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„Erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!“ Eine Gegenrede.

Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

„Bessere Lieder müßten sie mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!“
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 350.

„Selig seid ihr, die ihr jetzt weint…“
Jesus

[Lesung: reicher Jüngling: Mk 10,17-22]

Was ist das für ein Gott, der Menschen betrübt? Die Begegnung mit Gott lässt den Jüngling betrübt zurück. Statt in der Begegnung mit Gott Glück, Erlösung, Zufriedenheit zu finden, statt dass es ihm nach der Begegnung mit Jesus besser geht, fühlt er sich sogar schlechter als davor, geht weg mit leeren Händen und betrübtem Herzen. Noch schlimmer: Alles, was ihm vorher Freude bereitet hat im Leben, was wertvoll war, ist nun auch nicht mehr geeignet, ihm Freude zu bereiten.

Ich glaube, dieser Jüngling ist mit seiner Betrübnis dennoch reicher als zuvor. Jesus hat ihm die Tür geöffnet, sich und sein Leben im Licht der Wahrheit zu sehen. Er weiß nun, wo er steht. Er weiß, wie er tickt, was ihm wichtig ist, worauf er sein Leben baut – und er weiß, wo er dabei auf Sand gebaut hat. Er weiß sogar, wie er vorankommen könnte; welchen Schritt er gehen könnte, um sein Leben ohne Selbstbetrug neu zu sortieren.

Solche Phasen im Leben sind nicht immer leicht. Meistens gehen wir nicht so freiwillig in sie hinein wie der Jüngling, der sich aus freien Stücken an Jesus wandte. Oft sind es erste Krisen, in denen wir anfangen, unser Leben unter einem neuen Blickwinkel anzusehen. Statt der Frage „War mein Tag heute schön und angenehm?“ rücken andere Fragen in den Vordergrund: Was ist wirklich wichtig in meinem Leben? Welchen Sinn hat mein Leben? Welche Bilanz kann ich ziehen aus dem, was ich bisher in meinem Leben gemacht habe?

Die Krisen, in denen wir anfangen, uns andere Fragen zu stellen, können viele Auslöser haben. Wir verlieren unseren Job, wir verlieren unsere körperliche oder seelische Gesundheit, wir verlieren Menschen, die uns nahestehen.

Ich weiß nicht, warum das so ist, aber irgendwie sind gerade das oft Zeiten, in denen wir uns neu öffnen für die Stimme Gottes in unserem Leben. Inmitten all der Verzweiflung und der Trauer sind wir plötzlich offen – nah an unseren Gefühlen, nah an unseren Grenzen, nah an unseren Fragen, nah an unserer Unsicherheit. In unserer Gesellschaft ist das leider genau das Gegenteil von unserem Alltag. Unsere Gefühle, unsere Grenzen, unsere Unsicherheit versuchen wir im Alltag eher auszublenden. Wir wahren die Fassung, wir zeigen unsere Gefühle eben NICHT, wir versuchen alles, um uns sicher und glücklich zu fühlen, wir funktionieren – und das ist auch OK so; für unseren Alltag sind die großen Fragen nicht immer tauglich. Nur verlernen wir dabei auch den Umgang mit dem, was in unseren Leben eben nicht so schön ist. Krisen dürfen dann nicht sein. Ich glaube aber, dass so genannte Krisen ganz wichtige Zeiten sein können.

In unserer Zeit gibt es leider zu viele Tränen, die heruntergeschluckt werden, weil es keinen Ort gibt, an dem sie gesehen werden dürfen oder gesehen werden können. Nicht zugelassene Trauer blockiert aber den Fluss des Lebens; Depressionen können entstehen, oder die Gefühle werden weggedrückt mit Tabletten Alkohol oder anderen Süchten. Dabei ist es wichtig, Verlusterfahrungen zu verarbeiten, sich ihnen zu stellen, um das Verlorenene auch tatsächlich irgendwann loslassen zu können und so auch den Weg freizumachen für Neues. Das kann dauern, das kann harte Arbeit sein, das braucht Raum und oft die Begleitung von anderen Menschen, ggf. auch eine professionelle therapeutische Begleitung.

Warum sollten wir uns unserer Tränen schämen? Jesus ist vom Tod seines Freundes Lazarus so betroffen und bewegt, dass er weint. Als Jesus nach Jerusalem geht und hinunter auf die Stadt blickt, die keinen Frieden finden wird, ist er von ihrem Schicksal so bewegt, dass er weint.

