den Mächten und Mächtigen seiner Zeit anlegt.

Ob ihre Erwartungen im Jenseits wirklich erfüllt werden, wird sogar zweitrangig. („Aber darüber zu verfügen, wer an meiner rechten und an meiner linken Seite sitzen wird, das steht nicht mir zu. Wer dort sitzen wird, das ist ´von Gott` bestimmt.“ Mk 10,40)
Jesus lenkt ihren Blick vielmehr darauf, ihre Gegenwart und Zukunft IM DIESSEITS ins Auge zu fassen.

Im Markus-Evangelium wird das zum Kern des weiteren Geschehens. Zwei Situationen klammern dieses Anliegen ein, und zwar die erste Szene direkt im Anschluss an diese Situation und der Schluss des Markusevangeliums insgesamt. Als würde hier das Grundthema für den gesamten Rest des Textes ausgebreitet!

1) Direkt im Anschluss an dieses Gespräch mit den Jüngern schildert Markus dieselbe Szene quasi nochmal, nun allerdings mit einem Blinden vom Wegesrand (Mk 10,46-52). Jesus stellt wieder dieselbe Frage, wie er sie eben den beiden Jüngern gestellt hatte: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“

Jesus macht nicht einfach irgendwas. Er unterstellt nichts und er stülpt nichts über. Er fragt erst mal. Und die tiefsinnige Antwort der Szene lautet: „Ich möchte sehend werden.“

Es gibt genug Situationen, wo ich lieber geantwortet hätte: Dass du mir die Augen verschließt (vor all dem Elend)! Dass ich das nicht mehr mit ansehen muss! Hilf mir, es irgendwie ertragen zu können – und sei es, dass sich mir all das Leiden als nicht wirklich darstellt….

Dieses Bedürfnis nach Nicht-“Wahr“-haben-Wollen ist mehr als verständlich, und wie schon erwähnt gibt es genug religiös-spirituelle Ansätze, die dabei helfen.

Für das Markus-Evangelium ist das aber an dieser Stelle keine Option. Der Blinde leidet darunter, dass er nichts sieht. Die Augen zu verschließen hilft hier nicht weiter. Es ist wie eine Antwort auf die Szene davor: Schaut hin, nur dann könnt ihr euren Weg gehen!

2) Was nun ist das Ziel des Weges, den Jesus im Evangelium geht? Die beiden Jünger wünschten sich, am Ende links und rechts einen Platz an der Seite Jesu zu haben. Mit genau so einer Szene endet das Markus-Evangelium: Rechts und links an der Seite Jesu befinden sich zwei Männer. Allerdings hängt Jesus hier am Kreuz.

Es gibt also tatsächlich einen Platz rechts und links an der Seite Jesu. Aber der Weg Jesu endet hier nicht in der Mitte der Frohen und Frommen. Hier gehört Jesus in die Mitte derjenigen, die aus der Mitte der Gesellschaft herausgefallen sind.

Die Botschaft ist dieselbe: Schau hin.

Wenn du auf das Jenseits aus bist, öffne die Augen für das Diesseits.
Wenn du Jesus nahe sein willst, hast du mit Menschen zu tun. Du selbst gehörst dazu.
Wenn du dich nach dem ewigen Leben sehnst – sei darauf gefasst, dass Jesus dich mit dem irdischen Leben vertraut macht.
Wenn du die Heiligkeit Gottes erblicken möchtest, sei darauf gefasst, dass dir dein Menschsein begegnet.

– Mit diesem Grundthema vor Augen möchte ich noch kurz auf das Zwischenspiel eingehen, wo Jesus über das Herrschen und Dienen spricht. Die Szene ist zu zentral, als dass wir sie hier übergehen könnten.

Nachdem die zwei Jünger sich an Jesus gewandt hatten mit ihrer Bitte um einen Platz an Jesu Seite, kommt es zu einer sehr belasteten Situation: Die anderen zehn Jünger regen sich fürchterlich auf über die beiden. Sie ärgern sich. Mir ist nicht ganz klar, worüber, aber Jesu Antwort darauf gibt uns einen Hinweis: Offenbar ging es um Machtfragen.

Macht hat oft mit Raum und Aufmerksamkeit zu tun (bzw. Ohnmacht mit mangelndem Raum und mangelnder Aufmerksamkeit). Vielleicht waren die anderen zehn neidisch auf die beiden: „Oh, Jesus verbringt mehr Zeit mit ihnen als mit uns! Mit ihnen redet er mehr als mit uns! Die beiden bekommen mehr Aufmerksamkeit von ihm!“

Die ganze Szene ist ähnlich gestrickt wie die davor: Auch der Blinde stört erst mal. Er will Jesu Aufmerksamkeit, seine Zeit, seine Zuwendung. Das nervt. Ich kenne das aus Gemeinden: Manchmal nervt es, wenn jemand so bedürftig ist, dass er alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Alle wollen also Jesu Aufmerksamkeit und Zuwendung: Die beiden Jünger mit ihrer Bitte nach einem Platz an seiner Seite. Die anderen zehn, die daraufhin neidisch werden. Der Blinde, der so bedürftig ist. Und am Ende sind es die beiden Verbrecher, in deren Mitte Jesus sich befindet.

Was verbindet sie alle? Dass Jesus ihnen dient und sich für sie hingibt. Sein Leben und Sterben ist ihnen gewidmet. Nicht weil ihre Schuld einen Opfertod erzwingt. Sondern weil das herrschende System Jesus nicht davon abhalten kann, sich treu zu bleiben und so mit anderen umzugehen, wie er es richtig findet.

Jesus schaut hin, er schaut nicht weg. Damals und heute sieht er, was wir brauchen. Er sieht, was wir können. Er sieht die Probleme, ohne sich davon lähmen zu lassen. Konsequent und kompromisslos dient er nicht dem System und den Herrschenden, sondern sieht immer die Menschen und das Menschliche. Die Auferstehung macht ihn end-gültig zum Überwinder all dessen, was uns vom Leben abhalten will.

„Was willst du, das ich dir tue?“, fragt Jesus auch heute.

Wenn ich mich darauf einlasse, wird sich mein Denken und Handeln verändern. Ich kann hinsehen, in all mein eigenes Menschsein und das derjenigen um mich herum. „Ich möchte sehen lernen.“, sagt der Blinde. „Öffne mir die Augen, Jesus – für deine Schönheit, für die Welt um mich herum; lass mich Teil davon sein!“

Es gibt Menschen, deren Handeln widerspiegelt, dass Jesus ihnen dient. Deren Bezug zu sich selbst davon getragen ist, dass Jesus ihnen dient. Deren Umgang mit sich selbst von dem getragen ist, was ihnen gut tut und was sie möchten.

„Jesus meint es gut mit mir, Jesus dient mir“ – das stellt meinen Umgang mit mir auf heilsame und heiligende Füße. Ich lerne sehen, ich lerne wahrnehmen. Die Aussicht aufs Jenseits verändert mein Diesseits – und das derjenigen um mich herum. Auch mein Umgang mit meinen Mitmenschen wird mehr und mehr widerspiegeln, dass Jesus ihnen dient.

Dieses Dienen ist nicht das Gegenteil von Herrschen. Es ist das Gegenteil von Nicht-Sehen. Dieses Dienen bedeutet: Hinsehen. Wahrnehmen. Da sein. Leben. Heute und in Ewigkeit.

„Was willst du, das ich dir tue?“, fragt Jesus dich gerade jetzt.

 

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