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Nein, eben nicht „Selbst schuld“! Wir können nicht zurück zum „Weiter so“. [Nach den Anschlägen in Paris und zum Transgender-Tag 2015.]

Predigt MCC Köln 22. Nov. 2015
Ines-Paul Baumann

Lukas 13,1-9: Das Gleichnis vom Feigenbaum

Angesichts von Leid, Zerstörung und Gewalt stellen sich Fragen. Sollen wir einknicken und uns anpassen? Die Hoffnung aufgeben? Was lohnt sich noch? Ist Mitmachen das einzig Sichere?

Am Freitag war der Internationale Gedenktag für Transgender. In den letzten sieben Jahren wurden über 1.700 Morde an Transmenschen erfasst. Alle 36 Stunden geht ein weiterer Mord an einer Transperson in die Statistik ein. 85% der Morde weltweit werden in Nord- und Südamerika verübt (Stand: November 2015).
(Weitere Infos: http://tgeu.org/tdor/ und http://tgeu.org/tmm-idahot-update-2015/)

Zum heutigen Ewigkeitssonntag und weltweiten „Transgender Day Of Rememberance“ am 20. November legen wir eine Schweigeminute ein und gedenken der Verstorbenen.

Eine Transfrau berichtet folgendes aus einem Flüchtlingsheim in Deutschland: „Wenn ich auf die Damentoilette gehen wollte, wurde ich angespuckt. Wenn ich auf die Herrentoilette gehen wollte, wurde ich geschlagen. Als ich mich an den Sozialarbeiter wandte, sagte der nur: ‚Warum müssen Sie auch so rumlaufen? Benehmen Sie sich wie ein normaler Mann, dann wird Ihnen auch nichts passieren.’“ – Soll sie aufgeben und sich den Erwartungen der Gewalttäter anpassen?

Nach den Anschlägen in Paris ist das Bedürfnis nach Sicherheit groß. Als Maßnahmen kursieren: auf Reisen verzichten, Grenzen zumachen, Datenschutz aufheben, Satire unterlassen, und überhaupt, die Homo-Ehe provoziert natürlich auch. – Sollen wir Grundwerte aufgeben und uns den Erwartungen der Gewalttäter unterwerfen?

Auch unsere Gemeinde ist manchmal nicht gerade ein Ort von „verwirklichten“ Verheißungen. Und das, wo wir doch so viel von Heil und Heilung und Heiligung erzählen! Sollten wir unsere Hoffnungen aufgeben und unsere Erwartungen „der Realität“ anpassen?

Der Text im Lukasevangelium ist ebenfalls entstanden angesichts von Gewalt, Leid und Zerstörung. Der jüdische Krieg steckt den Menschen noch in den Knochen; das Römische Reich hat Jerusalem und den Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Was hat das zu bedeuten? Wie sollen sie damit umgehen? Sollen sie ihre Hoffnungen aufgeben, was die Verheißungen Gottes betrifft?

(Jesus „spricht“ in dem Text zwar lange Zeit VOR dem Jüdischen Krieg; aber ENTSTANDEN und GEHÖRT wird der Text kurz NACH diesem Krieg. Leid, Gewalt und Zerstörung verbinden sowohl Verfasser als auch Hörer_innen automatisch mit dem, was SIE gerade erlebt haben.)

Zwei Dinge stellt der Text klar:

  1. Die Schuld für das Leid darf nicht bei den Opfern gesucht werden!„Meint ihr, diese Leute seien größere Sünder gewesen als alle übrigen Galiläer, weil so etwas Schreckliches mit ihnen geschehen ist? Nein“ (V. 2+3; genau so in 4+5) Anders gesagt: „Hätte das vermeiden werden können, wenn sie sich anders verhalten hätten? Sind sie nicht selber schuld?“ Jesu Antwort ist rigoros und klar: „Nein“! Sie sind NICHT „selber schuld“!
  2. Ein „Weiter so!“ kann es nicht geben. „Zurück zur Normalität“ führt weiter zu Leid, Gewalt und Zerstörung.„Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle genauso umkommen“, macht Jesus gleich zwei Mal deutlich (V 3 u. 5). Wenn ihr so weitermacht wie bisher, wird das wieder zu Gewalt führen, zu einer „kollektiven Katastrophe (…) wird jedoch nicht als göttliche Strafe gedacht, sondern als ‚innerweltliche‘ politische Folge – sie hat mit der Bedrohung durch die römische Übermacht zu tun.“
    (Ruth Poser in „Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen“, Gütersloh 2014. Ihren Anregungen sind die wesentlichen Aspekte dieser Predigt zu verdanken!)

Was kann bzw. muss also stattdessen passieren?