Weinen kann auch was Gutes sein. Weinen zeigt, dass uns etwas nahegeht, dass uns etwas bewegt, dass es uns anrührt. Aus dieser Betroffenheit können Taten entstehen! Ein Mensch, der nie betroffen ist von dem Leid in der Welt um ihn herum, wird nie anfangen, zu handeln. Während andere weggucken oder zynisch lachen, sind es oft die Weinenden, die hinsehen und eingreifen. Wenn Jesus über Menschen und Städte weint, können unsere Tränen bewirkt sein vom selben Geist des Mit-Leidens und des Beistands.

Die Bibel unterscheidet zwei verschiedenen Sorten von Traurigkeit: eine göttliche, echte, wichtige Traurigkeit, und eine falsche, weltliche Traurigkeit. Die Traurigkeit, die entsteht, weil wir Dingen ins Auge sehen, weil uns mit dem auseinandersetzen, was in der Welt schief läuft, die Fragen stellt, die zum Handeln anregt und die Wege für Neues eröffnet – diese Trauer ist wichtig, echt und kann auch für Gott neue Wege öffnen in unserem Leben. Das gilt nicht nur für das Zusammenleben mit den Menschen um uns herum, sondern auch für den Umgang mit uns selbst.
Wenn wir uns so unwichtig sind,
dass wir uns nicht ab und zu mal prüfen,
dass wir nicht ehrlich sind mit uns selbst,
dass es uns egal ist, wie wir den Tag rumkriegen,
dann wird es auch kaum Momente geben, an denen wir innehalten und bewegt sind von unserem eigenen Leben. Wenn wir uns aber manchmal einen tieferen Blick auf uns gönnen, ehrlich und respektvoll Bilanz ziehen, wie es in unserem Leben aussieht, was wir uns und anderen in unserem Leben so alles angetan haben, dann können wir auch hier eine heilsame Traurigkeit erleben. Vielleicht empfinden wir Reue über vertanes und nicht gelebtes Leben; vielleicht erschrecken wir sogar vor unseren eigenen Fehlern, Unfähigkeiten, Grenzen – viele Menschen empfinden in solchen Momenten ein ganz klares Gefühl von Schuld und von Trennung: Trennung von sich selbst, von anderen Menschen und von Gott … einen tiefen Graben. Viele bekommen in solchen Momenten das erste Mal ein Gefühl von Sünde. Auch hier kann das dazu bewegen, Dingen neu zu sortieren, neu in Angriff zu nehmen,. Wie gesegnet ist ein Mensch, der da durch muss, der da durch geht, der das durchmacht, der den Durchbruch schafft zu einem neuen Leben im Licht.

Aber die Bibel weiß auch: Nicht jede Traurigkeit ist eine gesunde oder heilende Traurigkeit. Manchmal kreist unsere Traurigkeit in einer Abwärtsspirale um unser eigenes Ego, badet im Selbstmitleid, ist in ihrer Selbstverachtung eigentlich zutiefst selbstverliebt, genießt die Aufmerksamkeit, die ihr Leiden bei anderen weckt. Solche Traurigkeit ist nicht die Folge eines aufmerksamen, respektvollen, offenen Umgangs mit sich selbst, sondern ist Folge von Selbstverurteilung und der Selbstabwertung. Diese Traurigkeit ist nicht göttlich, ist nicht gottgewirkt, und ist auch keine, bei der es hilft, ihr Raum zu geben. Hier können ganz andere Dinge nötig sein – ein guter Anfang wäre, damit aufzuhören, ANDERE abzuwerten und zu verurteilen. Oft spiegelt sich im Umgang mit uns selbst nur unsere Einstellung zu anderen. Hier ruft Gott zum Handeln auf!

Das ist der einzige Fall, wo ich Friedrich Nietzsche Recht geben würde, dass hier auch manche Christen nicht gerade im Einklang mit ihren Glaubensbekenntnissen handeln. Ansonsten hat die Forderung, dass Erlöste auch erlöst aussehen müssen, mit dem Glauben an Jesus Christus wenig gemein. Jesus, der sich bewegen lässt, und Jesus, der bewegt, kennt Traurigkeit und weiß, was für ein wichtiger Bestandteil eines wirklich erlösten Lebens sie sein kann.

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