Ich habe oft gehört, dass in dem Gleichnis der Feigenbaum selbst das Problem sei. Weil er keine Früchte trägt, soll er abgehauen werden. Damit er Früchte trägt, muss er umkehren. „Gib ihm noch eine Chance“ bedeutet also übertragen: „Vielleicht kehrt der Sünder ja noch um.“
Gott ist in dieser Deutung der Weinbergsbesitzer. Die Zerstörung des Feigenbaums ist die „gerechte“ Strafe Gottes für den Sünder.

Diese Deutung steht aber genau in Widerspruch zu dem, was Jesus direkt davor gesagt hat: „Ist ihnen das geschehen, weil sie Sünder waren? Nein“!

Was hat es mit dem Feigenbaum, von dem Jesus spricht, also stattdessen auf sich?

  • Nach der Zerstörung im Jüdischen Krieg waren auch die Weinberge und Feigenbäume kaputtgemacht und abgeholzt. Wenn überhaupt, haben die Leute damals ganz junge Feigenbäume vor Augen, die gerade erst neu angepflanzt worden sind.
  • Kultivierte Feigenbäume benötigen ca. 3-5 Jahre, bevor sie das erste Mal Frucht bringen.
  • Zum Wachstum benötigt der Baum zwei Dinge:
    – locker machen (hier: den Boden; ist aber vielleicht auch sonst manchmal ein ganz gutes Rezept…)
    – Mist (hier: Dünger; aber auch unser Mist kann vielleicht manchmal zu Wachstum anregen…)
  • Die Aussage, dass der Feigenbaum dem Boden des Weinbergs die Kraft entzieht, ist übrigens eine glatte Lüge. Sie wird hier so polemisch eingesetzt und soll so effektiv wirken wie z.B. Aussagen a là „Das Boot ist voll“.

Fazit: Ob der Feigenbaum Früchte bringt oder nicht, hängt maßgeblich davon ab, wie Menschen mit ihm umgehen! (UND von dem Prozess, der außerhalb unserer Macht steht. Wir können keine „Früchte machen“. Aber wir können Umstände und Bedingungen ändern!)

Die Umkehr in dem Gleichnis vollzieht nicht der Feigenbaum! Nicht der Feigenbaum ist das Problem! Umkehr in dem Gleichnis geschieht woanders:

  • Der Weinbergsbesitzer kehrt im wahrsten Sinne des Wortes um: Er geht weg. Damit lässt er – vorerst zumindest – ab davon, den Feigenbaum umzuhauen. Damit lässt er ab von der Logik der Zerstörung nach dem Motto „Der bringt nix, der muss weg.“ Zumindest der Weinbergsbesitzer selbst gewinnt damit Zeit; vielleicht nutzt er sie ja zum Nachdenken und Umdenken.
  • Auch der Weingärtner sorgt für eine Umkehr: Er legt den Vollzug der Zerstörung zurück in die Hände seines Chefs. „Hau DU ihn ab. Ich mache da nicht mit!“ Mit dieser Befehlsverweigerung widersetzt er sich seinerseits der Logik der Zerstörung.
    Dorothee Sölle soll mal gesagt haben, dass sie im Falle eines Atomkriegs lieber unter den Getöteten wäre als unter den Tötenden.

Angesichts all dieser Beobachtungen kommt Ruth Poser zu dem Ergebnis, dass mit dem Feigenbaum nicht der Sünder gemeint ist – sondern in dem Feigenbaum können wir Gottes Verheißung sehen!

Vielleicht sind von den Verheißungen Gottes aktuell keine Früchte zu sehen. Aber deswegen müssen wir die Verheißung nicht aufgeben. Damit würden wir uns nur wieder der Logik der Zerstörung anschließen (und das Entstehen der Früchte mit Sicherheit ausschließen). Stattdessen geht es darum, die Verheißungen Gottes sorgsam und engagiert zu hegen und zu pflegen.

Der Weingärtner verspricht, das ihm Mögliche zu tun, damit der Baum wachsen kann.

Das können wir auch!

Mal ablassen von der Logik „Der/die/das bringt es nicht und muss weg.“
Nicht mitmachen.
Anweisungen verweigern.
Hand anlegen an den Boden, nicht an den Baum.
Locker machen.
Mist nutzbar machen. (Auch in der Gemeinde: Wenn wir hier Mist mitbekommen, muss das nicht das Ende bedeuten :) )

Die Umkehr besteht darin, dass wir die Verheißungen Gottes pflegen, statt zerstörerische Gepflogenheiten zu pflegen.

 

„Only if our movement stands in solidarity with everyone, including mirants, people of colour and sex workers, can we begin to overcome the violence and transphobic hatred against our communities.“

(Nur wenn  unsere Bewegung sich solidarisiert mit allen, Migrant_innen, Farbige und Sexarbeiter_innen inbegriffen, können wir anfangen, Gewalt und transphobisch motivierten Hass gegen unsere Gemeinschaften zu überwinden.)

Transgender Europe

 

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